31.07.2015

Die Projektionslinke

... oder wieso die deutsche Linke an Barney Stinson erinnert.

Von Alban Werner

Wer erinnert sich noch an Barney Stinson? Genau, das war der von Neil Patrick Harris gespielte Frauenheld in der Sitcom „How I met your Mother“. Barneys Lebensinhalt bestand darin, in höchstmöglicher Frequenz möglichst viele Frauen zu verführen, und dabei war er ziemlich erfolgreich. Wie im Laufe der Serie deutlich wird, ist er damit aber nur begrenzt glücklich. Hinter seinen manchmal zum Schreien komischen Anmachsprüchen und oftmals geschönten Eroberungsgeschichten versteckt sich eine Leere, die seiner lange fehlenden Vaterfigur sowie hartnäckiger Beziehungsunfähigkeit geschuldet ist. Zu den weniger beachteten Talenten Barneys gehörten deswegen immer die Fähigkeit zur totalen Verdrängung sowie diejenige, den ehemaligen Liebschaften aus dem Weg zu gehen, um ein peinliches Wiedersehen zu vermeiden.

Viele in der deutschen Linken erinnern mich an Barney Stinson. Sie wechseln auffällig oft die Projektionsfläche für ihre meist ziemlich unrealistischen Erwartungen an das, was linke Politik unter den heutigen Bedingungen erreichen kann. Erinnert sich noch jemand an die „Neue Antikapitalistische Partei“ in Frankreich, an Hugo Chávez, an den „Arabischen Frühling“, an „Occupy Wall Street“, an die Blütezeit der Stuttgart 21-Proteste oder an die Zeit, als SYRIZA stellvertretend für alle Hoffnungen der kapitalismuskritischen Linken in Deutschland herhalten musste? Werden diese Erwartungen auf den antikapitalistischen Befreiungsschlag dann – zumeist wenig überraschend – enttäuscht, dann zieht die Karawane der linken Projektionen einfach weiter zu ihrem nächsten Objekt der Begierde. Werden die Linken an ihre ehemaligen Projektionsflächen und was daraus geworden ist erinnert, kommt schnell unbehagliches Schweigen auf. In seiner Begeisterung für die neuen HeldInnen am Horizont wie z.B. PODEMOS möchte man nicht durch unangenehmen Nachgeschmack gestört werden. Bislang gibt es nur eine Konstellation, die allen Konjunkturen, Rückschlägen und Enttäuschungen widerstanden hat und immer wieder als Projektionsfläche herangezogen wird: Die Rede ist natürlich vom Nahost-Konflikt. Hier gibt es (allerdings nicht nur in Deutschland) eine so radikale Über-Identifikation entweder mit Israel oder den PalästinenserInnen, dass Peter Ullrich[1] treffend von „geborgten Identitäten“ spricht, die sich immer wieder gegenseitig hochschaukeln. Die Auseinandersetzungen der deutschen Linken auf diesem Gebiet gehören zu den heftigsten überhaupt, obwohl ihr Verhalten für den eigentlichen Konflikt vor Ort fast völlig folgenlos ist. Andere Konflikte und soziale Notlagen etwa in Afrika, Indien oder Ostasien kandidieren meistens ohne Erfolg für um Aufmerksamkeit von vielen Linken, weil sie weder passende Feindbilder, noch hoffnungsvolle Identifikationsfiguren anbieten können für diejenigen, die durch die deutsche Brille schauen.

