30.06.2008

Obamas „Change“

Ein politisch-kultureller Bruch im Herzen des Empire

Pedram Shahyar
Pedram Shahyar, Berlin, ist Mitglied im bundesweiten Koordinierungskreis von Attac.

Einen Tag vor den Wahlen in Kentucky und Oregan wusste man, dass es geschafft ist: Per Mail und ‚per Du’ informiert die Zentrale der Obama-Kampagne, dass 75.000 Menschen in Portland ihren Kandidaten empfangen hatten. Wochenlang hatte er täglich 15.000 bis 20.000 Menschen in Stadien und Domes versammelt. Diese Massen sind eine Art Bewegung. Ausgelöst von einem Wahlkampf, feiern sich die „neuen“, „schönen“, „emanzipatorischen“ USA voller Selbstbewusstsein. Ein Land, das auf der Grundlage der Sklaverei aufgebaut wurde, erlebt ihren ersten farbigen Präsidentschaftskandidaten.
Die Obama-Kampagne hat gegen Clinton gewonnen – und mit ihrem Erfolg erleben wir die schärfste Veränderung in der politischen Landschaft in den USA seit zwei bis drei Jahrzehnten.

„This Campaign“ – Wahlkampf oder etwa Bewegung?

In fast jeder Rede sprach Obama darüber, wie „diese Kampagne“ das Land verändere. Diese unterscheidet sich qualitativ von dem, was sonst als Wahlkampf bekannt war. In den meisten Analysen wurde der Erfolg Obamas bisher mit seinem Charisma, Stil und biographischen Kapital erklärt. Dieser reinen Oberflächlichkeit in der Betrachtung verdanken wir auch eine Menge grandioser Fehleinschätzungen[1][1]. Die Obama-Kampagne ist nämlich im Charakter geprägt von den Mustern von „grassroots“-Organisierung und sozialer Bewegungen. In einem Wahlkampf ist der Wähler gewohnt, innerhalb kurzer Zeit mit geballter Ladung Parolen, Gesichter, und - bestenfalls - einem polarisierten Wahlkampf auch noch politische Richtungen präsentiert zu bekommen - kurzzeitig und in komprimierter Form. Die Obama-Kampagne macht jedoch gerade eine enorme Basis-Beteiligung über einen längeren Zeitraum aus. Das fängt bei den Spendern an, die beim Sammeln von Kleinspenden alle Rekorde geschlagen haben. Computer-Mediated-Communication (CMC) ist das A und O der Kampagne. Ob per Mail, auf Facebook oder diversen Chatprogrammen, die Obama-Kampagne kommuniziert mit jedem und lässt alle kommunizieren: Ellenlange Blogs, diverse Unterstützergruppen und verschiedenste Foren. Es bleibt jedoch nicht nur bei virtueller Kommunikation: Über CMC füllen sich die Megahallen, und lokale Gruppen sind quer durch das Land entstanden.
Dieses Moment der Basis-Bewegung war Voraussetzung dafür, dass der politisch-kulturelle Bruch, den Obama verspricht und verkörpert, sich so erfolgreich entfalten konnte. So konnte er sich gegen das Gros des Parteiapparats der Demokraten und gegen große Leitmedien, die gerade zu Beginn mehr als deutlich Clinton favorisiert hatten, durchsetzen. Obamas Erfolg gegen Clinton ist der Sieg einer neuartigen Basisbewegung per Youtube über CNN und „New York Times“.

