Nach der Care-Revolution

Interview mit Barbara Fried und Hannah Schurian über UmCare

Prager frühling sprach mit Barbara Fried und Hannah Schurian über die Konferenz „UmCare“, Widersprüche im Kapitalismus, Daseinsvorsorge- und Flüchtlingspolitik und linke Strategien für ein populares Projekt in Zeiten der Care-Krise.

prager frühling: Die zweite Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Thema Care liegt wenige Tage hinter euch. Der Titel „UmCare“ deutet schon darauf hin - ein Zurück gibt es nicht mehr. Nach dem spürbaren Aufbruch auf der ersten Konferenz im letzten Jahr - was ist eure Bilanz von diesem Mal? Wie steht es mit der Care-Revolution?

Barbara: Die Aufbruchsstimmung der letzten Konferenz war durchaus noch zu spüren und gleichzeitig ist seitdem einiges passiert. Auf der ersten Aktionskonferenz „Care Revolution“ standen ja Sorgearbeit und soziale Reproduktion in ihrer ganzen Breite im Mittelpunkt – es ging darum, das Thema überhaupt zu setzen und im politischen Diskurs zu verankern. Die Resonanz war damals riesig. Viele hatten nur darauf gewartet, sich endlich unter dieser Klammer auszutauschen und sichtbar zu werden. Diesmal ist es uns zusammen mit der Linksfraktion gelungen, das Spektrum der Teilnehmenden noch zu verbreitern. Wir haben Gewerkschafter*innen und andere eher institutionalisierte Akteur*innen angesprochen, außerdem viele Aktive aus Initiativen, Selbsthilfeorganisationen und Verbänden dazu geholt. Das hat die Debatten sehr bereichert.

Hannah: Die Herausforderung war ja diesmal, konkrete Strategien für einen spezifischen Bereich, Pflege und Gesundheit, zu entwickeln - und alle Akteur*innen zusammenzubringen, die darin eine Rolle spielen, also beispielsweise ÄrztInnen, Pflegekräfte, Menschen mit Pflegebedarf, pflegende Angehörige. Die stecken in sehr unterschiedlichen Kontexten und Problemlagen. Hier ist es schon ein wichtiger Schritt, sich in den unterschiedlichen Kämpfen gegenseitig wahrzunehmen und sie als Teil eines gesamtgesellschaftlichen Problems zu begreifen. Die unterschiedlichen Logiken in diesen Auseinandersetzungen lassen sich aber nicht so einfach verbinden. Wir haben da keine fertigen Lösungen mitgenommen, sondern viele Anregungen und Arbeitsaufträge.

pf: Verschiedene Logiken? Was heißt das?

Hannah: Da geht es zum Beispiel um den Unterschied zwischen bezahlter, „professioneller“ und unbezahlter, oft familiärer Pflege- und Gesundheitsarbeit. Der Ansatz der Konferenz war zu sagen: die Probleme in diesen Bereichen hängen trotz aller Unterschiede unmittelbar zusammen. Bezahlte wie unbezahlte Tätigkeiten werden abgewertet, sie werden überwiegend Frauen zugewiesen und zu prekären Bedingungen verrichtet. Es geht uns also darum, die ganze Sorgearbeit gesellschaftlich aufzuwerten. Diese Perspektive ist in den aktuellen Kämpfen aber nicht per se enthalten. In Arbeitskämpfen, beispielsweise im Sozial- und Erziehungsdienst oder in der ambulanten Pflege, vertreten die Beschäftigten nicht automatisch auch die Interessen von Eltern, Angehörigen oder Patient*innen. Gemeinsame Perspektiven müssen da erst entwickelt werden.

Barbara: Ja, und das ist gar nicht so einfach, weil die Auseinandersetzungen eben diesen unterschiedlichen politischen Logiken folgen. Auf der einen Seite hast du Gewerkschaftssekretär*innen, deren Alltag es ist, professionell Arbeitskämpfe zu organisieren. Und auf der anderen Seite hast du pflegende Angehörige oder Eltern von schwerbehinderten Kindern, die seit vielen Jahren von Hartz IV leben, weil sie angesichts ihrer Sorgeverantwortung faktisch gar keine Möglichkeit haben, erwerbstätig zu sein. Ihnen geht es um eine Verbesserung ihrer Situation, aber erstmal auch darum, Erfahrungen auszutauschen und ihre Frustration und Isolation zu überwinden. Viele sind gar nicht im engen Sinne ‚politisch’ oder ‚links’. Sie artikulieren ihre Situation in anderen Begriffen, als Polit-Aktivist*innen das zum Teil gewöhnt sind. Hier ein gemeinsames Sprechen zu ermöglichen, ist unglaublich wichtig, aber eben nicht leicht. In den Workshops haben wir diese Ungleichzeitigkeiten gesehen: Die einen sind schon dabei, ihre Strategien zu verfeinern, während im Feld der unbezahlten Sorgearbeit die Organisierungs-Erfahrungen noch am Anfang stehen. Insgesamt brauchen wir beides: Wir müssen versuchen, unsere Strategien zu präzisieren, um die nächsten Schritte anzupeilen. Und gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass wir als gesellschaftliche Linke mehr werden, dass wir Leute erreichen, die nicht schon längst dabei sind.

