Für eine Politik der Verträge

Internationale Politik als radikale Realpolitik

Kolja Möller

Pacta sunt servanda. Verträge sind einzuhalten. Auch Linksregierungen sind eingebunden in internationale Verträge und Institutionen, sei es die EU, die NATO oder die Vereinten Nationen. Doch schon im alltäglichen Leben trügt der Schein. Nicht erst seit Richard Wagners „Ring der Nibelungen“ wissen wir um die Prekarität von vertraglichen Vereinbarungen. Ein Großteil des Rechts- und Politiksystems ist damit beschäftigt, über die Einhaltung von Verträgen zu wachen, Vertragsverletzungen zu ahnden, Vertragspflichten zu ermitteln, Klauseln und Paragraphen zu deuten – denn nur zu oft besteht Unklarheit, was der genaue Inhalt eines Vertrages ist.

Der Völkerrechtler Hans Kelsen hat schon in den 1920er Jahren in seinem Essay „Vom Wert und Wesen der Demokratie“ herausgearbeitet, wie „die meisten sozialen Institutionen in ihrer Entwicklung eine vollkommen andere Bedeutung erhalten als ihnen ursprünglich zuerkannt wurde” (Hans Kelsen, Vom Wert und Wesen der Demokratie, Tübingen 1920, S. 17). Das gilt natürlich auch für die internationale Politik. Der Ruf nach „Pacta sunt servanda“, wonach es eine feststehende Schicht von Vertragsverpflichtungen geben würde, die einfach so zu akzeptieren sei, täuscht über die umkämpfte Realität der internationalen Politik hinweg, wo Institutionen immer wieder neu gegründet, aufgelöst oder vollkommen zweckentfremdet werden.

„Pacta sunt servanda“ ist aber nicht nur der Schlachtruf der staatstragenden Weltpolitiker_innen, es ist ebenso das Lieblingsmotto der weltpolitischen Kathedersozialist_innen. Sie argumentieren spiegelbildlich: Da in internationalen Verträgen imperiale Politikziele verbindlich gemacht würden – wie etwa Neoliberalismus und Krieg – , muss man sich von ihnen fernhalten. „Pacta sunt servanda“ funktioniert hier einfach umgekehrt. Demnach können linke Regierungen eigentlich keine Vertragspartner_innen sein, weil sie damit an Krieg und Neoliberalismus gebunden sind. Das unproduktive Ergebnis dieses schlechten Vertragsfetischismus auf beiden Seiten: Der Ruf nach Bekenntnissen zur internationalen Verantwortung hier, der Ruf nach Renationalisierung und einem Ausstieg aus der Weltpolitik, wie sie ist, dort.

Beide Positionen haben teils einen wahren Kern: Die bestehenden Verträge haben auch zivilisatorische Fortschritte erzielt, die man nicht mit jedem Regierungswechsel in einem Nationalstaat infragestellen sollte. Auch ist völlig zutreffend, dass die Dominanz von kapitalistischen und militärischen Logiken systematisch feststeht. Wer das nicht sieht, dem ist nicht zu helfen. Doch beide Seiten der Vertragsfetischist_innen übersehen die entscheidende politische Option: Die Politik des Vertrages, also der Kampf um die verbindenden Normen, Institutionen und Begriffe im Sinne einer radikalen Realpolitik.

Der New Deal war auch ein Neubeginn für die Kunst. Dieses Bild entstand im Rahmen des Public Works of Art Project

Roosevelt, Tsipras und die Weltgesellschaft

Dafür gibt es historisch eine ganze Reihe an Beispielen. Der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt etwa hat sich in den 1930er Jahren in den USA weder von der amerikanischen Verfassungstradition noch von der bis dahin marktliberalen Spruchpraxis des amerikanischen Gerichtshofs, dem Supreme Court, davon abhalten lassen seine progressive New-Deal-Politik einzuführen. Das Freiheitsversprechen der Verfassung übersetzte er in seiner „Four Freedoms Speech“ in die Notwendigkeit auch soziale Rechte einzuführen. Und den „commerce clause“, also die Ermöglichung gemeinsamer Marktstrukturen in den USA, interpretierte Roosevelt geradezu als Aufforderung in den gemeinsamen Markt mit sozialen und ökonomischen Regulierungen einzugreifen.