Die politische Symbolik des Bruches

Nicht nur Fehleinschätzungen, sondern auch Oberflächlichkeit begleitet die Berichterstattung über die Obama-Kampagne. Ganz im Sinne des Boulevards rückte man vor allem die Physiognomie Obamas in den Vordergrund. „Der Messias-Faktor“ titelte z.B. der Spiegel, wo man neben Stilanalyse ein paar trockene Programmpunkte und einige Umfragen zu lesen bekam – also alles Nebensächlichkeiten im Wahlkampf. Die zentrale Frage, wie diese Dynamik (oder „Momentum“ wie es in der Bewegung/Kampagnensprache heißt) entsteht, betrifft die politischen Kernaussagen, mittels derer Obama in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. In “Change – Yes we can“[2][2] kann man, muss aber nicht die Übersetzung der Parole des Weltsozialforums „Eine andere Welt ist möglich“ lesen. Doch eindeutig ist diese Botschaft hinsichtlich der Politik der Bush-Periode – sie will einen Bruch und mobilisiert dafür von unten.
Die eigene Agenda-Fassung in der heißen Phase des Wahlkampfs betraf drei Felder. Die Außenpolitik proklamiert eine Abkehr von der Kriegspolitik („because I didn’t"), eine Erneuerung des Multilateralismus und Verhandlungsbereitschaft gegen den „Schurkenstaaten“. In der Gesundheits- und Sozialpolitik werden die skandalösen Zustände der Gesundheitsversorgung fokussiert und eine allgemeine Krankenversicherung versprochen, die sich alle leisten können („because we will“). Für die Klimapolitik wird nichts Geringeres als eine Revolution angekündigt – eine USA, die mit der regenerativen Wende innerhalb einer Generation ohne Öl auskommen will („because we can“).
Dass die Hallen platzen, die Rechner heiß- und die Spendenkontos überlaufen, kann nicht nur mit der zugegeben brillianten Rhetorik, dem Aussehen, Stil und den Manieren Obamas erklärt werden, sondern vor allem mit diesem Diskurscocktail an den zentralen gesellschaftlichen Konflikten in den USA und der Welt.

Tiefenstruktur des Bruches – Humanismus gegen Zynismus

Vieles lässt sich an Obamas Aussagen und Wirken relativieren. Doch schauen wir kurz zurück: Die USA blieb zwar als einzige Weltmacht nach 1989 übrig, doch war und ist sie eine Weltmacht im Abstieg. In Europa entwickelt sich eine eigene Identität alternativer Großmachtvorstellungen. In Fernost sind ehemalige Schwellenländer und die neuen Wirtschaftsriesen China und Indien auf dem Vormarsch gegen die ökonomische Nr. 1 und überholen diese in Kürze. Im Mittleren Osten sinkt die westliche Hegemonie zusehends, und in Lateinamerika kam es schon zu einer schier unaufhaltsamen linken Welle.
In dieser Konstellation gab der 11. September den Neokonservativen die gesellschaftliche Gelegenheit, ihre Doktrin durchzusetzen. Global, und es galt mit der wichtigsten Region, dem Nahen Osten, zu beginnen, sollte eine grundsätzliche Umwälzung mit militärischer Macht erzwungen werden. Diese neue außenpolitische Doktrin setzte eine innenpolitische Fundamentalisierung in der amerikanischen Gesellschaft voraus. Existenzielle Angst bestimmte die Wahrnehmung, Ausnahmezustand war das neue Paradigma. Das Leben jedes Einzelnen, symbolisiert durch die Sicherheit der Vereinigten Staaten, stand permanent auf dem Spiel. Die Nation war im Krieg, nach außen und nach innen, das Freund-Feind-Schema bestimmend.
Mit der Etablierung dieser Muster stieg der Zynismus der Neokonservativen herauf. Einmal zum Feind erklärt, sind diese am liebsten Opfer, und für ihr Leiden selbst verantwortlich. Es wurde zum guten Ton, über das Leid anderer zu lachen, Spaß an Erniedrigung anderer zu empfinden. Im Abu Gharib sah man diesen Mechanismus in Reinform, der sich aber tagtäglich auch in den MTV-Dating- und Dissing-Shows abspielte. In diesem kulturellen Zynismus ist Empathie mit den Opfern eine Schwäche und wird getilgt. Es gilt, die freigesetzte Macht über andere zu zelebrieren, ganz unverkrampft. Diese Urgeste des militärischen Imperialismus, dessen Spur von den Kolonialisten bis in die KZs führt, schien ein ‚normaler’ kultureller Code zu werden. Das imperiale Angebot war eben diese nackte Macht über die anderen, und das Glück, nicht zu den Opfern zu gehören.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, was der Schrei nach „change“ und „unity“ in der Obama-Kampagne auslösen musste. Gegen ethnische, religiöse, soziale und parteipolitische Grenzen das Land versöhnen zu wollen, heißt hier ein fundamentalistisches Freund-Feind-Schema zu sprengen. Diese „Einheit“ setzt auf Verständigung innerhalb der Vereinigten Staaten und zwischen den USA und der Welt.
Von besonderem Interesse wird diese Einheit, bedenkt man, welcher Moment des Empowerments dazukommt. In seiner als historisch geadelten Rede über Rasse („a more perfect union“) distanziert sich Obama vom Schwarzen Nationalismus der Generation zuvor - dieser hätte die Gesellschaft als statisch, den Rassismus der Weißen als letztlich unüberwindbar gesehen. Er betonte den Weg der Veränderung in der Rassenfrage in den USA (über „civil war“ and „civil disobedience“), um immer wieder die Möglichkeit der Veränderung der Gesellschaft zu betonen. Obamas Erfolg ist auch das Ende vom „Ende der Geschichte“.