Hannah: Unsere These ist, dass die Leute von einer Verbindung ihrer Kämpfe profitieren. Das lässt sich konkret beobachten. Wenn man sich etwa die Arbeitskämpfe der Pflegekräfte an der Charité in Berlin betrachtet: Die folgen einer bestimmten Logik, können damit viel Aufmerksamkeit erregen und mobilisieren beachtliche Machtressourcen. Aber um langfristig erfolgreich zu sein, um ihren Streik durchzuhalten, brauchen sie gesellschaftliche Akzeptanz und Unterstützung. Und an diesem Punkt ist es unglaublich wichtig, ein zivilgesellschaftliches Bündnis zu haben, das den Arbeitskampf unterstützt, in dem auch Patient*innen ihren Interessen ausdrücken können. So eine Verbindung der Interessen liegt eigentlich im Wesen dieser Auseinandersetzung und sie wird von den Pflegekräften auch immer wieder betont, nach dem Motto: „Unsere Arbeitsbedingungen sind eure Lebensbedingungen“. Trotzdem ist es eben nicht einfach, Orte und Formen einer gemeinsamen politischen Praxis zu finden. In den Bündnissen prallen genau die Unterschiede aufeinander, die wir eben benannt haben. Auf der Konferenz haben wir viel darüber diskutiert, wie solche Bündnisse funktionieren können. Zentral war immer wieder, dass sich die Akteur*innen auf Augenhöhe begegnen und ihr Verhältnis zueinander kein instrumentelles ist - ich denke, das entsteht erst aus dem Bewusstsein, dass der Kampf der anderen auch der eigene ist.

pf: Was ist das Besondere an der Sorge- und Erziehungsarbeit in unserer Gesellschaft? Warum seht ihr gerade hier ein mögliches Moment für Gesellschaftsveränderung im Ganzen?

Barbara: Zum einen ist Sorgearbeit ja ein klassisches Feld feministischer Kämpfe. In den 70er Jahren ist die Frauenbewegung mit der Forderung „Lohn für Hausarbeit“ angetreten, um auf die gesellschaftliche und ökonomische Bedeutung dieses vermeintlich privaten Bereichs hinzuweisen. Unter heutigen neoliberalen Bedingungen erhält dieses Ringen um den Wert unbezahlter Arbeit eine neue Brisanz: Die so genannte Reproduktionskrise mit der wir es momentan zu tun haben, wird politisch nicht zuletzt dadurch „gelöst“, dass Sorgetätigkeiten wieder ins Private verschoben werden. Eine Pflegeversicherung beispielsweise, die als Teilkaskoversicherung konzipiert ist und nur einen Bruchteil der tatsächlich entstehenden Kosten abdeckt, basiert darauf, dass jemand die verbleibende Arbeit unbezahlt leistet – nach wie vor fast 90% Frauen. Oder aber darauf, dass man die restlichen Kosten privat bezahlt, was nur die allerwenigsten im Alter können. Das Ringen um Sorgearbeit ist also auch ein Hebel, um die Austeritätspolitiken anzugreifen, die das Öffentliche immer weiter austrocknen und privatisieren. Außerdem ist die Sorgearbeit ein Feld, in dem derzeit viele Auseinandersetzungen stattfinden: Es sind nicht nur die Arbeitskämpfe von Erzieher*innen und Pflegekräften, auch in den sozialen Bewegungen von Occupy bis M15 haben Fragen sozialer Reproduktion und von Lebensweisen eine wichtige Rolle gespielt. Hier lässt sich derzeit einiges bündeln.

