Wessen Körper, wessen Entscheidung?

Selbstbestimmung und Antieugenik in Protesten gegen fundamentalistische Abtreibungsgegner

September 2014: Marsch für das Leben in Berlin. 5.000 selbsternannte Lebensschützer_innen stehen zur Auftaktkundgebung vor dem Bundeskanzlerinamt. Die Rednerin auf der Bühne spricht über Diskriminierung von Behinderten und Ausgrenzung in einer auf Leistung orientierten Gesellschaft. Sie fordert eine Schweigeminute für die über 70.000 Menschen, die von den NationalsozialistInnen als lebensunwert erachtet und im Rahmen des Euthanasie-Programms ermordet wurden. Alle schweigen. Bis auf hunderte feministische Protestler_innen am Rande der Kundgebung, sie rufen in die Stille hinein: Hätt Maria abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben! und Kondome, Spirale, Linksradikale!

Was mit viel Wohlwollen mindestens als unglücklich bezeichnet werden muss, offenbart eine inhaltliche Lücke, die die feministischen Proteste gegen die Abtreibungsgegner seit Jahren haben: Die Lebensschutzbewegung in Deutschland fokussiert schon lange nicht mehr allein auf Schwangerschaftsabbruch. Sie positionieren sich auch gegen Pränataldiagnostik (PND), Präimplantationsdiagnostik (PID) und Sterbehilfe. Auf den Gegenmobilisierungen wird vor allem die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen gefordert – andere Themen sind jedoch kaum präsent. So gelingt es den Abtreibungsgegnern, sich als Kämpfer für Behindertenrechte und „das Leben“ — und damit als Verteidiger humaner Ideale — zu inszenieren.

Sie okkupieren damit einen Raum, den einst eine emanzipatorische Behinderten- bzw. „Krüppelbewegung“ eingenommen hat und in den nach und nach ein antieugenisch orientierter Teil der Frauenbewegung eingetreten ist. Diese Besetzung von Themen wie PND und PID aus emanzipatorischer Perspektive gilt es im Bündnis mit behinderten Aktivist_innen zurückzugewinnen. Deswegen organisierte die Gruppe „nofundi[m]ärsche[1]” im Sommer diesen Jahres eine dreiteilige Veranstaltungsreihe, die sich unter dem Titel „Die zarteste Versuchung …[2]“ mit feministischen Perspektiven auf Reproduktionstechnologien und dem Selbstbestimmungsbegriff auseinandergesetzt hat. Für die Veranstalter_innen gibt es aber noch ein weiteres Argument, das für die inhaltliche Auseinandersetzung mit diesen Themen spricht: Der Begriff der Selbstbestimmung ist mittlerweile neoliberal überformt. Ein individualisiertes Verständnis von Selbstbestimmung innerhalb der Linken und speziell innerhalb feministischer Kreise ist ein weiterer Grund dafür, warum es den Protesten so schwer fällt, dazu eine emanzipatorische Position gegen die christlichen FundamentalistInnen zu entwickeln. Mittlerweile beanspruchen fast alle gesellschaftlichen Akteure, im Namen der Selbstbestimmung zu handeln. Dieser Begriff ist daher mindestens zu bestimmen, wenn nicht sogar als politischer Kampfbegriff zu überdenken.

Die wesentlichen Diskussionsstränge der Veranstaltungen wollen wir hier in Form eines dreiteiligen Textes wiedergeben.

I “I’m starting with the Man in the Mirror” (Michael Jackson)[3]

Veranstaltung zu Selbstbestimmung mit Andrea Truman, Friederike Strack & nofundi[m]ärsche

II Rekonstruktionen & Aneignungen[4]

Veranstaltung mit Kirsten Achtelik

III Queering families?[5]

Diskussion über emanzipatorische Potentiale von Reproduktionstechnologien mit Inga Nüthen, Antje Barten, Susanne Schulz und dem Regenborgenfamilienzentrum des LSVD.

Lieber Lesbenschutz ...

Links:

  1. http://nofundimaersche.blogsport.de/
  2. http://nofundimaersche.blogsport.de/2015/07/09/die-zarteste-versuchung/
  3. https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/1259.i-i-m-starting-with-the-man-in-the-mirror-michael-jackson.html
  4. https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/1260.ii-rekonstruktionen-aneignungen.html
  5. https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/1261.iii-queering-families.html