Mit Sicherheit unsicher

Eine materialistische Perspektive auf Sicherheitspolitik

Anna Kern

Die Anschläge auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo im Januar 2015 und anschließend auf die Pariser Clubs markieren den Meilenstein einer neuen Konjunktur der sicherheitspolitischen Diskussion in Europa. Längst zählen nicht mehr nur verschiedene „terroristische” Gruppen und „gefährliche“ Staaten als sicherheitspolitisches Problem, sondern – und gerade – nicht zu kontrollierende Individuen und „Einzeltäter“, die u.a. innerhalb der durch die weltweiten Kriege und Ausbeutung initiierten Flüchtlingsbewegungen vermutet werden. Die praktische Konsequenz: Großevents wie die Silvester-Feuerwerke in Brüssel und Paris werden abgesagt, in München werden Bahnhöfe geschlossen, der Ruf nach Sicherheit ist wieder laut und präsent.

War die sicherheitspolitische Diskussion nach 9/11 gerade etwas abgeflaut, erlebt sie nun ihr fulminantes Comeback. Die durch Wikileaks, NSA und NSU-Affäre gebeutelten Geheimdienste sind zurück auf den politischen Bühnen, Politikerinnen und Politiker werden wieder vermehrt an ihrer Fähigkeit Sicherheit im Land herzustellen gemessen, Polizist/innen und Militär bestreifen wahrnehmbar bewaffnet den öffentlichen Raum. Der Ruf nach klaren Lösungen und entschlossenen Antworten ist laut.

Dabei müsste längst klar sein, dass das mit der Sicherheit leider nicht so einfach ist. Denn die Sicherheit der einen ist meistens nur auf Kosten der Sicherheit der anderen zu haben. Fliehen Menschen vor Krieg und Armut, wächst die gefühlte Bedrohung in den Zielländern. Plötzlich geht es dann nicht mehr um DIE Sicherheit, sondern darum, wessen Sicherheit wo wieviel wert ist. Und überhaupt: wie war das noch mit dem Unterschied zwischen objektiver und gefühlter Sicherheit? Dieser Kontext markiert die Herausforderungen, denen sich auch eine „progressive Sicherheitspolitik“ stellen muss.

Aber beginnen wir am Anfang. „Sicherheit“ ist bereits in der frühen politischen Theorie das zentrale Thema. Die Philosophen der Aufklärung etablierten sie als erstrebenswerten, der anarchischen und gewaltförmigen Urgesellschaft vorzuziehenden, bürgerlichen Wert und als Letztbegründung der Organisation des bürgerlichen Staates. In ihrer Perspektive übertragen die Staatsbürger ihr individuelles Recht auf Gewaltausübung auf den Staat und erschaffen so den Gewaltmonopolisten. Der hat die zentrale Aufgabe mittels der Androhung oder Anwendung von Gewalt eine allgemeine, objektive Sicherheit für die Bürger herzustellen. Das gilt für „Staatsfeinde“ nach innen ebenso wie für den Umgang mit Bedrohungen, die außerhalb des Staates liegen. Während die Gewalt im Staatsinneren als weitgehend domestiziert gilt, zählt das anarchische internationale Staatensystem als gefährliche Umgebung, in der Staaten um Territorien, Ressourcen, etc. konkurrieren. Sicherheit und Macht gehören in dieser Vorstellung bereits untrennbar zusammen, Sicherheit bedeutet hier die Abwesenheit von Gewalt und die Sicherheit von Privateigentum als Grundlage der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft (statt vieler: vgl. Hobbes 1651 (2011)).

Für das Zusammenspiel von Sicherheit und Macht interessieren sich, wenn auch vor dem Hintergrund einer völlig anderen theoretischen Grundlage, ebenfalls die Poststrukturalist/innen im Anschluss an den französischen Historiker Michel Foucault. Sie identifizieren Sicherheit als ein Dispositiv, d.h. eine Regierungstechnik, die auf die Kontrolle und Regulierung der Bevölkerung zielt. Sicherheit ist hier also kein Zustand, sondern sie schreibt sich als Modus und Prozess der Legitimation verschiedener Praxen in die Konstitution der Gesellschaft ein. Anhand einer historischen Rekonstruktion der Bedeutung von Sicherheit zeigen verschiedene Poststrukturalist/innen so, dass diese und das Bedürfnis nach ihr keineswegs naturgemäß gegeben ist, sondern vielmehr gesellschaftlich konstruiert wird und Veränderungen unterliegt. Was Sicherheit jeweils spezifisch bezeichnet, hat demnach sehr viel damit zu tun, was als unsicher gilt. Gleichzeitig verweist diese Analyse auf die zentrale Bedeutung von Praxen der Sicherheit für die Herstellung und Regulierung von Gesellschaft und ihrer Subjekte (vgl. Lemke o.J; Lemke o.J.b).

Diese Bedeutung und die damit zusammenhängende enorme legitimatorische Macht von (Un)Sicherheit kennt auch die Kriminalsoziologie. Da sie aber zwischen verschiedenen Klassen und Schichten in der Bevölkerung differenziert, gibt sie der anonymen Macht der Poststukturalist/innen darüber hinaus konkrete Akteure. Sie zeigt damit, wie „Sicherheitspolitiken“ und die Definition ihrer Adressaten und Strategien mit der Etablierung und Aufrechterhaltung von Machtstrukturen zusammenhängt.