Hannah: Und es ist ein Feld, in dem die Widersprüche des gegenwärtigen Kapitalismus sehr konkret werden. Zum einen durch die Sparpolitiken, die Barbara schon angesprochen hat. Und zum anderen durch die zunehmende Ökonomisierung und In-Wert-Setzung dieser Arbeiten. Das sehen wir zum Beispiel im Krankenhaus, wo die Absurdität eines andauernden Profitdrucks besonders deutlich wird - an der Pflege wird gespart, während zum Teil unnötige, aber profittträchtige Operationen zunehmen. Hier entzündet sich an vielen Stellen Kritik, auch von Leuten, die mit einer Systemkritik sonst wenig am Hut haben. Weil sich der Gedanke aufdrängt, dass man das Ganze eigentlich völlig anders organisieren müsste.

pf: Würdet ihr sagen, die Kämpfe um Sorgearbeit sind nicht nur ein, sondern der zentral Kampf um Gesellschaftsveränderung?

Hannah: Ja, meiner Meinung nach ist es ein besonders zentraler Kampf, denn er greift wesentliche Herrschaftsmechanismen in dieser Gesellschaft an: Die Unterordnung des Lebens unter eine absurde Logik von Profit, Wachstum, Effizienz. Und die Abwertung und Ausbeutung derjenigen, die diese Arbeit machen. Die Sorgearbeit wirklich aufzuwerten, das würde heißen, die Bedürfnisse zum Maßstab der Ökonomie zu machen - und das hätte revolutionäre Folgen. So eine Politik berührt nicht mehr „nur“ Care Arbeit oder Geschlechterverhältnisse, sondern stellt die kapitalistischen Verhältnisse als ganze in Frage - z.B. auch die gesellschaftlichen Naturverhältnisse oder den Arbeitsbegriff.

Barbara: Diese Bedeutung wird auch klar, wenn wir uns den Stand der Produktivkraftentwicklung anschauen. Wir haben mittlerweile einen so hohen Grad an Automatisierung in der Güterproduktion erreicht, dass wir für die Herstellung der Mittel, die wir zum Leben brauchen, im Grunde nur noch ganz wenig arbeiten müssten. Stattdessen erleben wir jedoch ein krasses Auseinanderklaffen von Beschäftigungsverhältnissen und Zeitressourcen. Mascha Madörin bezeichnet das als „cost disease“: Die Sorgearbeiten werden unter gegebenen kapitalistischen Bedingungen im Verhältnis zur Güterproduktion immer teurer, weil sie sehr zeitintensiv sind. Tatsächlich befinden sich inzwischen zwei Drittel der Beschäftigungsverhältnisse im Dienstleistungssektor. Im Grunde kann man sagen, da spitzt sich diese widersinnige Logik des Kapitalismus zu: Er setzt ständig Arbeit frei, aber das Leben wird immer stressiger statt entspannter. Die frei werdende Zeit könnte aber auch anders genutzt werden – z.B. für gute Sorgeverhältnisse. Das sind gesellschaftliche Auseinandersetzungen, die wir führen müssen.

pf: Auf der Konferenz wurde auch die Situation und Perspektive migrantischer Care-Arbeiterinnen und -Arbeiter diskutiert. Was denkt ihr, welche Rolle die zunehmende Zahl von Geflüchteten hier einnehmen wird (ob gewollt oder ungewollt)?

Barbara: Im Laufe der Konferenz wurde immer wieder klar: Die zugespitzte Situation gibt es nicht erst seit kurzem, sie ist bloß jetzt erst ins mediale Bewusstsein gerückt. An der schlechten Versorgungslage der Geflüchteten etwa wird eigentlich nur deutlich, wie sehr die sozialen Infrastrukturen in Deutschland - lange schon - in der Krise sind. Die Daseinsvorsorge ist zutiefst marode: es gibt nicht genügend bezahlbaren Wohnraum, es gibt zu wenig gut ausgestattete Versorgungsstrukturen. Der Staat hat in den letzten 30 Jahren massiv Ressourcen aus dem sozialen Bereich abgezogen und privatisiert, was zu privatisieren war, um damit Gewinne zu sichern. Dass dann in so einer Situation alles kollabiert, ist kein Wunder.

