Alternativen zum Bestehenden

Die Macht der Vielen im Krisenregime aufbauen

Beppe Caccia
Die Macht der Vielen gegen die Austerität ...

Die kürzlich gefallene Entscheidung des portugiesischen Präsidenten Cavaco Silva, die – über die parlamentarische Mehrheit verfügenden – linken Kräfte bei der aktuellen Regierungsbildung auszuschließen, wird das Land binnen Monatsfrist in eine tiefe politische Krise stürzen. Die Begründung, die Berufung auf Europa («Es kann keine Regierung geben, die im Parlament von Kräften abhängig ist, die dafür eintreten, den europäischen Fiskal- und Stabilitätspakt abzuschaffen»), scheint zu zeigen, dass wir hier, zum zweiten Mal in nur drei Monaten, etwas erleben, das #ThisIsACoup vollkommen zutreffend beschreibt: einen offenen Bruch der formalen Verfassungsnormen, getragen von dem Bestreben, auf eine autoritäre Art die ungeschriebenen Regeln der materiellen europäischen Konstitution durchzusetzen, wie sie sich in den zurückliegenden Krisenjahren unter dem Regime der Troika verfestigt haben.

Gleichzeitig sind Gipfel- und Expertentreffen, bilaterale Verhandlungen und Zusammenkünfte der Staats- und RegierungschefInnen der EU in dichter Folge darum bemüht, eine gemeinsame Politik angesichts der so genannten «Flüchtlingskrise» zu formulieren. Ergebnis dieser hektischen Aktivitäten auf Regierungsebene ist ein instabiler und daher ständig neuen Diskussionsbedarf schaffender Kompromiss, ein – ausgehend vom effektiven Außerkraftsetzen des Dubliner Übereinkommens zum Asylverfahren – Schwanken zwischen einerseits dem Verteilen der Geflüchteten auf die verschiedenen Staaten der Union und andererseits Maßnahmen zur Schließung der Grenzen sowie zur kollektiven Abschiebung von Migranten, denen ein Asylanspruch in Europa von vornherein abgesprochen wird.

Einen Gegenpol dazu bildet im Fall Portugals etwa die Bewegung Que se lixe a Troika(«Zur Hölle mit der Troika»), die 2012 mehr als eine Million Menschen gegen die Austeritätspolitik der Regierung des Ministerpräsidenten Passos Coelho zu mobilisieren vermochte, ein Impuls, der sich letztlich im Wahlsieg der linken Parteien niederschlug; im Fall der Geflüchteten ist es die politisch wie physisch gewaltige Bewegung der vielen zehntausend Menschen auf der so genannten Balkanroute, die ungeachtet all des unaussprechlichen Leids und aller Not in der Lage waren, auf ihrem Weg alle Grenzen und Schranken zu überwinden und so die bis dato von der Europäischen Union samt ihren nationalen Regierungen verfolgte Asyl- und Einwanderungspolitik insgesamt in Frage zu stellen. Beides erinnert uns daran, dass die «Nacht der Schande», jener des 13. Juli 2015 in Brüssel, als Griechenland das Messer an die Kehle gesetzt und ein Programm verabschiedet wurde, das selbst Mainstream-Ökonomen als «undurchführbar» qualifizieren, nicht das «Ende der Geschichte» war.

Die Ereignisse in Portugal und die Bewegung der Migrantinnen und Migranten unterstreichen zumindest zwei Dinge: Erstens, dass mit dem – häufig unvorhergesehenen und auch unvorhersehbaren – Auftreten einer rebellischen gesellschaftlichen Subjektivität auf der politischen Bühne sich ein neuer Horizont öffnen kann, selbst wenn, auch vom Standpunkt der Herrschenden, das Ergebnis des Spiels besiegelt schien; zweitens, dass die Reaktionen der kapitalistischen Oligarchien, ob auf nationaler oder europäischer Ebene, sich nicht auf eine «technische» Logik oder eine praktisch und ökonomisch objektive Rationalität reduzieren lassen (und noch niemals ließen), sondern einzig Gegenstand politischer Entscheidungen sind.

Dies lässt weitere Schlussfolgerungen zu. Erstens: Die Krise, in ihren Ursprüngen global, doch in ihrem Verlauf und ihren Auswirkungen lokal, sieht das Finanzkapital und die mit diesem verbundenen Eliten immer stärker als Handelnde und immer weniger als Betroffene. Austeritätspolitik, die differenzielle Modulation ebenso außergewöhnlicher wie kontingenter Maßnahmen, ist zur «Norm» des gegenwärtigen Akkumulationsregimes geworden, genau wie die Krise zur permanenten Form der Ausübung kapitalistischer Herrschaft. Trägt dies möglicherwiese dazu bei zu erklären, wie sieben Jahre Krisenmanagement, zusammen mit der Prekarisierung des Lebens und der Arbeit, mit der Privatisierung der Gemeingüter und der öffentlichen Dienste – aufgepfropft auf dreißig Jahre Neoliberalismus – die gesellschaftliche Zusammensetzung und Subjektivität umgepflügt und zu jener extremen Fragmentierung und durch Konkurrenz geprägten Individualisierung geführt haben, mit der wir heute häufig konfrontiert sind?

