Xenophobie Business

Wer profitiert vom Grenzregime?

Claire Rodier

Die großen internationalen Umwälzungen, die den Unabhängigkeitsbewegungen und schließlich dem Zusammenbruch des sowjetischen Blocks folgten, haben Menschen überall auf der Welt zur Auswanderung getrieben. Anstatt diese Wanderungsbewegungen als logische Konsequenz eines Jahrhunderts der Unordnung und Herrschaft zu verstehen und zu versuchen, Ad-hoc-Antworten auf diese neuen Gegebenheiten zu finden – zum Beispiel auf Basis einer gerechten Verteilung der weltweiten Ressourcen – bemühten sich die Regierenden mit dem Bau von Schranken, um sich vor diesen „Eindringlingen“ zu schützen. In Wirklichkeit sind diese Schranken, ob sie legaler (Visa), physischer (Mauern) oder virtueller Natur sein mögen, fernab von unüberwindbar: Ein nicht zu vernachlässigender Anteil der als unerwünscht eingestuften Migrant_innen schafft es. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zunächst ist eine hermetische Verriegelung der Grenzen für „Illegale“ schwer zu konzipieren, ohne den freien Verkehr von dem, wovon die Globalisierung lebt, zu gefährden. Außerdem ist, entgegen des offiziellen Diskurses, nicht sicher, ob das Ziel wirklich darin besteht, sie alle hinter den Grenzen zu halten. Es ist bekannt, dass die Wirtschaften der industrialisierten Länder nicht ohne eine Reserve an flexiblen und leicht auszubeutenden Arbeitskräften auskommt – die Sans Papiers entsprechen diesem Bedarf. Letztlich bleibt die Mobilität, selbst die eingeschränkte, ein Ventil, eine notwendige Art der Anpassung auf Krisen, ie die internationale Gemeinschaft nicht zu lösen vermag. Und dennoch vergeht, in dieser immer mobileren Welt, kaum eine Woche, in der nicht irgendwo ein neues Mittelzur Einwanderungskontrolle erfunden wird. Warum?

Von wegen "Protector" - Kriegsschiff der australischen Grenzpolizei

Je mehr Grenzen verwischen, desto schärfer werden sie überwacht

Als paradoxe Begleiterscheinung der globalen Vergesellschaftung beinhalten Einwanderungskontrollen zwei Widersprüche. Der erste besteht in der Tatsache, dass sie sich proportional zur zunehmenden internationalen Mobilität verstärken. Seit dem letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts haben die Ausweitung des wirtschaftlichen Austauschs, die Zunahme des Lufttransports und die technischen Fortschritte im Bereich der Telekommunikation Entfernungen nichtig werden lassen und Funktionen von Grenzen, wie Zollbeschränkungen, verschwinden lassen. Mehrere Regionen der Welt haben sich organisiert, um dieses Verschwinden in einen Rahmen zugießen, so geschehen im Falle der Europäischen Union, des NAFTA oder des Mercosur. Grenzregime hörten indes nicht auf, sich weiterzuentwickeln.

Der zweite Widerspruch der Grenzkontrollen besteht in ihrer Tendenz, sich zu vervielfachen. Die Weiterentwicklung der Einwanderungskontrollen wird von politischen und polizeilichen Erklärungen über die Notwendigkeit, die Grenzen vor irregulärer Einwanderung zu schützen, begleitet. Man scheint immer mehr tun zu müssen. Sei es aufgrund eines steigenden, eines drohenden oder eines massiven Zuwanderungsdrucks. Man könnte meinen, dass diese Initiativen von dem Streben nach Effizienz geleitet sind. Im Angesicht der Vielzahlder in den letzten Jahren getroffenen Maßnahmen scheint es sich jedoch so zu verhalten, dass jede neue Maßnahme – anstatt die versprochene Sicherheit zu gewährleisten – den alleinigen Zweck hat, die Schwächen und Unzulänglichkeiten der vorangegangenen Maßnahmenaufzuzeigen, und nur das Ziel verfolgt, die kommenden Maßnahmen zu rechtfertigen. Tatsächlich gibt es, keinen wirklichen Anlass zu glauben, dass die von den reichen Ländern unternommenen Anstrengungen, die Mobilität von Menschen auf der Suche nach Schutz oder einem besseren Leben zu kanalisieren, von Erfolg gekrönt sind.