Der neu gewählte griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras hat einen ähnlichen Weg in der EU eingeschlagen. In der ersten Rede vor der Parlamentsgruppe seiner Fraktion fügte sich Tsipras nicht der Mär, wonach Griechenland seine scheinbar eindeutigen Verpflichtungen gegenüber der Troika nachzukommen habe. Er berief sich auf das Demokratiegebot des Unionsrechts: Da sich die EU aus Demokratien zusammensetze, müsse es möglich sein, dass eine Regierung eine andere, nicht-neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik durchführt. Das sei die erste, verfassungsrechtlich bedeutsame Bindung jeder Regierung und nicht die Absprachen der Vorgängerregierung mit der Troika. Tsipras erklärte: „Das Europäische Vertragswerk ist für uns verbindlich – die Politik und die Zwangsvorstellungen konservativer Regierungen der Eurozone sind es nicht.“

Es gibt natürlich auch nicht sonderlich progressive Gegenbeispiele: Das Sozialstaatsgebot im Grundgesetz etwa hat nicht die Agenda 2010 verhindert. Und das Verbot von Auslandseinsätzen nicht den Kosovo-Krieg. Der Lissabonner-Reformvertrag in der EU aus dem Jahr 2007 konnte nicht verhindern, dass die Bundesregierung beim Zustandekommen von Fiskalvertrag und Europäischem Stabilitätsmechanismus die bestehenden Verfahrensweisen des Europarechts grob missachtet hat und eine Politik in Südeuropa durchsetzt, die den menschenrechtlichen Verpflichtungen aus der Europäischen Grundrechtecharta, der europäische Sozialcharta und den internationalen Menschenrechtspakten zu wider läuft. Auch das sind vertragliche Verpflichtungen. Pacta sunt servanda?

Das Dilemma linker Regierungen

Der finnische Völkerrechtler Martti Koskenniemi hat genau auf diesen Umstand hingewiesen, wenn er vorschlägt, den Blick auf die Politik des internationalen Rechts zu richten. Das internationale Recht ist nicht wertlos. Es erzielt seine Bindungswirkungen aber vor allem dadurch, dass es den beteiligten Akteur_innen einen Raum zur Verfügung stellen, um ihre politischen Präferenzen einzuspeisen und zu artikulieren. Das Recht wirkt als „Gentle Civilizer“ (vgl. Martti Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations, The Rise and Fall of International Law 1870-1960, Cambridge 2004). Dass der neoliberale Konsens in der EU und weltwirtschaftlichen Institutionen und der militaristische in der Sicherheitspolitik diesen Raum zunehmend schließen, schmälert diese Funktion freilich massiv. Und es bleibt vollkommen offen, inwieweit linke Regierungen unter diesen Bedingungen überhaupt Ansätze einer anderen Politik durchsetzen sollen. Dies gilt umso mehr in einer globalisierten Welt, in der nationale Alleingänge schon aufgrund wirtschaftlicher Verflechtungen in den meisten Ländern nicht in Frage kommen. Die Spannung zwischen einem sozial-ökologischen und antimilitaristischen Politikwechsel und den internationalen Vertrags- und Verhandlungssystemen jedenfalls wird zur Kernherausforderung. Ein Politikwechsel ist nicht im nationalen Alleingang zu machen – aber ohne grundsätzliche Veränderungen in der internationalen Politik, wenigstens auf europäischer Ebene, auch nicht. Wie also in dieser Situation navigieren?

Politik der Verträge

Statt also über Bekenntnisse zu orakeln, wäre eine inhaltlich orientierte Politik der Verträge wesentlich attraktiver. Ihr Hauptziel würde darin bestehen die neoliberale Dominanz in weltwirtschaftlichen Institutionen und der EU sowie die militärische Konfliktlogik weltweit zurückzudrängen. Es würde dann darum gehen zu ermitteln, auf welchem Wege sich diese Ziele am besten erreichen lassen: Durch eine Politisierung der jeweiligen Vertragssysteme und Institutionen, ihre radikale Neuinterpretation oder auch durch „Forum-Shopping“, also durch die Bezugnahme auf andere, konkurrierende Institutionen.

