Willkommen im Mainstream

Über die Vereinnahmung einer Bewegung

Elsa Koester

Total verrückt. Die BILD produziert #refugeeswelcome-Aufkleber mit ihrem Logo drauf. Früher gehörte dieser Aufdruck Szene-Linken. Früher, das heißt: vor drei Monaten. Und es bleibt nicht bei Aufkleber-Bekenntnissen. Tausende Menschen arbeiten unentgeltlich in Flüchtlingsunterkünften. Zahlreiche Unternehmen und Konzerne stellen ihre Mitarbeiter_innen dafür frei, oft einen Tag pro Woche, und das seit Monaten. Schon vor Merkels „Wir schaffen das“. Ganz ohne Order von oben.

Und es geht noch weiter. Jetzt stellt die BILD rassistische Hetzer an den Pranger. Wer nachplappert, was die Zeitung jahrelang druckte, wird jetzt fertig gemacht. Und Merkel? Die hat plötzlich Grundsätze. Die Aufnahme von Flüchtlingen zum Beispiel. Die sei ihre „verdammte Pflicht“. Auch die Wirtschaft gibt sich antirassistisch. Siemens und die Telekom stellen Hunderte bezahlte Praktikumsplätze und Deutschkurse für Flüchtlinge bereit. Zahnärzte betreiben Praxis-Sharing mit Kollegen aus Damaskus. Eine Online-Jobbörse vermittelt Arbeitsplätze an Flüchtlinge. Mit über 500 teilnehmenden Unternehmen. Und damit Flüchtlinge leichter an Arbeit kommen, sollen die Gesetze schnell gelockert werden. Inklusive Bleiberecht während der Ausbildungszeit fordert der Bundesverband der Industrie.

Vereinnahmung durch BILD? Wenn ein Riss durchs Land geht, gleich das Blatt mitzerreissen!

Was ist passiert? Flüchtlingsunterstützung ist voll Mainstream. Wer noch kein Ich-und-mein-Flüchtling-Selfie hat, der ist einfach out. „Papa, kaufst du mir einen Flüchtling?“, nennt dieses Phänomen die Video-Satirecrew „Die Datteltäter“. Klar. Paternalistisch. Aber jeder berechtigte Hinweis auf den neuen Nationalstolz kann nicht darüber hinwegtäuschen, das hier etwas Unfassbares passiert ist. Hunderttausende Flüchtlinge kommen nach Deutschland. In Freital formiert sich der braune Mob. Flüchtlingsunterkünfte brennen. Doch was tut die Mehrheit? Sie entscheidet sich gegen Pegida, für das Willkommen. Gegen den Weg der Hetze und für den Weg der Solidarität. Einfach so. In Deutschland!

Natürlich ändert das kleine Sommermärchen nicht die Welt. Mainstream im Kapitalismus stinkt weiter nach Verwertung, nach Nationalismus, nach Paternalismus. Wenn BDI-Chef Grillo eine Lockerung des Leiharbeitsgesetzes fordert, damit Flüchtlinge schon nach drei Monaten ins Lohndumping dürfen, wird klar, woher der Wind weht. Grillo sagt es ohne Umschweife: Es geht darum, „gerade gut ausgebildete Flüchtlinge schnell in Wertschöpfungsstrukturen einzubetten". Alles klar? Keine antirassistische Erkenntnis. Sondern dreckige kapitalistische Realpolitik. Flüchtlinge sind Humanressourcen. Und wenn's ganz blöd kommt, geht es dem Mindestlohn an den Kragen.

Überraschung: Ein Hashtag auf BILD-Aufklebern macht keine Revolution. Wohl aber zeigt er einen Paradigmenwechsel an. Denn selbst wenn das Willkommen glücklich mit den Interessen der Wirtschaft zusammentrifft: Entstanden ist es anders. Aus einem humanistischen Unbehagen inmitten eines tief antihumanistischen Deutsch-Europa. Das Willkommen ist ein Widerstandsreflex gegen Kaltland. Gegen die Allgegenwart rationaler Profitlogik, gegen den Staatsstreich des Zuchtmeisters von Europa, gegen die schwarze Null, gegen die streichelnd-abschiebende Merkel. Der Kanzlerin wiederum blieb keine andere Wahl, als sich das Willkommen anzueignen: Weil sich Deutschland nach dem Coup, nach dem Mob von Pegida und Freital nichts mehr leisten kann. Und weil die Versorgungsstrukturen ohne das Willkommen kollabiert wären. Praktisch außerdem: Vor lauter Willkommen hat niemand etwas dagegen, wenn jetzt die weniger verwertbaren Flüchtlinge fix in Abschiebegewahrsams-Zentren gesteckt werden. Die krasseste Verschärfung der Asylgesetze, und Merkel wird für ihre Menschlichkeit gefeiert.

Ja, der Mainstream-Antirassismus stinkt. Aber: etwas Besseres hätte kaum passieren können. Denn wenn der braune Mob wütet, ist es von Vorteil, wenn nicht alle hinterher rennen. Der Pegida-Jahrestag als Machtdemonstration? Das ging nach hinten los. Die politische Mitte macht nicht mit. Nicht aus moralischen Gründen. Sondern weil sie es nicht mehr kann. Das Willkommen steht dagegen.

Für viele ist das Fremde nicht mehr fremd genug, um es zu fürchten. In den Dörfern, Betrieben, auf den Straßen, Bahnhöfen, in den Zügen: Überall setzen sich Menschen mit Flucht und Migration auseinander. Sie wissen, wo Damaskus liegt. Sie wissen, dass viele Menschen nur mit einem Schlauchboot nach Europa kommen können, und dass das unmenschlich ist. Sie lernen die Lebensrealität von Menschen in Not kennen. Ein gutes Fundament gegen rechte Hetze, die sich von Lügen, Vorurteilen und dem Unbekannten nährt.

Und trotzdem: Das Willkommen ist brüchig. Der Paternalismus zeigt sein mieses Gesicht, wenn de Maizière von Undankbarkeit spricht. Undankbarkeit, das heißt, einen eigenen Willen zu haben, Taxi zu fahren, sich über fehlende Betten und kalte Zelte zu beschweren. Und „Ankommenskultur“, das heißt de Maizière zufolge offensichtlich, ab ins Lager und Klappe halten. Es kommen harte Zeiten. Die BILD wird wieder hetzen. Der rechte Mob wird größer. Die Bewährungsprobe ist nicht vorbei. Aber wir starten in diese Zeiten mit einem breiten humanistischen Lager. Das werden wir auch brauchen.

Elsa Koester arbeitet als Volontärin für die Tageszeitung neues deutschland.