Oder anders gesagt: Angenommen, dass sie es zum Teil sind – was rein zahlenmäßig der Fall sein mag, und sei es nur aufgrund der Vielen, die während ihrer Auswanderung zu Tode kommen[1]–, so scheint dieser Faktor keinen Einfluss auf das weitere Vorgehender Politik zu haben. Gerade so, als sei die Notwendigkeit der Einrichtung neuer Grenzschutzmechanismen ungeachtet der Effizienz der bereits existieren den ein naturgegebener Imperativ. Die jährlichen Berichte der Agentur Frontex strotzen vor Zahlen, die eine unmöglicher zu verifizieren als die nächste. Sie halten, um sich für ihren eigenen Erfolg zu rühmen, die Anzahl von Festnahmen „illegaler Migrant_innen“ an diesem oder jenem Grenzposten fest, von Zutrittsverweigerungen zum europäischen Territorium gegenüber Personen ohne die nötigen Dokumente für den Grenzübergang, die Anzahl maritimer Einsätze, die zu so und so vielen Festnahmen geführt haben. Aber man findet in den Berichten von Frontex ebenso wenig die Spur einer umfassenden Evaluation ihrer Wirksamkeit im Sinne einer Kosten-Nutzen-Rechnung wie in den Bilanzen derjenigen europäischen Institutionen, die die Agentur finanzieren und von denen sie abhängt. Ohne auch nur von den menschlichen Kosten ihrer Interventionen zu sprechen, wäre es interessant, die Anzahl von neuen Migrationsrouten zu erfahren, die sich jedes Mal öffnen, wenn Frontex einen Grenzübergang dichtmacht. Die zur Schau gestellte Selbstzufriedenheit scheint in erster Linie dazu zu dienen, die Erhöhung der menschlichen und materiellen Ressourcen zu rechtfertigen, die Frontex für ihren Kampf gegen die irreguläre Einwanderung zur Verfügung stehen. Im Laufe der ersten zehn Jahre ihres Bestehens hat sich ihr Budget von anfangs 6,3 Millionen Euro im Jahre 2005 verfünfzehnfacht.[2]

Geschichten von Macht und dem großen Geld

Dieser Eindruck eines endlosen Laufs zu einem Ziel, das wie eine Fata Morgana nie erreicht wird, wirft Fragen auf. Wenn sie, anders als ihre Befürworter_innen behaupten, nur sehr marginal dazu beitragen, die Mobilität von Migrant_innen zu unterbinden oder den „Migrationsstrom“ zugunsten einer geplanten Organisation der Zuwanderung umzuleiten, wozu dienen die Kontrollen dann? Eine der möglichen Erklärungen stützt sich auf die wachsende Rolle der „Sicherheitsindustrie“, hier definiert als derjenige Wirtschaftszweig, der von den immer ausgeklügelteren Abschottungssystemen profitiert. Lange Zeit behandelte man die Frage der „Migrationsindustrie“ nur, um die kriminellen Netzwerke zu beschreiben, die ausnutzen, dass „Illegale“ gezwungen sind, immer stärker überwachte Grenzen zu überqueren. Die Thematik der Schleuser und anderer Menschenhändler verdeckt jedoch eine ungleich lukrativere Form der Ausbeutung von Migration, die ihrerseits von den Regierungen selbst unterstützt wird. Es handelt sich um die Gewinne, die aus der Weiterentwicklung der Sicherheitstechnologie im Sektor der Grenzüberwachung gezogen werden. Das „Business“ der Migration umfasst aber auch all das, was die Gesetzgebung zu Aufnahme, Unterbringung, Inhaftierung und Abschiebung von Ausländer_ innen in den Aufnahmeländern abwirft. Spitzentechnologie im Bereich der Fernüberwachung, private Unternehmen, die sich auf die Verwaltung von Abschiebelagern und die Organisation von Abschiebungen von Ausgewiesenen spezialisiert haben.

Der große Sicherheitsmarkt: Das Beispiel G4S

Am 12. Oktober 2010, kurz vor 20 Uhr, als die Passagiere von British-Airways-Flug BA 77 von London nach Luanda mit dem Boarden beginnen, sind vier Personen bereits im Flugzeug. Kurze Zeit vor den restlichen Passagieren sind drei Agenten der privaten Sicherheitsfirma G4S[3] und der angolanische Sans Papiers, mit dessen Abschiebung sie beauftragt sind, eingestiegen. Jimmy Mubenga wehrt sich, er will nicht nach Angola abgeschoben werden. Er protestiert, zuerst lautstark, dann immer schwächer. Von seinen Bewachern festgehalten, hört man ihn klagen, dass er nicht atmen kann. Dann ist die Ruhe wiederhergestellt. Die Maschine wendet und kehrt zurück zu ihrem Ausgangspunkt. Ein Reisender, der in derselben Reihe sitzt, sieht wie die Sicherheitsbeamten Jimmy Mubengas Puls an Hals und Handgelenken kontrollieren. Ein Notarzt wird gerufen. Der leblose Passagier wird aus dem Flugzeug ins Krankenhaus gebracht, wo sein Tod offiziell festgestellt wird.[4]

