Wer verliert, wenn Sicherheit siegt?

Kann es eine linke Sicherheitspolitik geben

Mark Neocleous

Die bürgerliche Moderne rückt Sicherheit in den Mittelpunkt. Von Thomas Hobbes bis David Cameron: Diese Tradition beginnt in der bürgerlichen politischen Theorie und reicht bis zur ständigen Wiederholung von Sicherheit durch zeitgenössische PolitikerInnen. Von Hobbes stammt die Idee, dass der einzige Ausweg aus der Unsicherheit des Naturzustands der Gehorsam zum Leviathan ist, von dem im Gegenzug Sicherheit erwartet werden kann. Der Staat rückt damit in den Mittelpunkt als Lieferant des einen Gutes, das alle Menschen vermeintlich begehren, Sicherheit. Von Hobbes zu Cameron: In seiner Weihnachtsbotschaft behauptete der britische Premierminister, „wenn es eine Sache gibt, die sich Menschen zu Weihnachten wünschen, ist es die Sicherheit, ihre Familie um sich herum und ein sicheres Heim zu haben.“ Von Hobbes Schilderung, warum wir den Naturzustand verlassen bis zu Camerons Darstellung, was wir uns alle zu Weihnachten wünschen: Sicherheit, Sicherheit, Sicherheit.

Cameron und der Antanztrick in der Downingstreet

Im Angesicht der Allgegenwart der Metapher Sicherheit käme man leicht auf den Gedanken, dass sich auch die Linke in diesem Feld positionieren müsste. „Gibt es eine linke Sicherheitspolitik?“, wurde ich von der Redaktion dieses Magazins gefragt.

Ich glaube, dass eine solche weder wünschenswert noch möglich ist. Wenn Sicherheitspolitik von der Linken formuliert werden soll, kann nur eine Abfolge von Plattitüden dabei herauskommen. Vier seien hier genannt, auch wenn diese sich teilweise überschneiden:

  • Die erste Banalisierung problematisiert die Unterscheidung zwischen Staat und privatem Sektor und führt die Klage der „Privatisierung“ von Sicherheit. Ganz so, als wäre alles in Ordnung, so lange Sicherheit nur irgendwie vom Staat monopolisiert würde.
  • Der zweite Ansatz arbeitet mit dem Konzept der „Abwägung“. Sicherheit sei wichtig, müsse aber gegenüber anderen Gütern wie Freiheit, Datenschutz oder Demokratie abgewogen werden.
  • Der dritte Zugang verweist auf ironische Aspekte von Sicherheitspolitik, wie dem Umstand dass jedes Jahr mehr Menschen in der Badewanne ertrinken, als durch terroristische Anschläge sterben. Dieser Ansatz macht geltend, dass sobald wir die Absurdität der derzeitigen Sicherheitspolitik erkennen, in der Lage wäre, eine rationale und weniger verheerende Sicherheitspolitik anzustreben, die auf weniger Panikmache zielt.
  • Zu guter Letzt gibt es einen vierten Ansatz, der auf die diskriminierenden Praktiken der derzeitigen Sicherheitspolitik verweist und vorschlägt, eine nichtdiskriminierende Sicherheitspolitik zu entwickeln, die nicht auf den Ausschluss von Minderheiten zielt.

Das immanente Problem all dieser Ansätze ist, dass sie implizit die Position von Hobbes-Cameron mit der Annahme eines universellen Begehrens nach Sicherheit, übernehmen. Sie nehmen an, dass eine „wirkliche“ Sicherheit auf dem Spiel steht, die erreichbar sei, wenn Sicherheitspolitik besser organisiert wäre, bessere oder vernünftigere Ziele verfolgte, weniger diskriminieren und nicht den Wirtschaftsinteressen der Sicherheitsindustrie folgen würde. In anderen Worten: Sie nehmen an, dass Sicherheit wirklich ein universelles Gut ist, das mit der richtigen Politik erreicht werden könnte. Wenn man diese Annahme teilt, siegt Sicherheit immer. Wenn aber Sicherheit siegt, wer verliert dann?

Sicherheit als Leitmotiv der bürgerlichen Moderne

Um den Siegeszug der Sicherheit zu verstehen, muss man Sicherheit als Leitmotiv der modernen bürgerlichen Gesellschaft begreifen. Man braucht dafür einen Begriff von den Sicherheit innewohnenden Verbindungslinien zwischen Staat und Kapital.

