30.10.2015

II Rekonstruktionen & Aneignungen

Veranstaltung mit Kirsten Achtelik

Marsch für das Leben 2014 in Berlin. Inklusion fängt schon vor der Geburt an, ruft der CDU-Abgeordnete und ehemalige Bundesbeauftragte für die Belange behinderter Menschen ins Mikrofon. Der Marsch sei ein Zeichen, dass es ganz viele Menschen gebe, die sich nicht damit abfinden, dass Menschen auf Grund ihrer Behinderung selektiert, ausgemerzt werden, durch Präimplantationsdiagnostik und Pränataldiagnostik.

Diese rhetorische Aneignung einer Kritik an Selektion, den die Behindertenbewegung formuliert hat, ist verhältnismäßig neu. Man müsse das auch als Versuch sehen, der Krise organisierter Abtreibungsgegnern zu begegnen, betont Autorin Kirsten Achtelik[1] in der Veranstaltung “Das Kreuz mit der Norm”. In den 1980er Jahren sind allein in Essen noch 20.000 Menschen dem Aufruf zu einem „Schweigemarsch für das Leben“ gefolgt. Der Diözesanrat des Essener Bistums wollte damals die Einrichtung eines Beratungszentrums für Familienplanung, Schwangerschaftskonflikte und Sexualität verhindern.[1] Letztlich erfolglos: Die Einrichtung feierte nächstes Jahr ihren 35. Geburtstag.

Teilnehmendenzahlen wie in Essen erreichen christliche Fundamentalisten selbst bei bundesweiter Mobilisierung heute nicht mehr. Das Thema Behinderung kam in den Diskursen der Abtreibungsgegner der 1980er Jahre nicht vor. Nicht weil es keine PND gegeben hat, sondern weil Behinderung entweder als Leid und Prüfung Gottes oder in protestantischer Tradition als Manifestation des „Widergöttlichen“ gesehen wurde. Teilweise prägt diese Sicht kirchliche Debatten bis heute. Der Ausgangspunkt des sogenannten „Lebensschutzes“ war und ist das eigene Leben in den Dienst Gottes zu stellen.

Ob Kinder oder keine …

Bis in die 1970er Jahre gab es in Deutschland keine Möglichkeit des straffreien Schwangerschaftsabbruchs. Kampagnen in Folge des ikonisch gewordenen Stern-Titels „Wir haben abgetrieben“, fokussierten sich auf die Forderung nach Streichung des § 218.

Die schließlich von der konservativen Mehrheit im Bundestag verabschiedete Fassung des § 218 sah erstmals nach 1945 Straffreiheit eines Schwangerschaftsabbruchs unter besonderen Bedingungen, u.a. bei einer wahrscheinlichen Behinderung des Kindes nach der Geburt, vor.[2] Eine Kritik der Frauenbewegung an selektiven Schwangerschaftsabbrüchen gab es zunächst nicht.

Im Gegenteil: In der zweiten Auflage des Frauenhandbuchs Nr. 1 von 1974[SG1] wurde ein Abschnitt zur Indikationslösung ergänzt. Die Austragung eines behinderten Kindes wurde dort mit der Zerstörung des Lebens von Frauen gleichgesetzt.

Die Ausbreitung prognostischer Technologien war da bereits in vollem Gange. Ende der 1970er Jahre gehörten zwei Ultraschalluntersuchungen zur Standardleistung der gesetzlichen Krankenkassen. Die Diskussionen über deren Einführung wurden durch finanzielle Abwägungen bestimmt. Den Kosten der Einführung von PND wurden die vermeintlichen volkswirtschaftlichen Kosten behinderter Kinder gegenübergestellt.