Zwei Wochen nach der Tragödie von Flug BA 77 verlor die Firma G4S den Zuschlag für den Abschiebemarkt, auf den sie seit 2005 ein Monopol innehatte. Ihre Führung erklärte, dass sie den Verlust des Vertrags, der ihnen um die 110 Millionen Pfund (125 Millionen Euro) in fünf Jahren eingebracht hatte, an die Konkurrenzfirma Reliance Secure Task Management bedaure, jedoch die Versicherung erhalten habe, dass die Wahl der britischen Regierung nichts mit den „aktuellen Geschehnissen“ zu tun habe.

Das finanzielle Gleichgewicht von G4S dürfte dieser Einkommensausfall nicht stören. Allein in UK unterhält G4S vier Gefängnisse, vier große Haftanstalten für Asylbewerber_innen und Migrant_innen und zahlreiche kleine Zentren für kürzere Haftaufenthalte. Da sie außerdem mit 40.000 Angestellten und Umsätzen in Höhe von mehr als einer Milliarde Pfund zahlreiche Sektoren, wie beispielsweise Wachdiensttätigkeiten, Flughafensicherheit, Verwaltung von Schulgebäuden, Gefangenentransporte und Geldtransporte bedient, ist sie die unangefochtene Nummer eins der Sicherheitsfirmen in Großbritannien und Irland. Vor allem gehört G4S zu der kleinen Gruppe von multinationalen Konzernen, die auf globaler Ebene den Großteil der privaten und outgesourcten Sicherheitsindustrie unter sich aufteilen, in der das Migrationsmanagement einen immer zentraleren Platz einnimmt. Als ehemalige Group 4 Securicor ist das Produkt von seit 2000 voranschreitenden Fusionen und Aufkäufen, die ihr heute den ersten Platz in ihrer Branche einbringen. 2011 war sie mit Aktivitäten in mehr als einhundertzehn Ländern und mehr als 600.000 Angestellten der zweitgrößte private Arbeitgeber der Welt.

Fazit

Wenn sie nicht komplett ignoriert werden, behandeln die Medien und politischen Verantwortlichen die menschlichen Dramen der irregulären Migration bestenfalls aus dem Blickwinkel des Mitgefühls. Im Allgemeinen wird das Unwissen jener, die unglaubliche Risiken eingehen, um den Kontrollen zu entgehen bedauert oder, häufiger noch, mit dem Finger auf die Schleuser und Menschenhändler als alleinige Verantwortliche gezeigt. Es ist an der Zeit, sich über die Scheinheiligkeit dieser Rhetorik, die wahren Interessen hinter den Einwanderungskontrollen und ihre Effektivität in Anbetracht der dramatischen Folgen bewusst zu werden.

Claire Rodier ist eine französische Journalistin, Juristin und Mitbegründerin des europäisch-afrikanischen NGO- und Informations-Netzwerks migreurop[1]. Sie ist Autorin und Herausgeberin zahlreicher Publikationen zu den Themen Migration, Asyl und Menschenrechte. Der Beitrag ist ein Auszug aus ihrem gleichnamigen Buch[2], das im März imUNRAST-Verlag[3]erschien.

[1]Zwischen 1993 und 2014 zählte man mehr als 20.000.

[2]2015 wird das Frontex-Budget bei über 100 Millionen Euro liegen.

[3]Das Deutschlandgeschäft von G4S wurde von der Firma Securitas aufgekauft.

[4]Ein ähnlicher Fall trug sich 1999 in Deutschland zu, als der sudanesische Flüchtling Aamir Ageeb bei seiner Abschiebung, gefesselt und mit einem Motorradhelm auf dem Kopf, im Lufthansa-Flug LH 588 in Frankfurt am Main von drei Bundesgrenzschutzbeamten durch »massives Niederdrücken« erstickt wurde (vgl. www. aamirageeb.de), Anm. d. Übers.

Links:

  1. http://www.migreurop.org/?lang=en
  2. http://www.unrast-verlag.de/neuerscheinungen/xenophobie-business-detail
  3. http://www.unrast-verlag.de