Eine kritische Perspektive auf Sicherheit versteht sie nicht als universellen Wert, sondern als einen von Kapital und Staat eingesetzten Mechanismus. Dieser Einsatz von Sicherheit ist wesentlicher Bestandteil einer breiteren Politik der Angst, die der bürgerlichen Moderne zu Grunde liegt. (Der Ausgangpunkt bei Hobbes ist die Angst, die im Naturzustand herrscht und die, sobald der Leviathan etabliert ist, durch eine andere Angst ersetzt wird: einer Angst vor echten und eingebildeten Feinden.)

Weit entfernt davon etwas zu sein, das je erreichbar wäre, existiert Sicherheit als Möglichkeit, Dinge in ihrem Namen zu erreichen. Sicherheit ist ein Mechanismus der erlaubt zu mobilisieren, zu überwachen und zu bestrafen. Mit anderen Worten: Sicherheit ist ein machtvolles Instrument zur Herstellung gesellschaftlicher Ordnung.

Die Macht von Sicherheit liegt im sogenannten „Zeitalter der Menschenrechte“ darin, als das wichtigste aller Rechte präsentiert zu werden. Laut der Vereinten Nationen sind „Leben, Freiheit und Sicherheit“ Grundrechte aller Menschen. Dieser Anspruch wiederholt lediglich den revolutionären Menschenrechtsdiskurs des 18. Jahrhunderts. Ein Denker, der die Implikationen dieses Anspruchs erkannte, war Karl Marx. Bei der Entwicklung seiner Kritik des Rechtsdiskurses in den 1840er Jahren erörterte er die Vorannahmen der genannten Rechte: Das Recht auf Freiheit, als Recht des auf sich beschränkten Individuums zur »Absonderung des Menschen vom Menschen«. Das Menschenrecht der Freiheit als Anwendung des Menschenrechts auf Privateigentum.

Es sind diese Beobachtungen die Marxens Bemühungen an einer Kritik der Politischen Ökonomie erst in Gang setzen. Bemerkenswert ist jedoch, was er über den Stellenwert von Sicherheit in der Deklaration der Menschenrechte sagt: »Die Sicherheit ist der höchste soziale Begriff der bürgerlichen Gesellschaft […] die ganze Gesellschaft [ist] nur da, um jedem ihrer Glieder die Erhaltung seiner Person, seiner Rechte und seines Eigentums zu garantieren.« Für Marx wird die bürgerliche Gesellschaft durch das Konzept der Sicherheit nicht ihres Egoismus enthoben. Im Gegenteil, es stellt diesen erst sicher. Sicherheit ist Fundament und Überbau der anderen egoistischen Rechte, die mit der bürgerlichen Moderne verbunden werden — Freiheit, Gleichheit, Privateigentum — und die den bürgerlichen Egoismus garantieren sollen.

Marx führt diesen Punkt nie weiter aus, aber ich denke, wenn wir einen Gedanken ernstnehmen, den er in der selben Zeit formuliert hat, dann ist unsere Aufgabe nicht, die Welt in einer Weise zu verändern, wie sie von jenen Sozialisten angestrebt wird, die für alles einen detaillierten politischen Plan entwerfen wollen. Wenn stattdessen die Aufgabe eine schonungslose Kritik alles bestehenden ist, dann bestände diese schonungslose Kritik derzeit in einer Kritik der politischen Religion „Sicherheit“. Eine solche Kritik müsste „Sicherheit“ neben die Kritik des Kapitals und seiner Fundamente stellen.

Sicherheit als Ware und Produktionsmittel

Sicherheit ist hochproduktiv. Die Nachfrage nach Neuem — neuen Märkten und neuen Erfindungen — bedeuten ständige Unsicherheit und Verunsicherung. Kapital benötigt eine ständige Umwälzung der Produktionsmittel und der Produktionsverhältnisse und damit auch aller sozialen Verhältnisse. Das Kapitalverhältnis ist damit ein Zustand grundlegender und dauerhafter sozialer Unsicherheit, aus der eine Politik der Sicherheit folgt.

Um produktiv für das Kapital zu sein, muss Sicherheit zunächst in eine Ware verwandelt werden. Marx stellt fest, dass ein Ding sobald es Ware wird, seiner sinnlichen Eigenschaften beraubt wird und stattdessen einen mystischen Wert erhält. Wenn dies für Waren im Allgemeinen zutrifft, so hat Sicherheit als Ware einen zusätzlichen Vorteil, da sie scheinbar ein menschliches Grundbedürfnis befriedigt. Marx‘ Argument ist aber, dass Warenproduktion von vornherein keine triviale oder leicht durchschaubare Angelegenheit ist. Der Versuch die Umrisse der Produktion der Ware Sicherheit zu erkennen, bringt uns zum Kern des Prozesses, der Sicherheit als Fetisch in warenförmige soziale Beziehungen einschreibt.