Das Projektionsverhalten von so vielen deutschen Linken ärgert mich aus mindestens zwei Gründen: Es ist erstens scheinheilig-schizophren und zweitens lenkt es die Aufmerksamkeit weg von den eigenen Aufgaben, Erfolgen und Misserfolgen. Die Projektionslinke ist schizophren, weil sie nie verlegen ist, die herrschenden Verhältnisse und Machtelite aufs Schärfste zu kritisieren – das hat sie mit dem Großteil der Linken übrigens gemein. Warum sonst benutzt die Linke so selbstverständlich Begriffe wie den der „Postdemokratie“, wenn nicht, um zu sagen, dass das ganze System verkommen ist, dass es gar keine Spielräume und keine BündnispartnerInnen da draußen gibt? Warum pflegt die Linke sonst eine Sprache von notwendigen „Brüchen“, eben mit dem System, mit der regierenden Elite usw.? Ich will keinen Zweifel daran lassen, dass ich diese Kritik weitestgehend teile – das gilt sowohl für die Bauweise der EU und der Europäischen Währungsunion, als auch für das m.E. hochgradig undemokratisch verzerrende und Oligarchien begünstigende politische System der USA. Aber: Wenn die Zustände so schlimm sind, wie von der Linken behauptet, wie kann es dann zugleich sein, dass von ihren jeweils neuesten HeldInnen (Occupy, SYRIZA, PODEMOS usw.) sogleich erwartet wird, mit allem endgültig aufzuräumen, und zwar am besten gleich morgen? Ist es dann nicht, konsequent zuende gedacht, eine unmögliche Herkulesaufgabe, die man von der jeweils neuesten Heldin erwartet? Hier handelt die Projektionslinke absolut scheinheilig – denn will sie ihre Erwartungen für realistisch verkaufen, statt deren deutliche Überzogenheit zu akzeptieren, müsste sie im Grunde ihre Kritik abmildern. Doch wenn sie nicht mehr auf die Postdemokratie, auf „das System“ schimpfen darf, dann entfallen auch schnell die Gründe nicht nur für die eigene Empörung, sondern oftmals auch für den Glauben an die eigene politisch-moralische Überlegenheit. Führen wir zur Prüfung als Gedankenspiel konsequent zuende, was die Erwartungshaltung der Projektionslinken eigentlich erfordert: Die einzige Möglichkeit, wie einerseits die ziemlich absolute Kritik der Linken an den Zuständen, andererseits aber auch die hohen Erwartungen an als Projektionsfläche dienende Bewegungen und Parteien zutreffen könnten, wäre doch die, dass SYRIZA, PODEMOS & Co. entweder eine tatsächliche Revolution durchsetzten oder, dass sie durch eine kaum vorstellbare strategische Raffinesse es schafften, alle vorher benannten Widrigkeiten des Systems, alle verkommenen bisherigen politischen und wirtschaftlichen Eliten, alle halblinken oder „systemkonformen“ Linken zu überlisten und reformweise ihre Ziele durchzusetzen. Man braucht nicht lange darüber nachzudenken, um an der Quelle dieser beiden genannten Varianten eine beachtliche Naivität und/ oder eine katastrophal schlechte Analyse von gesellschaftlichen Machtverhältnissen (eigentlich von Gesellschaft schlechthin) zu vermuten.

Zweitens lenkt das Denken und Handeln entlang von Projektionsflächen Linke hierzulande davon ab, ihre Aufmerksamkeit und Energie auf politische Vorhaben zu lenken, die sie tatsächlich beeinflussen können und beeinflussen sollten. Es gibt z.B. in etlichen Kreisverbänden der LINKEN Genossinnen und Genossen, die haargenau wissen, welche Strömung bei SYRIZA welches Konzept vertritt im Hinblick auf ein Grexit-Szenario, die alle Texte aus dem linken Blätterwald zu PODEMOS gelesen und zu jedem internationalen Konflikt eine Meinung haben, die aber keine Auskunft darüber geben können, wer in ihrem Bezirk die zuständige ver.di-Gewerkschaftssekretärin für Postdienste, Speditionen und Logistik oder für die Gemeinden ist oder wie sie sich die „Schuldenbremse“ auf ihr Bundesland auswirkt. Solidarität gibt es also für AktivistInnen, die weit weg in anderen Ländern sind und wahrscheinlich wenig haben von symbolischer Politik hierzulande, aber deutlich weniger für die Auseinandersetzungen vor der eigenen Haustür. Ganz zu schweigen davon, dass die deutsche Projektionslinke bei ihren Solidaritätsadressen gutgemeinte Ratschläge gleich mitliefert, wie die Übernahme der Regierungsmacht oder die Krisenbewältigung oder die Verhandlungen mit der Troika denn richtigerweise zu führen seien. Ist es nicht auffällig, dass man sich kaum retten kann vor Beiträgen in linken Zeitungen und Zeitschriften, Blogs, Büchern und Broschüren über SYRIZA, PODEMOS, Occupy, aber dass nicht ein Bruchteil dieser vielen Tinte verwendet wurde für Texte über die erste rot-rot-grüne Koalition auf Landesebene in Thüringen? Liegt es nur daran, dass Thüringen eben „Provinz“ ist, wie der erste linke Ministerpräsident Bodo Ramelow selber gerne zugesteht? Liegt es daran, dass Ramelow als im Grunde handelsüblicher ehemaliger (noch dazu bekennend gläubiger) Gewerkschaftssekretär nicht so „sexy“ daherkommt wie Alexis Tsipras, Yanis Varoufakis, Pablo Iglesias Turrión oder Olivier Besancenot?

