Ein neuer Hauptwiderspruch

Plädoyer für die Integrationspolitik als Schwerpunkt im linken Politikportfolio

Tobias Schulze

In der derzeitig aufgeheizten Debatte um die nach Europa und auch nach Deutschland Flüchtenden stehen sich zwei Positionen als Antipoden gegenüber – auf der einen wird Solidarität angemahnt - und zwar zu Recht. Zehntausende helfen, bringen Menschen nach Deutschland, in ihrer Stadt zur ÄrztIn oder zum Amt oder sie sogar bei sich selbst unter. Wir erleben eine Bewegung durch fast alle Schichten der Gesellschaft – von ÄrztInnen und AnwältInnen bis zu Arbeitssuchenden.

Auf der anderen Seite grassiert die Furcht vor jeglicher Veränderung, vor Unbekanntem und der Hass auf die Veränderer – auf eine vermeintlich „das Volk“ verratende Politik, auf die Flüchtlingshelfer_innen und vor allem auf die geflüchteten Menschen selbst.

Zwischen diesen Polen schwankt wohl die große Mehrheit der Bevölkerung: helfen? Ja klar, aber auch den AlbanerInnen, SerbInnen und den KosovarInnen? Natürlich verstehen wir jeden, der das zerbombte Syrien verlassen will, aber bringen die die dortigen Konflikte nicht mit hierher? Und nicht zuletzt die Frage: Schaffen wir das? Und wenn ja, wer hat da überhaupt was zu schaffen? Es ist nicht immer nur der Geiz und die Angst um den eigenen Wohlstand, der die Leute treibt. Es sind auch Fragen der Kultur und der Lebensweise. Insbesondere wenn diese Berührungspunkte im öffentlichen Raum – Bildungseinrichtungen, Nahverkehrsmitttel oder das eigene Wohnumfeld betreffen.

In welche Richtung das Pendel der vielen Unentschiedenen ausschlägt, das wird sich wohl in den nächsten sechs bis zwölf Monaten entscheiden. Und diese Entscheidung wird, so die These, das Klima gegenüber den Neubürger_innen prägen.

Die Rechte weiß, was sie will. Welche Strategie hat die Linke?

Das Agieren der Kanzlerin, der SPD, aber auch der Grünen zeigt Hilflosigkeit diesen Phänomenen gegenüber. CSU, AfD und Teile der Union wissen hingegen, worauf sie setzen: Ängste anheizen und die Linie der gesellschaftlichen Normen weiter in Richtung Ausgrenzung und Abschottung zu verschieben. Auf diese Weise Wählerstimmen zu fangen, ist billig: Man muss nicht handeln, sondern nur an der Demagogieschraube drehen und Ängste schüren. Irrationalität steht hoch im Kurs bei den Demagogen. Aber die Saat geht auf: In einer Umfrage befürworteten 68 % der Befragten Obergrenzen für den Zuzug von Flüchtlingen. 64 % sagten in der gleichen Umfrage, sie seien Geflüchteten noch gar nicht persönlich begegnet.

Es sind gefühlte, keine echten Notlagen der Deutschen, die von den FremdenhasserInnen jeglicher Couleur getriggert werden. Die echten Notlagen erleben andere: Geflüchtete, die ohne Dach über dem Kopf und ohne ärztliche Versorgung im Freien campieren müssen, Kommunalpolitiker_innen, die Morddrohungen bekommen, weil sie ihre Pflicht tun und Flüchtlingshelfer_innen, deren Autos von Naziterroristen angezündet werden.

Nur wenn der politische Raum angesichts der Aufgabe nicht zwischen Anbiederung an vermeintliche Kernwählerschaften und den politischen Notwendigkeiten schwankt, sondern schnell die richtigen Weichen stellt, kann eine weitere Eskalation verhindert werden. Der Fremdenhass auf den organisierten und ideologisierten Kern der rechtsextremen Szene zurückgedrängt und hier auch als rechtsterroristisch geächtet werden.

Vor das schnelle Handeln gehört aus meiner Sicht eine Erkenntnis: Die Integration von Hunderttausenden, vielleicht Millionen Menschen, die wegen Not, Verfolgung und Krieg ihre Heimat verlassen haben, braucht eine gesellschaftspolitische Wende im großen Maßstab. Die beiden Grundmodi dieser Wende - Öffnung und Teilhabe - sind gerade für die hermetische deutsche Gesellschaftsstruktur echte Herausforderungen:

  • Eine solch ungleiche Vermögensverteilung wie hierzulande macht das Abgeben zum Problem.
  • Auch Unternehmensgründungen, für migrantische Ökonomien ein wichtiger Baustein, sind vergleichsweise aufwändig gestaltet.
  • Wer ein solch selektives Bildungssystem wie Deutschland hat, produziert Verlierer.
  • Wer bereits vor der jetzigen Flüchtlingsbewegung seinen mehr oder weniger subtilen Alltagsrassismus pflegte, hat es nicht leicht mit Menschen anderer Hautfarbe.
Schlimm - dieses Neukölln.

Wohnungen statt Zäune bauen.

Deutschland war bisher kein Musterland der Vielfalt und Integration – im Gegenteil. Man hat Integrationsprobleme weitgehend ausgesessen oder blieb auf halbem Weg stehen. Und dann wird in der deutschen Provinz voller Abscheu auf Berlin-Neukölln, Hamburg-Mitte oder die Städte des Ruhrgebiets gezeigt und sich „Schlimm da“ zugeraunt – als seien die sozialen Probleme dort nicht Ausdruck eines politischen und gesellschaftlichen Versagens.