Das andere Amerika

„Wenn Wahlen etwas verändern würden, wäre sie verboten“ – diese alte Weisheit außerparlamentarischer Linker scheint die politische Realität des Jahres 2008 in den USA offensichtlich nicht zu beschreiben. Gerade hier, wo die Unterschiede zwischen den Kandidaten und Lagern in der Vergangenheit selten qualitativer Natur waren, hat bereits eine Vorwahl vieles auf den Kopf gestellt. Diese Entwicklung kommt natürlich nicht ohne Vorlauf. Nachdem der neoliberale Durchmarsch Anfang der 80er mit den ersten Heroen Thatcher, Reagan, und Kohl seinen Anlauf nahm, um sich dann in den 90ern unter den Demokraten Clinton und Schröders und Blairs New Labour fortzusetzen, erlebte die globale Gegenbewegung 1999 ausgerechnet in den Strassen Seattles seine symbolhafte Geburtsstunde. Hiernach waren die Vereinigten Staaten Schauplatz einer sichtbaren linken Politisierung. Mit Ralf Nader entstand zum ersten Mal seit den 30ern eine ernsthafte linke Wahlkampagne jenseits der Demokraten, die auch Hallen füllte und am Ende einen Achtungserfolg nach Hause fuhr. Im Jahr 2000 gab es erstmals seit den 60er wieder Massenproteste vor den großen Parteitagen der Republikaner und Demokraten, samt Barrikaden, Wasserwerfern und massig Tränengas.
Als nach dem 11. September öffentlicher Protest oft unter den Stiefeln des Patriot-Acts erdrückt wurde, waren die Stimmen dieses Amerika nicht mehr so präsent – in der Stille jedoch wuchs neben Resignation und Schock auch Wut. Der demokratische Bewerber und heutige Vorsitzender der Partei Howard Dean versuchte 2004 in seiner Vorwahl-Kampagne bereits eine Basisbewegung zu initiieren, die zwar scheiterte, aber den Weg mit ebnete. John Kerry konnte, als er sich gegen Dean bei den Vorwahlen durchsetzte, bei seiner Kandidatur auf eine Rekordzahl freiwilliger Helfer zurückgreifen, die von Tür zu Tür gingen um die Wiederwahl Bushs zu verhindern. Damals hatten sie keinen Erfolg – die Angst war noch zu beherrschend, das neokonservative Projekt noch nicht offensichtlich Bankrott.
Doch vier Jahre später, kam zu dem Kollaps des militärischen Dominanzprojekts und der politisch-kulturellen Popularität und Hegemonie der USA in der Welt noch eine Finanzkrise dazu, die in den USA das Herz des „finanzmarktdominierten Kapitalismus“ traf und unzählige einfache Leute ihre Existenz gekostet hat. Das Blatt wendet sich, auf den Ruinen der Neokons konnte ein emanzipatorisches Projekt wie die Obama-Kampagne diesen Erfolg realisieren.
Was wird Obama als Präsident verändern? So falsch die Annahme ist, diese Wahl würde nichts verändern, so naiv wäre auch zu glauben, diese Kampagne ließe sich in Regierungspolitik übersetzen. Als Präsident wird er, so sehr auch mit neuen Kräften aufgefrischt, mit einem etablierten Apparat regieren. In Washington wird seine Regierung im Netz der Macht, der Lobbys und Konzerne genauso eingespannt und sich in permanenter Umlagerung befinden - wie jede andere zuvor. Wird er wirklich, wie angekündigt, in einen Feldzug gegen „old Washington games, played by old Washington players“ ziehen? Man darf gespannt sein, denn deren Widerstand ist garantiert und skrupellos. Sollte er sich ihnen mit zu geringem Einsatz fügen, wäre die Enttäuschung im neuen Lager natürlich groß. Doch es wäre fast zynischer Pessimismus zu glauben, danach wäre alles beim Alten. Was bis jetzt in Gang gesetzt wurde, lässt sich nicht per Mausklick oder Regierungsbeschluss abschalten. Die enorme Politisierungswelle, Hoffnung und das Selbstbewusstsein des kritisch-humanistischen Amerika wird das Land bei einem Erfolg Obamas im November in eine progressive Reformstimmung versetzen, die es seit den 60ern nicht mehr gegeben hat.