Wahrscheinlich liegt es zumindest teilweise daran, dass der Blick auf Thüringen doch deutlich zu einer Nüchternheit anhält, mit der die Projektionslinke so wenig anfangen kann. Thüringen gemahnt, dass erstens die Spielräume tatsächlich nicht sperrangelweit sind, dass zweitens aber trotzdem die WählerInnen der LINKEN erwarten, dass die Partei gestalten soll und dass drittens sie sich dazu die Hände schmutzig machen muss, sprich sie nicht darum herumkommt, sich mit nicht stramm antikapitalistischen Linken und (Gott behüte!) selbst mit nicht astrein antineoliberalen Leuten von SPD und Bündnisgrünen sich an einen Tisch zu setzen. Man muss ja gar nicht zu dem Schluss kommen, dass die Regierungsbeteiligung in Thüringen die seligmachende Lösung für die deutsche Linke ist. Aber Thüringen steht zumindest ein stückweit stellvertretend für die Probleme, die woanders auf Landesebene anstehen und sogar für die Bundesebene. Wer die Vorgehensweise der LINKEN dort falsch findet, sollte zumindest mittelfristig eine bessere Strategie anbieten und diese auch vor den WählerInnen der Partei verteidigen können. Jedenfalls haben auch antineoliberale und antikapitalistische Linke in den alten Bundesländern im Positiven wie Negativen mehr von Thüringen und auch von Rot-Rot in Brandenburg zu lernen als von Linken in Ägypten, Spanien, den Occupy-Zeltlagern im Zuccotti-Park oder Linken in Griechenland, die sie so gerne gönnerisch mit ihren Ratschlägen beglücken. Wie anmaßend müssen diese gutgemeinten Ratschläge den Betroffenen erscheinen, denn sie kommen schließlich von einer deutschen Linken, die es noch nicht einmal vermocht hat, trotz fehlender eigener Mehrheit von Angela Merkel im Bundestag eine Laufzeitverlängerung dieser so katastrophalen Kanzlerin zu verhindern. Sollte die deutsche Linke mit Ratschlägen nicht deutlich zurückhaltender sein, denn findet sie nicht erheblich günstigere Bedingungen vor als die meisten AkteurInnen, die sie häufiger wechselnd anhimmelt? Zur Erinnerung: In Deutschland gibt es kein Mehrheitswahlrecht (wie in Großbritannien), keine Übermacht liberal-konservativer Kräfte (wie in der Republik Irland oder Polen), keine bedrohlich erfolgreiche rechtspopulistische Partei (wie in Frankreich), keine tiefe Spaltung nach Bevölkerungsgruppen (wie in Belgien), keine korrupte, politisierte Medienlandschaft (wie in Italien), keine gewalttätige Repression plus Rechtsstaatsdefizit (wie in der Türkei) und eine überregional relevante Partei links von Sozialdemokratie und Grünen muss nicht erst aufgebaut werden (wie in Österreich oder vielen Ländern Osteuropas).

Die Solidarität von vielen deutschen Linken ist bestenfalls halbierte Solidarität, denn sie folgt mehr dem Bedürfnis der eigenen Projektion als den tatsächlichen Bedürfnissen der Leute, die vor Ort in Griechenland, Irland, Spanien, den USA oder anderswo z.T. existenzielle politische Kämpfe austragen. Ich erinnere mich, dass mir vor Jahren ein Genosse davon erzählte, wie er die irische Linke bei der erfolgreichen Nein-Kampagne zum Referendum über den Lissabon-Vertrag der EU unterstützt hatte. Er kündigte an, auch die Nein-Kampagne beim zweiten Referendum unterstützen zu wollen, selbst wenn diese leider absehbar scheitern werde. „Es kann ja nicht sein, dass es immer nur die Gewinner-Solidarität gibt und nie die Verlierer-Solidarität“, war seine Überlegung. Tatsächlich war es das einzige Mal in 17 Jahren politischem Aktivismus, dass ich diesen doch recht einleuchtenden Gedanken von einem Linken gehört habe. Da ist doch etwas faul im Staate Dänemark.

Übrigens sind sich viele ZuschauerInnen darin einig, dass „How I met your mother“ sein anfangs gutes Niveau nicht halten konnte. Die Serie war spätestens im letzten Drittel ziemlich enttäuschend, u.a. weil die Hauptfiguren zu klischeehaften Abziehbildern ihrer selbst geworden waren, so auch Barney Stinson. Es wäre traurig, wenn der LINKEN Ähnliches passierte. Vielleicht entgeht sie dem, wenn sie weniger projiziert und sich selbst stärker konfrontiert, und zwar mit den Widrigkeiten von Politik unter den realen Verhältnissen. Unterm Strich ist Projektion unpolitisch. Wer von Abd al-Fattah as-Sisi nicht reden will, sollte auch beim nächsten Volksaufstand im arabischen Raum nicht so schnell ins Schwärmen kommen, wer ungern über die Probleme von Nicolás Maduro Moros in Venezuela spricht, sollte sich beim nächsten Wahlsieg von Linken in Lateinamerika mit überschwänglichen Statements zurückhalten, wer nicht zur Kenntnis nehmen will, dass die Tea Party eindeutig die viel erfolgreichere von beiden Bewegungen war, sollte nicht Occupy abfeiern, und wer von der Schwäche der Linken in Deutschland nicht reden will, sollte von SYRIZA schweigen.

Links:

  1. http://protestinstitut.eu/team/peter-ullrich/