Und ja, ich sehe eine gewisse Gefahr, dass versucht werden wird, den Mangel an Arbeitskräften im Care-Bereich auch auf dem Rücken der Geflüchteten zu lösen. Nach dem Motto: „Ist doch super, dann müssen wir keine Anwerbeabkommen mit den Philippinen oder Vietnam abschließen, um unseren Bedarf an Pflegekräften zu decken. Wir beschäftigen einfach die Leute, die ohnehin hier sind.“ Das muss nicht zwangsläufig problematisch sein, aber es gibt grade im informellen Pflegebereich eine schlechte Tradition, diese gesellschaftlich gering geschätzten und oft sehr schlecht entlohnten Tätigkeiten Migrant*innen zuzuschieben. Hier müssen wir aufpassen, dass nicht die rassistische Spaltungen in diesem Sektor weiter verstärkt und Geflüchtete faktisch als „Lohndrücker“ instrumentalisiert werden. So hat es historisch oft funktioniert.

Hannah: Es kommt auch auf die Bedingungen dieser Arbeit an. Dazu gehört zum Beispiel die Wahlfreiheit. Wenn Abschlüsse nicht anerkannt werden, haben die Leute oft nicht die Wahl, ob sie in diesem Feld arbeiten wollen oder nicht. Care-Arbeit gilt dann wieder als das, was „jede“ kann und können muss. Wir wollen ja gerade nicht diese Form der Abwertung, sondern eine Aufwertung, von der alle Beschäftigten, auch Migrant*innen profitieren. Ein Schlüssel hierfür ist die Interessenvertretung derjenigen, die die Arbeit machen. Wir hatten einen spannenden Workshop auf der Konferenz, in dem migrantische Beschäftigte aus der häuslichen Pflege über ihre erfolgreiche Selbstorganisierung erzählt haben - Beschäftigte, die immer noch häufig als „unorganisierbar“ gelten, es aber offensichtlich nicht sind. Das hat ein Potenzial, aber auch einen dringenden Handlungsbedarf für Gewerkschaften gezeigt: wie gehen die eigentlich mit diesen Beschäftigungsrealitäten um? Wie kann man zum Beispiel auch als geflüchtete Person oder mit unklarem Aufenthaltsstatus Mitglied werden?

Barbara: Dieses Potenzial der Veränderung sehe ich auch auf gesellschaftlicher Ebene. Die Geflüchteten, die jetzt nach Europa kommen, stellen faktisch das europäische Grenzregime in einer Art und Weise in Frage, wie es die Linke und entsprechende NGO’s in den letzten 20 Jahren nicht einmal in Ansätzen geschafft haben. Einen ähnlichen Ansatzpunkt für echte Veränderung könnte man auch für das Feld sozialer Infrastrukturen sehen. Durch die neuen Realitäten wird einfach klar: hier muss etwas passieren! Diese Gesellschaft kann es sich nicht leisten, die sozialen Bereiche derart auszutrocknen. Es gibt einen Handlungsbedarf, der einen politischen Gestaltungsspielraum öffnet. Allerdings müssen wir diesen auch aktiv wahrnehmen. Das ist auch eine Gelegenheit und

Herausforderung für die politische Linke.

pf: Am Ende der der Konferenz ging es noch mal um's Eingemachte. Was sind linke Strategien für Kämpfe in der Care-Arbeit? Wie können diese Kämpfe in einem popularen Projekt zusammengeführt werden?

Barbara: Es ist noch mal deutlich geworden, dass es die EINE Strategie nicht gibt. Stattdessen müssen wir die vielen unterschiedlichen Hebel- und Druckpunkte in den Auseinandersetzungen finden und dafür Strategien entwickeln. Das gilt vor allem für die unbezahlte Sorgearbeit, die nach wie vor zwei Drittel der gesellschaftlichen Arbeit in diesem Bereich ausmacht. Unser Standpunkt ist ja, dass wir die Kämpfe um eine Anerkennung in der unbezahlten und bezahlten Sorgearbeit gemeinsam führen müssen. Allerdings betreten wir hier ein Terrain, in dem es die 150 Jahre Erfahrungen der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung so nicht gibt. Politische Formen und Organisierungsansätze stecken in den Kinderschuhen. Auch die neuen Strategien für Kämpfe im entlohnten Care-Bereich, die etwa die Aktiven an der Charité verfolgen, hätte man sich vor zehn Jahren noch nicht vorstellen können. Es ist viel in Bewegung, aber auch vieles noch am Anfang. Entsprechend müssen wir auch als Stiftung, als Partei, als Intellektuelle und Wissenschaftler*innen hier konzeptionell vorankommen.