Sichheit als Ware

Das ist die Grundlage der Sicherheitsindustrie. (Die Terrorismusindustrie, die seit mittlerweile zwei Jahrzehnten eine Hochkonjunktur erlebt, ist nur ein Teil einer viel größeren und älteren Sicherheitsindustrie.) Die Sicherheitsindustrie betätigt sich weder in ihrem Feld, weil es ihr darum ginge Unsicherheit zu bekämpfen, noch weil sie an „sozialer Kontrolle“ oder „Überwachung“ interessiert wäre. Stattdessen ist ihr Interesse viel weltlicher: Profit erwirtschaften. Um Profit zu erwirtschaften, muss die Sicherheitsindustrie Sicherheit verkaufen. Und um Sicherheit verkaufen zu können, muss sie mit existierenden Ängsten spielen und neue Befürchtungen und Unsicherheiten schaffen. Sie muss nicht zuletzt den Eindruck erwecken, dass all diese Ängste und Befürchtungen sehr real seien und man in irgendeiner Art und Weise mit Ihnen umgehen müsse.

Wie jede andere Industrie ruft die Sicherheitsindustrie die Konsumenten als souveräne Subjekte an („Der Kunde ist König“). Sie ruft sie aber auch als besorgte Subjekte an („Der Kunde ist unsicher“). Somit spielt die Sicherheitsindustrie eine Schlüsselrolle bei der Herstellung einer viel umfassenderen Kultur der Angst und Unsicherheit, die genutzt wird, um den Sicherheitsstaat zu stützen. Auf der einen Seite nutzt der Staat Ängste, um Unterstützung für das Projekt nationale Sicherheit zu erhalten. Auf der anderen Seite zielt die Sicherheitsindustrie darauf, Angst in Warenkonsum zu verwandeln. Wo der Staat regelmäßig immer neue „Lösungen“ in Form von sicherheitspolitischen Maßnahmen anbietet, offeriert die Sicherheitsindustrie immer mehr warenförmige „Lösungen“, schließlich werden immer mehr Waren als Lösungen für die eine oder andere Bedrohung vermarktet.

Somit verfestigt die Sicherheitsindustrie mit ihrem vermeintlichen Sorge um die Menschen und deren Sicherheit beides: Die Sicherheitslogik und die Logik der Warenform.

Die Trügerischen Versprechen der Sichheitsreligion

In dem Ausmaß wie Staat und Kapital von der Herstellung von Sicherheit abhängen, müssen sie sicherstellen, dass diese Sicherheit niemals erreicht wird. Insofern müssen Sicherheitsindustrie und Sicherheitsstaat die Bürger-Subjekte regelmäßig in Bezug auf ihre Versprechungen täuschen. Der Wechsel wird aufs immer Neue verlängert, was enthüllt wie illusorisch das Versprechen ist: Sicher ist nur, dass das Ziel nicht erreicht werden wird. Sicherheit ist illusorisch. So wie Religion einst eine illusorische Sonne war, von der es einst hieß, die Welt kreise um sie, so ist Sicherheit die illusorische Sonne, von der uns gesagt wird, dass sich alle Politik um sie herum drehen müsse. Sicherheit ist eine Illusion, aber eine, von der in Vergessenheit geraten ist, dass sie eine solche ist.

In dieser Hinsicht verlangt Sicherheit die Anerkennung ihrer selbst als Sicherheit und von allen Dingen, die in ihrem Namen getan werden sowie aller Dinge, die sie als besonders schutzbedürftig erachtet: Eigentum, Warenhandel, Gesetz und Ordnung. Sicherheit will uns weismachen, das nichts anderes als Sicherheit als erstrebenswert gelten kann oder zumindest, dass nichts, was als erstrebenswert betrachtet werden kann so gut ist, wie Sicherheit. Darüber hinaus will sie uns weismachen, dass alles was gut ist, auch sicher sein muss. Sie unterwirft die Menschen und maskiert die tatsächliche Verarmung menschlichen Lebens. Schlimmer noch, sie lässt diese Verarmung als sicherungsbedürftig erscheinen. Sicherheit ist somit die Ideologie par excellence für das weltumspannende Herrschaftssystem, in dem sich Bewegungen und Individuen fürchten müsse, sobald sie schuldig befunden werden, die Grenzen von Sicherheit und deren Imperativen überschreiten zu wollen. Deshalb ist Sicherheit so begierig: Es ist nahezu unmöglich die vielen Ansprüche, die Sicherheit an uns stellt und die immense Arbeit, die Sicherheit permanent an uns ausrichtet, zu entschlüsseln. Eine Arbeit, die immer neue Ansprüche an uns als Subjekte richtet, indem sie neue Gesetze schafft durch die wir vermessen werden, neue Zielsetzungen postuliert, die wir anstreben sollen und neue Mechanismen kreiert durch die Hoffnungen und Träume durchkreuzt werden.