Mutation des Empires?

Die Geschichte zeigt die Machbarkeit von Veränderung von unten, aber auch die Flexibilität der Macht im Empire. Eine reale Gefahr lauert in einer Mutation: Die USA, angeführt von einem Halbschwarzen namens Hussein und dieses Profils, werden auf globaler Ebene, was ihre politisch-kulturelle Popularität und Hegemonie anbelangt, schlagartig das Verlorene von der Zeit der Neokons wieder ausbügeln. Gut so - denn die Rekonstruktion ihrer Hegemonie läuft in diesem Falle über liberale, progressive und emanzipatorische Werte und Symbole! Die Geschichte Kennedys, mit dem Obama so gerne verglichen wird, ist jedoch eine Warnung. Auch er strahlte global und sorgte für eine Welle der Sympathie. Diese wurde aber in Zeiten eines expandierenden Konkurrenten des Ostblocks zum kulturell-geistigem Beiwerk einer neuen imperialistischen Expansionspolitik sondergleichen: Der so populäre Kennedy befahl die große Intervention in Vietnam und brachte die Welt in der Cuba-Krise an den Rand der atomaren Eskalation.
Ob die Obama-Regierung unter den neuen Vorzeichen eine wirkliche Wende oder eine dynamische Modernisierung des Alten bringen wird, wird nach der Wahl entschieden: zwischen den alten und natürlich immer noch mächtigen Eliten und der mit neuer Kraft ausgestatteten amerikanischen kritischen Öffentlichkeit.

Anmerkungen:

[1][3] Der Starreporter des Spiegels Gabor Steingart, der den gesamten Wahlkampf mit einer Kolumne „Westwing“ aus Washington begleitet, beglückte uns zeitweise mit wöchentlichen Abgesängen auf Obama. Nach den ersten Erfolgen für Clinton wurde „Das Ende der Obama-Revolution“, und am Supertuesday, an dem Obama deutlich mehr Staaten und Delegiertenstimmen gewonnen hatte und in Führung gegangen war, konnte man über den Titel „Arbeitssieg für Clinton“ nur staunen.
[2][4] „Yes we can“ wurde aus der Tradition einer kämpferischen Landarbeitergewerkschaft übernommen.

Zum Autor:

Pedram Shahyar (35) wohnt in Berlin, ist Mitglied im bundesweiten Koordinierungskreis von Attac und promoviert über die globalisierungskritische Bewegung.

Links:

  1. https://www.prager-fruehling-magazin.de#ftn1
  2. https://www.prager-fruehling-magazin.de#ftn2