Im Hinblick auf linke Regierungspolitik in der BRD könnten drei Projekte dafür orientierend sein:

1. Eine antimilitaristische Wende in der Westbindung: Im Verteidigungsbündnis der NATO schlägt eine linke Regierung die umfassende Umorientierung des Bündnis vor und beruft sich dabei auf Art. 1 des Nordatlantikvertrages: „Die Parteien verpflichten sich, in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen, jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu regeln, daß der internationale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden, und sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar sind.“ Neben einer Rückkehr zu den Verträgen, schlägt sie die Konstruktion einer neuen Sicherheitsarchitektur unter Einbeziehung Russlands vor. An möglichen und aus Sicht der Bundesregierung vertragswidrigen Militäreinsätzen von NATO-Mitgliedern oder der NATO selbst beteiligt sie sich nicht. Sie verhindert im Zweifel solche Beschlüsse als Veto-Macht.

2. Eine Rückkehr zu demokratischen und sozialen Rechten in der EU: Im Rahmen der EU setzt sich eine linke Regierung dafür ein, Fiskalvertrag und den Europäischen Stabilitätsmechanismus als ausbrechende Rechtsakte zu betrachten, und überführt sie in EU-rechtskonforme Verfahren. Sie betrachtet alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und die EU-Organe selbst an die sozialen Grund- und Menschenrechte gebunden an, wie sie in den Verfassungen der Mitgliedsstaaten, der Europäischen Grundrechtecharta und der Europäischen Sozialcharta festgehalten sind. Dies beinhaltet dann in der Folge, dass die alles überragende Ausrichtung an Sparpolitik mit ihren desaströsen Folgen nicht mehr zur Anwendung kommt.

3. Transnationale Gegenregime: Eine linke Regierung macht im Rahmen ihrer Politik der Verträge deutlich, dass sie Teil unterschiedlicher transnationaler Politikregime ist, die teils kollidierende Zielrichtungen verfolgen. Die BRD ist beispielsweise sowohl Mitglied der auf Freihandel ausgerichteten WTO als auch des internationalen Menschenrechtsschutzes um den UN-Zivil- und Sozialpakt – eine progressive Bundesregierung wird sich im Vorfahrtsregeln für solche Regime einsetzen, die den neoliberalen und promilitärischen Konsens zurückdrängen.

Man muss keine ausgesprochene Pessimist_in sein, um festzustellen, dass eine solche Politik der Verträge auf Widerstände stoßen wird und geringe Durchsetzungschancen hat. Dafür braucht man Verbündete in anderen Ländern und nicht zuletzt auch Druck aus der zunehmend vernetzten Weltöffentlichkeit und sozialen Bewegungen. Die Perspektive wäre auch keine einfache Beteiligungslogik, die sich die Lösung oder Prävention aller globalen Krisen zumutet (vgl. etwa den Beitrag von Jürgen Trittin in dieser Ausgabe). In allen drei Feldern wird der Weg wohl nur über transnationale Blockadeallianzen führen, die tiefgreifende Konflikte innerhalb und im Umfeld der internationalen Institutionen hervorrufen. Man könnte die Herausforderung auch so beschreiben: Während in den Kämpfen um die Demokratie im Nationalstaat der Vorrang der konstituierenden Macht des Volkes ein zentrales Anliegen progressiver Politik war, so geht es in der Weltgesellschaft erst einmal um die Bündelung einer destituierenden Macht, also von wirksamen Gegenmachtstrukturen. Erst sie werden Schritte in Richtung einer transnationalen Demokratie einleiten können. Das heißt auch: Es wird nicht ordentlicher und einheitlicher (das ist ja in der Regel die Leidenschaft von Berufspolitiker_innen); es muss unübersichtlicher und konfliktiver werden, wenn überhaupt noch Alternativen in der Politik abbildbar sein sollen.

Die Politik der Verträge könnte einen Ausweg aus dem allgegenwärtigen Bekenntnisaustausch weisen und wenigstens wieder Anschluss an die zentrale Frage unserer Zeit finden: Wer den neoliberalen und militärischen Konsens aufbrechen will, muss den Dualismus von nationaler Politik und internationaler Staatengemeinschaft unterlaufen. Wenn es nur an einer Stelle gelingen würde, eine Allianz zwischen politischen Parteien, linken Regierungen und sozialen Bewegungen zu schmieden und einen Erfolg zu erzielen: Es wäre ein „Geschichtszeichen sein, das sich nicht mehr vergisst“ (Kant).

Dr. Kolja Möller ist Mitglieder der prager frühling Redaktion. Er forscht am Exzellenzcluster „Normative Ordnungen“ der Universität Frankfurt zu Fragen des inter- und transnationalen Verfassungswandels. Neueste Veröffentlichung: „Formwandel der Verfassung. Die postdemokratische Verfasstheit des Transnationalen“ (transcript, Bielefeld 2015).