Wenn die Integration also zukünftig gelingen soll, muss man den großen Wurf wagen. Dies gilt erst recht, weil die Quantität der jetzigen Herausforderung nicht abzuschätzen ist. Wer zu Recht die Position offener Grenzen für alle Menschen in Not verteidigt, muss darauf eingestellt sein, dass viele Menschen in Not kommen - auch noch nächstes und übernächstes Jahr und die darauf folgenden Jahre. Jegliche Phantasien von einer Begrenzung der Flüchtlingsbewegung enden in einem Gewaltszenario. Das Bekämpfen der Fluchtursachen in all ihrer Vielfalt, wenn man mal von den unsäglichen Zuständen und der mangelnden Versorgung in den Flüchtlingslagern des Nahen und Mittleren Ostens absieht, ist zudem eine Aufgabe für Jahre und Jahrzehnte. Nichts spricht dafür, dass die Zahl der Geflüchteten und damit die Integrationsaufgabe kleiner werden. Da kann man noch so oft „nächstes Jahr verkraften wir diese Zahlen aber nicht mehr“ sagen. Die Gesellschaft, die Sozialsysteme, unsere Infrastruktur werden sie möglicherweise verkraften müssen. Es gibt kein Grundrecht darauf, von der Not in der Welt in Ruhe gelassen zu werden.

Nun fehlt, was auch schon vor den Millionen Geflüchteten fehlte: Wohnungen in Ballungsräumen, Sozialarbeiter_innen, Lehrer_innen, Erzieher_innen, Ärzt_innen, Polizist_innen, öffentliche Infrastruktur wie Ämter, ÖPNV, Schulen, KiTa-Plätze, Plätze in Wohneinrichtungen. Und was, wenn auch die hiesige Privatwirtschaft mal in eine Krise gerät, wie sie im südlichen und östlichen Teil Europas schon fatale Normalität geworden ist. Wie schaffen wir dann neue Möglichkeiten der sozialen Teilhabe über Erwerbsarbeit. Ohne öffentlich geförderte Aus- und Weiterbildung, vielleicht auch ohne öffentlich geförderte Jobs wird es wohl nicht gehen.

Dies alles muss schnell und in einer konzertierten Aktion der öffentlichen Hand organisiert, ausgebildet, gebaut und geschaffen werden. Zur Ehrlichkeit gehört daher auch: Wenn die Integration derjenigen, die bleiben wollen, gelingen soll, wird sie schon jetzt und schnell viel öffentliches Geld kosten. Denn in einem Jahr passiert viel: Sind Kinder in den Schulen gut aufgenommen (oder ausgegrenzt), sind Notunterkünfte aufgelöst (oder weiter überfüllt), sind Ausbildungsverträge geschlossen (oder auch nicht), sind Arbeitsplätze besetzt und Asylanträge abgearbeitet (oder eben nicht).

Pragmatismus und Solidarität - zwei Seiten der selben Medaille

Dieses Geld sollte, die Position ist bekannt, durch höhere Steuern auf hohe Einkommen und auf Vermögen sowie auf Erbschaften eingenommen werden. Im besten Fall merken nur die oberen 30 Prozent der Bevölkerung die Kosten der Integration als Minus in ihrem Geldbeutel. Möglich, dass auch DIE LINKE angesichts der Herausforderungen sozialpolitische Positionen neu austarieren muss. Die unteren 70 Prozent könnten jedoch ein Mehr an Sicherheit, Solidarität und gesellschaftlichen Zusammenhalt gewinnen, ohne materiell abzugeben.

Im schlechtesten Fall, dem des bisherigen Aussitzens und Durchwurschtelns, dem der partiellen Ghettoisierung und der Ausgrenzung, merken alle bis auf die oberen 30 Prozent, dass Integration und Vielfalt ohne die dafür benötigten Rahmenbedingungen auch scheitern kann. Hier ist nicht nur an die Moral, an Solidarität zu appellieren, sondern an einen weitsichtigen Pragmatismus.

Aber es geht bei der Frage des Gelingens oder des Scheiterns nicht nur um öffentliche Investitionen. Es geht um einen dauerhaften Modus vivendi der Integration, um das Land als Einwanderungsland, um eine Gesellschaftspolitik unter der Überschrift„Geflüchtete zu Neubürgern“. Wo bauen wir Hürden für die Integration ab? Bei Bildungsabschlüssen, beim Zugang zu öffentlichen Einrichtungen, bei Sprachenvielfalt etwa, bei der Zusammensetzung von Entscheidungsgremien. Wo fehlt es an Rechtsetzung oder -sprechung? Bei der Anwendung des Antidiskriminierungsgesetzes zum Beispiel. Gebraucht wird eine Art Normenkontrolle aus dem Blickwinkel der Integrationspolitik. Diese kann bei einem zu schaffenden Ministerium für Migration, Integration und Flüchtlinge angesiedelt sein, das eine solch strategische Agenda vorbereitet.

Es kommen gerade mehrere „erste Generationen“ zu uns – aus Syrien, aus Afghanistan, Pakistan, aus Albanien und dem Kosovo, aus Eritrea und Mosambique. Es wird zweite und dritte Generationen geben. Linke Politik sollte ihr Handlungsportfolio um einen weiteren Hauptwiderspruch erweitern: den zwischen den verzweifelten Bewahrern nationaler ethnischer und kultureller Homogenität und den Öffnern für die grenzenüberschreitende Solidarität im eigenen Land. Die soziale Frage stellt sich heute mehr denn je an den Grenzen nach Europa.