Zweitens: Die große Frage der «Demokratie», auf kontinentaler Ebene weiterhin offen und ungelöst, verweist auf die allgemeinere Frage der gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse heute in Europa. Führte die zunehmende Polarisierung des gesellschaftlichen Reichtums nicht zu jener Schieflage, die letztlich den Charakter unserer (immer zeitweiligen) «Siege und Niederlagen» begründet?

Gemessen: Oszillieren zwischen autoritärer Inervention und instabilem Kompromiss

Schließlich zeigt das kontinuierliche Oszillieren zwischen autoritären Interventionen und instabilen Kompromissen, die zugleich jede Menschlichkeit vermissen lassen und deren angestrebte Lösungen sich durch Irrationalität auszeichnen, wie die europäischen Oligarchien in ihrer Governance auf der ständigen, doch vergeblichen Suche nach einem dynamischen Gleichgewicht sind. Bietet das nicht letztlich auch eine Erklärung für die offenkundige Widersprüchlichkeit vieler Entscheidungen, die Bundeskanzlerin Merkel und ihre Große Koalition treffen?

Nun ist eine Umwälzung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse darauf angewiesen, in der Krise Macht aufzubauen: «unsere» Macht, als «Vermögen der Vielen», das im Gegensatz steht zur «Herrschaft der Wenigen». Ein solches Vermögen kann einzig durch ein progressives Akkumulieren von Kräften entstehen und sich aus singulären Ereignissen speisen, die einen Bruch markieren und in der Lage sind, «demokratische Breschen» zu schlagen, um Alternativen zum Bestehenden den Weg zu öffnen. So gesehen ist jede Neuauflage einer abstrakten Trennung zwischen dem «Sozialen» und dem «Politischen» im Wortsinne entwaffnend. Vom Experimentieren mit innovativen Weisen, gesellschaftliche Konflikte auszutragen, um dem Gegner zu «schaden», bis zu Wahlen, bei denen der Stift auf dem Wahlzettel zu einer Keule wird, gilt die Suche allen möglichen Formen, die in der Lage wären, eine Hegemonie der Vielen entstehen zu lassen und der Notwendigkeit unsererseits, uns als gesellschaftliche Mehrheit zu behaupten, einen Körper zu geben.

Aus einer solchen Zielsetzung heraus sollte sich zugleich eine mögliche «Kräftekonstellation» schaffen lassen, die es vermag, die Bruchstücke einer durch sieben Jahre Krise fragmentierten gesellschaftlichen Zusammensetzung und eine neu erstandene Fähigkeit zu unmittelbar politischem Handeln, das auf vielerlei Ebenen agiert, zusammenzubringen. Es geht dabei darum, all die Elemente von «Heterogenität», all die territorialen, sozialen, kulturellen Unterschiede umzuwälzen, die bislang den Herrschenden dazu dienten, uns zu teilen, und sie in ein konstitutives vielfältiges Vermögen zu verwandeln, das sich zu verteidigen und die Herrschaft an mehreren Punkten anzugreifen gleichermaßen imstande ist. Es versteht sich dabei von selbst, dass ein solches Handeln notwendigerweise zutiefst lokal verankert und zugleich unmittelbar transnational auf europäischer Ebene agieren wird, horizontal ausgedehnt, doch in der Lage, unvermittelt und wirkungsvoll in die Tiefe zu gehen.

Die Perspektive einer Alternative zum Bestehenden wird in diesem Sinne unvermeidlich ein neues Paradigma schaffen, in dessen Mittelpunkt eine dialektische, offene und fruchtbare Beziehung zwischen praktischen gesellschaftlichen Dynamiken und Dispositiven der Regierung steht, die durch Wahlen zu erobern sind. Erstere brauchen, um wirkliche Veränderungen zu erreichen, Punkte wirkungsvoller Konkretion. Letztere indes sind ohne die Erstgenannten nicht in der Lage, eine Regierungsübernahme in eine tatsächliche Machtausübung im Sinne jener Alternative zum Bestehenden zu übersetzen. Alle Organisationsformen, die wir kennen (Parteien, Gewerkschaften, NGOs, Vereine und Verbände, soziale Bewegungen), erscheinen möglich; sie wandeln sich von Käfigen, die sich selbst und die Potentialitäten eines konstituierenden Konflikts zu beschränken drohen, zu beweglichen Instrumenten hybrider Koalitionen, dazu bestimmt, jenes vielfältige Vermögen mit hervorzubringen, das fähig ist, die bestehenden Kräfteverhältnisse umzuwälzen.

Es ist eine dringende Aufgabe, der wir uns, alle zusammen, nicht entziehen können. Daran erinnern uns die realen Kriege, die an den Grenzen Europas wüten, die Schrecken der Integralismen, die dunklen Schatten der Nationalismen und Faschismen, die in allen Ecken unseres Kontinents wachsen.

Beppe Caccia arbeitet wissenschaftlich zur politischen Ideengeschichte, gehört dem Kollektiv Euronomade[1] sowie dem Transnational Board der European Alternatives[2] an und ist im internationalen Blockupy-Bündnis aktiv.

Thomas Atzert hat den Text aus dem Italienischen übersetzt.

Links:

  1. http://www.euronomade.info/
  2. https://www.prager-fruehling-magazin.deww.euroalter.com