Hannah:

Ich finde es wichtig, weiter darüber nachzudenken, wie sich Arbeitskämpfe im Sorgebereich verbreitern und politisieren lassen. Wie können sie noch stärker als gesellschaftspolitische Kämpfe geführt werden? Um das mal konkret zu machen: Wie könnten in den Kita-Streiks Bündnisse zwischen Erzieher*innen und Eltern aussehen? Wie könnte es um mehr als materielle Aufwertung gehen, nämlich auch um Arbeits- und Betreuungsverhältnisse? Und ganz wichtig: wie bringt man auch die politischen Rahmenbedingungen aufs Tapet, etwa die schlechte Finanzierungssituation der Kommunen - die ist ja nicht vom Himmel gefallen, sondern hängt mit Schuldenbreme und Austeritätspolitik zusammen. Da gäbe es die Chance, einen Politisierungsprozess mit einer breiteren gesellschaftlichen Wirkung anzustoßen.

Barbara:

Ein anderes Feld, auf dem ich Handlungsbedarf, aber auch politische Spielräume sehe ist die kommunale öffentliche Daseinsvorsorge: Auf der Konferenz kamen eine ganze Reihe von interessanten Projekten zur Sprache: sozialmedizinische Zentren, Gesundheitskollektive, Gemeinschaftspraxen. Hier stellt sich die Frage, wie solche Strukturen verbreitert und geöffnet werden können - dafür braucht es konkrete politische Unterstützung. Also wo kann zum Beispiel DIE LINKE, dort wo sie in Landeregierungen ist, Räume öffnen, damit solche Alternativen Fuß fassen und sich verallgemeinern? In einem der Workshops hat ein sozialmedizinisches Gesundheitszentrum in Österreich ihre Arbeit vorgestellt: Sie bieten in einem unterprivilegierten Stadtteil von Graz eine wohnortnahe, multidisziplinäre Versorgung, die die sozialen Bedingungen von Gesundheit in den Blick nimmt. Besonders spannend ist hier, dass sich damit auch ein Raum für - vielleicht noch nicht politische Organisierung - aber doch für politisches Handeln öffnet. Wir kennen das aus Griechenland, wo die solidarischen Klinken Orte wurden, an denen eine wirkliche Reorganisierung der Linken stattgefunden hat. Solche Ansätze gibt es hier auch, wir müssen aber versuchen, sie gezielt zu stärken, um sie auch als Orte einer neuen Klassenpolitik zu denken: Diejenigen in dieser Gesellschaft, die nicht über private Ressourcen verfügen, um die wegfallenden sozialen Infrastrukturen zu kompensieren, sind diejenigen, die am stärksten von qualitativ hochwertigen und egalitären Infrastrukturen profitieren würden. Gleichzeitig gibt es auch in den solidarischen Mittelschichten nach wie vor das Selbstverständnis, dass so etwas wie Bildung, Gesundheit und Pflege eigentlich von der öffentlichen Hand garantiert werden müsste. Eine andere Daseinsvorsorge, die bedürfnisgerecht, demokratisch organisiert und solidarisch finanziert ist, könnte also ein Projekt sein, das gesellschaftsveränderndes Potential hat und tatsächlich relevante soziale Gruppen hinter sich versammelt.

Hannah: In den Workshops haben wir aber gesehen, dass es für die vielen verschiedenen Bereiche sehr spezielle Antworten gibt auf die Fragen der Organisierung. Vielleicht ist der erste Schritt zu einem popularen Projekt in Pflege und Gesundheit, zu zeigen, wie die verschiedenen Kämpfe aufeinander angewiesen sind - und dann konkrete Formen zu finden, wie sie sich wechselseitig stützen können.

Barbara: Organizerinnen aus den USA, die auf der Konferenz waren, haben uns immer wieder gesagt: Solche Prozesse denken wir in Zeitlichkeiten von gut 10 Jahren. Das sind wir hier in Deutschland als Bewegungslinke aber überhaupt nicht gewöhnt. Da gibt es ein Event zu dem man mobilisiert und dann kommt das nächste. Aber im alltäglichen Klein-Klein an den Auseinandersetzungen dran zu bleiben und mit den Leuten wirklich etwas aufzubauen, das ist hier bisher nur vereinzelt linke Praxis. Da muss die Linke umdenken und neue Prioritäten setzen. Große Events machen oft mehr her, die kleinen Erfolge im Alltag bleiben leicht unsichtbar. Unsere Aufgabe muss auch hier sein, das Unsichtbare sichtbar zu machen.

pf: Danke für das Gespräch.

Das Interview führte Kerstin Wolter