Dabei stellen die meisten Arbeiten keineswegs einen einfachen Zusammenhang zwischen dem „Block an der Macht“ und Sicherheitspolitik her, sondern entwickeln in Anlehnung an verschiedenen Modernisierungs- und Rationalisierungstheoreme komplexe Analysen. So haben sich mit der Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft und ihrer Steuerungsmechanismen auch die Orte, Akteure und Mechanismen von Sicherheitspolitik vervielfältigt. Eine extrem kleinteilige Betrachtung zeigt hier, dass auf dem sicherheitspolitischen Terrain zwar nur wenige hegemoniale Strategien miteinander konkurrieren, sie sich jedoch aus einer Vielzahl, teilweise auch gegenläufiger Praxen, verschiedenster Akteure an unterschiedlichen gesellschaftlichen Orten konstituieren (Legnaro 1997, Singelnstein / Stolle 2008, Kern 2016).

Die Sicherheit des einen, ist nicht unbedingt die des anderen. Besonders, wenn sie Eigentum betrifft.

Was ist also Sicherheit und welche Bedeutung haben sicherheitspolitische Praxen? Angelehnt an Hubert Beste: Sicherheit ist eine Chiffre für gesellschaftliche Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit über die Einrichtung der Gesellschaft (Beste 2000). Es ist besonders wirkmächtig, weil das Bedürfnis nach Sicherheit als ein „natürliches“ Bedürfnis gilt, und sicherheitspolitische Praxen sich damit oft über jede Kritik erheben und immun werden für eine grundlegende Kritik. Die sicherheitspolitischen Diskussionen knüpfen in diesem Sinne an als natürlich definierte Ängste an und gelten so als besonders legitimierend für weitgehende Einschränkungen politischer Freiheitsrechte. Sie sind ein zentraler Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft, haben mit der Zeit ihre eigene Logik entwickelt und schreiben diese permanent fort. Auf diese Weise sind sie Teil der Herstellung gesellschaftlicher Normalität und tragen zur Normierung der vielen sicherheitspolitischen und regulatorischen Praxen bei (Kern 2016).

Linke und progressive Praxen haben sich in diesem Feld sehr lange in einer Fundamentalopposition, bzw. der Kritik der Sicherheit im Namen der Freiheit und einer Verurteilung von Kriegen erschöpft. Diese Position ist wichtig, weil sie eine Gegenposition zur hegemonialen sicherheitspolitischen Strategie markiert. Sie ist aber gleichzeitig nicht ausreichend, weil sie sich zum einen in der Skandalisierung und kulturpessimistischen Vorhersagen erschöpft („1984!“) und andererseits die durch die prekäre Vergesellschaftung der kapitalistischen Produktionsweise produzierten individuellen Ängste und Befürchtungen nicht ernst nehmen kann. Ein erster Schritt einer Debatte über eine „progressive Sicherheitspolitik“ wäre es hier zu zeigen, dass Ängste und Bedürfnisse niemals naturgegeben sind, sondern gesellschaftlich konstruiert werden und erst so ihre Materialität erhalten. Ein kluger Materialismus versteht die prekäre kapitalistische Vergesellschaftung als Kontext dieser Ängste und Bedürfnisse, einer plumpen Gegenüberstellung von Freiheit und Sicherheit wäre dann eine Verständigung über die Demokratisierung von Sicherheitspolitiken vorzuziehen. Diese ist sich über deren herrschaftliche Momente bewusst, nimmt die Materialität von Sicherheitsbedürfnissen aber zur Kenntnis und ist sich nicht zu schade, die Gewaltförmigkeit dieser Vergesellschaftung zu diskutieren, ohne in die Skandalisierungsfalle zu tappen. Nur so kann sie sich spezifische Gestaltungsmacht verschaffen und erhalten, ohne auf ihr kritisches Potenzial zu verzichten.

Anna Kern ist Politologin und hat in Marburg über „Urbane Sicherheitsregimen im Neoliberalismus“ promoviert.

Literatur:

Beste, Hubert (2000): Morphologie der Macht. Urbane „Sicherheit“ und die Profitorientierung sozialer Kontrolle. Opladen: Leske + Budrich.

Hobbes, Thomas (2011): Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Teil I und II. Berlin: Suhrkamp.

Kern, Anna (2016): Produktion von (Un-)Sicherheit – Urbane Sicherheitsregime im Neoliberalismus. Münster: Westfälisches Dampfboot (im Erscheinen).

Legnaro, Aldo (1997): Konturen der Sicherheitsgesellschaft: Eine polemisch-futurologische Skizze. In: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft 1997, S. 271–284.

Lemke, Thomas (o.J.): Gouvernementalität. Online verfügbar unter http://www.thomaslemkeweb.de/publikationen/Gouvernementalität _Kleiner-Sammelband_.pdf[1]; zuletzt geprüft am 19.10.2010.

Lemke, Thomas (o.J.b): Eine Kultur der Gefahr - Dispositive Der Unsicherheit. Online verfügbar unter www.thomaslemkeweb.de/publikationen/EineKulturderGefahr.pdf[2]; zuletzt geprüft am 19.10.2010.

Singelnstein, Tobias; Stolle, Peer (2008): Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Links:

  1. http://www.thomaslemkeweb.de/publikationen/Gouvernementalität _Kleiner-Sammelband_.pdf
  2. http://www.thomaslemkeweb.de/publikationen/EineKulturderGefahr.pdf