Feindliche Brüder im Geiste

Über die strukturellen Gemeinsamkeiten von fundamentalistischem Terror und rassistischer Gewalt

Katja Kipping
Und hier das Gegenteil: Freundliche Brüder im Geiste

Überall auf der Welt – und quer zu allen „Kulturen“, von christlich-evangelikal über russisch-orthodox bis hin zu islamistischen Kreisen – ist ein Anwachsen reaktionärer Bewegungen zu beobachten, die im Namen von Kultur und Religion in die Schlacht gegen die jeweils „Anderen“ ziehen wollen. Der christlich-fundamentalistische Terror des extrem rechten Anders Breivik und der islamisch-fundamentalistische Terror von Paris und Kopenhagen ähneln einander wie feindliche Brüder.

Die grausamen Anschläge zum Beispiel in Paris und die Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, kurzum Rassismus und religiöser Fundamentalismus, bedingen einander. Beide basieren auf der Verachtung von Menschenleben, beide missachten Demokratie und Menschenwürde, und beide verstärken sich gegenseitig. In einem verschärften gesellschaftlichen Klima fällt es Fundamentalisten leichter, neue Kämpfer zu gewinnen. Wo jedoch Weltoffenheit und Menschlichkeit dominieren, hat es auch die fundamentalistische Propaganda deutlich schwerer. Oder wie es der arabische Demokratie-Aktivist Lyad El-Baghdadi in einem Tweet auf den Punkt brachte: „You know what pissed off Islamist extremists the most about Europe? It was watching their very human, moral response to the refugee crisis.” Was die Extremisten also am meisten genervt hat an Europa, war die menschliche und moralische Reaktion vieler Menschen an den Bahnhöfen auf die Flüchtlingskrise im Sommer 2015.[1]

Auch der Franzose Nicolas Hénin teilt diese Einschätzung. Hénin wurde zehn Monate lang vom IS als Geisel gehalten; in dieser Zeit konnte er die Denkweise der IS-Mitglieder beobachten. Er berichtet davon, dass die Fundamentalisten obsessiv die Nachrichten verfolgen, doch diese anders interpretieren als wir.[2] Seiner Einschätzung zufolge haben gerade die Bilder von Deutschen, die MigrantInnen am Bahnhof begrüßten, sie besonders gestört. Grenzübergreifenden Zusammenhalt und Toleranz – das wollen sie gerade nicht sehen. Sein Fazit lautet: Sie fürchten unsere Einheit mehr als unsere Bombenangriffe.

Mit ISIS einer Meinung: Muslime sollen nicht in Deutschland leben. Mob in Heidenau

Also stellen wir uns der Tatsache: Fundamentalistischer Terror und rassistische Mobilisierungen schaukeln sich gegenseitig hoch. Wenn infolge von Terroranschlägen der Islam-Hass wächst und Muslime noch mehr Abwehr erleben, haben es Terrorbanden leichter, neue MitstreiterInnen für ihren Kampf zu finden. Auch Terror und Militarisierung verstärken sich gegenseitig. Die militärische Mobilmachung von Nato-Staaten in Reaktion auf Terroranschläge ist in den perfiden Rekrutierungsplänen der Terrorbanden eingeplant. Wo Bomben fallen, sterben schließlich immer auch Unschuldige. Und wer einen geliebten Menschen durch westliche Bomben verloren hat, ist womöglich eher ansprechbar für die antiwestliche Propaganda des IS. Wir befinden uns also mitten in einer Eskalationsspirale aus fundamentalistischen Terror, militärischer Mobilmachung und rassistischer Mobilisierung.

Armeen von Sozialarbeitern statt Bomben

Zumal die „Terrordividende“, wie die Auswirkung von Attentaten wie denen in Paris zynisch genannt wird, ausgerechnet jenen rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen zugutekommt, die an einer weiteren Eskalation des Kulturkampfs arbeiten. Der Backlash, also der Rückschritt im Namen von Kultur und Religion, ist ein schmerzhaftes Symptom einer Modernisierungskrise. Die fundamentale Umwandlung der Weltordnung nimmt viele Menschen einfach nicht mit. Als Identitätsrettung bieten sich dafür – wie Georg Seeßlen schreibt – zwei Konstrukte an, „die objektiv so überflüssig werden, wie sich so manche Menschen subjektiv fühlen: Nationalismus und religiöser Fundamentalismus.“[3]

Die Anschläge von Paris im November 2015 haben das nochmal deutlich gemacht. Die identifizierten Attentäter sind junge Franzosen zwischen 20 und 31 Jahren mit arabischem Migrationshintergrund, die in den Vororten von Paris und Brüssel aufwuchsen und lebten. Sie hielten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser oder waren erwerbslos. Mindestens einer war bereits durch Kleinkriminalität aufgefallen. Mehrere hatten mit ihren Familien gebrochen.