Erst in den 1980er Jahren entwickelte sich überhaupt eine Kritik an neuen Reproduktionstechnologien. Frauen aus der „Krüppelbewegung” thematisierten die Mehrfachunterdrückung als behinderte Frauen. Während nichtbehinderten Frauen der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen und Verhütungsmitteln verwehrt wurde, wurden behinderte Frauen mit der Unterstellung, sie könnten Kinder nicht versorgen, daran gehindert, Kinder zu bekommen. Die humangenetischen Beratungsstellen dienten der „Einpflanzung des Selektionsgedanken in die Köpfe“. Die militante Frauengruppe „Rote Zora“ schloss sich in ihren Bekennerschreiben der Forderung der „Krüppelfrauen“ nach Schließung der humangenetischen Beratungsstellen an, stahl Akten und verübte Brandanschläge z.B. auf das humangenetische Institut in Münster.

Die Verhaftung der früheren Emma-Redakteurin Ingrid Strobl und die Repressionswelle, nicht zuletzt die Hausdurchsuchungen bei Feministinnen sorgten dafür, dass das Thema in der Szene an Relevanz gewann.

Trotz vereinzelter Protestaktionen war die Forderung nach Abschaffung der humangenetischen Beratungsstellen umstritten. Sie fehlte zunächst in der Resolution auf dem „2. bundesweiten Kongress Frau gegen Gen- und Reproduktionstechnologien“ 1988 und wurde erst später im inoffiziellen Teil von wenigen Frauen verabschiedet

Nicht nur ständig übermüdet, sondern auch dauernd überwacht

Seitdem hat sich einiges getan. Mittlerweile durchläuft laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung eine Schwangere im Durchschnitt acht Ultraschalluntersuchungen. Als Begründung für weitere Tests wird nicht selten die Angst von Schwangeren vor einem behinderten Kind herangezogen.

Der sogenannte „PraenaTest“, der es mit einer Blutabnahme ermöglicht statistische Wahrscheinlichkeiten von Trisomie 21, 13 und 18 sowie des Geschlechts zu benennen, ist marktreif. Er kann vor der zwölften Schwangerschaftswoche angewandt werden, also noch in einem Zeitraum, in dem ein Abbruch ohne Indikation straffrei möglich ist.

Doch was heißt das für eine feministische Kritik, die für ein Recht auf Abtreibung eintritt und sich gegen Selektion wendet? Kirsten Achtelik plädierte, statt selektive Untersuchungsmethoden zu differenzieren, eher nach dem Untersuchungsziel zu fragen, also danach, ob die Gesundheitsvorsorge von Frauen im Vordergrund steht oder um die Feststellung einer Abweichung des Fötus von der Norm.

Ob diese saubere Trennung aber möglich ist, wird aus dem Publikum angezweifelt. Auch die von Achtelik zur Diskussion gestellte Einschränkung der Kostenübernahme für Techniken, die allein der Erkennung von Wahrscheinlichkeiten einer Normabweichung dienen, wird kontrovers diskutiert.

Ein anderer Einwand aus dem Publikum bezieht sich auf die Tragweite von selektiven Reproduktionstechnologien. Der Kampf gegen sie habe zwar vor allem eine symbolische Dimension. Lediglich 5 Prozent aller Behinderungen sind genetisch bedingt, der überwiegende Anteil wird z. B. durch Unfälle erworben oder entsteht bei der Geburt. Man müsse hinnehmen, dass es Angst bei Eltern vor einem behinderten Kind gibt, so ein Behindertenaktivist aus dem Publikum. Dies sei Teil eines heutigen Selbstbestimmungsbegriffes, der in der Vorstellung besteht, dass der Körper einem eigentumsgleich gehöre und damit all jene Dinge ausblendet, die vom Subjekt gerade nicht beeinflussbar sind. Nicht die Technologie ist böse, weshalb auch die Diskussion über Verbote nicht weiterführt. Die Position der Schwangeren muss gestärkt werden und zwar nicht, in dem ihnen suggeriert wird, sie könnten sich das Kind aussuchen, dass sie bekommen. Selbstbestimmung beginne, wenn sich Frauen nicht ständig reinreden lassen müssen. Und, wir als Behinderte müssen zeigen, dass wir kein anderes Leben wollen.

Verweise

[1] http://www.derwesten.de/staedte/essen/lebenslust-blieb-nicht-auf-der-strecke-id1141302.html

[2] http://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl176s1213.pdf

Links:

  1. http://www.verbrecherverlag.de/book/detail/797