Teil dieser Unterwerfung ist, dass Sicherheit ohne Gegenüber existieren möchte. Sie will jeden Widerspruch eliminieren und jede Rebellion unterdrücken, bevor Widerspruch und Rebellion überhaupt begonnen haben. Wir sollen uns vor ihr beugen, ohne zu fragen warum und wofür. Jeder Widerspruch gegen Maßnahmen — nicht zuletzt der Wirtschaftspolitik — die von den Mächten ausgeführt werden, die uns Sicherheit versprechen, werden entweder selbst mit Sicherheitsmaßnahmen der gewaltvollen Art beantwortet — mit Tränengas und Taser, mit Knüppel und Wasserwerfer. Oder sie treffen auf die Erwartung, dass jede Vernunft sich vor ihnen erniedrigen muss. Alle kritische Wissenschaft hat zur Seite zu treten, wenn unsere führenden Verteidiger der Sicherheit uns auffordern zu schweigen, zuzuhören und zu gehorchen.

Freiheit vor Sicherheit? Undenkbar.

Jene, die gegen die Spar- und Austeritätspolitik kämpfen, werden als Gefahr für die nationale Sicherheit behandelt. (Jüngstes Beispiel war Jeremy Corbin. Gleich nachdem er zum Vorsitzenden von Labour gewählt wurde, wurde er zum Sicherheitsrisiko erklärt.) Können wir Freiheit gegenüber Sicherheit den Vorrang geben? Nein. Niemals! Und denke niemals über ein so ambitioniertes Projekt wie die Emanzipation des Menschen nach.

Fern jeder Emanzipation verlangt Sicherheit nichts anderes als absoluten Gehorsam. Die Anerkennung von Sicherheit als das alle politische Grundsätze überragende Prinzip und der Idee, dass Sicherheit das Fundament jeder Politik sei, dass sie Ausgangspunkt allen politischen Denkens und Grundlage des Schutzes des Staates sei bzw. das, was wir uns zu Weihnachten wünschen, ist nichts anderes als die Forderung nach Gehorsam.

Was stellt dieser Gehorsam im Namen der Sicherheit her? Die Antwort ist nicht schwer: Gehorsam selbst. Gehorsam produziert Gehorsam, wie Foucault einst über das, was er „Pastoralmacht“ nennt, schrieb. Es handelt sich um ein selbstreproduzierendes System des Gehorsams: Man akzeptiert den Grundsatz der Sicherheit, um gehorsam zu werden und reproduziert diesen Zustand des Gehorsams im Streben nach dem mythischen Zustand von Sicherheit. Das ist genau der Punkt auf den Hobbes im letzten Absatz des Leviathan anspielt: Sicherheit, somit Gehorsam. Das ist genau der Punkt, den alle gegenwärtigen PolitikerInnen meinen, wenn sie die Sprache der Sicherheit sprechen. Und es ist derselbe Punkt, den alle Diskurse und politischen Maßnahmen bezüglich des Terrorismus implizieren: Was ist Anti-Terrorgesetzgebung anderes als ein Ruf nach Gehorsam?

Gehorsam wird dadurch zu einem dauerhaften Seinszustand, zur Staatsraison, die vom Staat aus Gründen der Sicherheit verlangt werden kann. Unsere Gehorsamsübung wird dadurch zu einer Einübung der politischen Ordnung. Und im Angesicht der Verbindung von Sicherheit und Warenform ist das, wofür wir gehorsam gemacht werden nichts anderes als die Unterwerfung unseres Lebens unter das Kapital.

Die Implikationen für die Linke sind groß. Die Logik der Sicherheit verlangt von uns, dass wir uns nicht darauf konzentrieren Geschichte zu machen, sondern die kapitalistische Gegenwart sicherer zu machen. Sicherheit verlangt, dass wir uns unserem kapitalistischen Schicksal beugen, sie verlangt aber auch dass wir es als unser Schicksal akzeptieren, uns vor der Sicherheit zu beugen. Auf dieser Grundlage sollte die Linke nicht darüber nachdenken eine eigene Sicherheitspolitik zu entwickeln. Stattdessen sollte sie über eine Politik nachdenken, die über Sicherheit hinausweist.

Mark Neocleous ist Professor für Kritik der Politischen Ökonomie an der Brunel University und Redakteur von Radical Philosophy.[1] Übersetzung aus dem Englischen: Stefan Gerbing.

Links:

  1. https://www.radicalphilosophy.com