Das bedeutet sozialpsychologisch, wie Caroline Fetscher treffend beschreibt: Das „Gros der jungen Männer, die solche Attentate begehen, zeichnet sich durch einen Mangel an gesellschaftlichem Status aus, einen Mangel an Ich-Stärke, an Souveränität, an Bildung und an Distanzvermögen. Intrapsychisch sind die Pendants dazu am Werk, ein quälender Überschuss an Abwertung, Ich-Schwäche, Reizüberflutung, Desorientiertheit. Negative, innere Instanzen senden die Signale: Du bist wenig wert, wirst nicht gewollt, kannst und weißt nichts.“[4]

Selbstverständlich ist das keine Rechtfertigung für den Terror, dafür kann es keine Rechtfertigung und keine mildernden Umstände geben. Aber das Wissen um die Entstehungsbedingungen des Terrors könnte ein Ansatz für eine erfolgreiche Gegenstrategie sein. Schließlich stellt selbst die konservative Neue Zürcher Zeitung fest: „Immer mehr verdichtet sich der Verdacht, dass die in der Vorstadt herrschenden Lebensumstände die Radikalisierung junger Leute begünstigen – bis zu dem Punkt, an dem sie ihrer eigenen Gesellschaft, dem eigenen Land den Krieg erklären.“[5]

Wer Terror bekämpfen will, sollte also eher auf Armeen von Sozialarbeitern statt auf Bomben setzen.

Schleichender Legitimitätsverlust

Klar ist zugleich auch: Fundamentalistischer Terror und rassistische Gewalttaten sind nur die Spitze des Eisbergs. Schon seit einiger Zeit ist in unserer Gesellschaft insgesamt ein schleichender Legitimitätsverlust politischer Institutionen festzustellen. Dieser Legitimitätsverlust verweist letztlich auf die „multiple Krise“ des neoliberalen Gesellschaftsmodells, das beständig Menschen ausschließt.[6] Die aktuellen Zuspitzungen der gesellschaftlichen Verhältnisse sind also insgesamt ein Krisensymptom des neoliberalen Kapitalismus. Denn ein selbsttragender Wirtschaftskreislauf fehlt, stattdessen dominieren kurzfristige Profitinteressen, Klimakatastrophe, Prekarisierung, geopolitische Konflikte, postdemokratische Verhärtung von Staatlichkeit sowie Transnationalisierung von Wertschöpfungsketten. Damit verbunden ist, dass die Schere zwischen Arm und Reich innerhalb der Länder sowie zwischen Ländern und Regionen zunehmend auseinanderklafft. Dies wiederum führt grenzübergreifend zu Verteilungskonflikten, einem Anwachsen reaktionärer Bewegungen und gesellschaftlicher Polarisierung.

Auch wenn man sich weithin daran gewöhnt hat, dass die Bekämpfung von Terror und Gewalt nur im markigen Vokabular des Militärs verhandelt wird, ist der Bankrott dieses Kampfes inzwischen doch zugleich überall überdeutlich. Über 15 Jahre Krieg gegen den Terror und unsere Welt ist nirgendwo sicherer geworden – im Gegenteil. Wir glauben, ja, wir wissen dagegen, dass man etwas tun kann. Und wir haben die Verantwortung, es jetzt zu tun.

Katja Kipping ist langjährige *prager frühling-Redakteurin und hat zuletzt das Buch „Wer flüchtet schon freiwillig“ herausgegeben.

Anmerkungen

[1] Übrigens: Lyad El-Baghdadi wurde wegen seines Engagements im arabischen Frühling 2014 von den Vereinigten Arabischen Emiraten, immerhin einem der wichtigsten Abnehmer deutscher Rüstungsgüter, ohne Begründung des Landes verwiesen.

[2] Nicolas Hénin: I was held hostage by Isis. They fear our unity more than our airstrikes, The Guardian, 16. 11. 2015, unter: http://www.theguardian.com/commentisfree/2015/nov/16/isis-bombs-hostage-syria-islamic-state-paris-attacks [05. 12. 2015].

[3] Ebd.

[4] Caroline Fetscher: Woher kommt der Fanatismus? Tagesspiegel, 10. 01. 2015.

[6] Vgl. Brand 2009.