Versagen der Sicherheitspolitik

Unsicherheit durch anlasslose Datenspeicherung

Jan Philipp Albrecht

Die Politik der anlasslosen Datenspeicherung hat die Gesellschaft unsicherer gemacht. Die einseitige Forderung nach immer mehr Daten zur Terrorismusbekämpfung war getrieben vom allgegenwärtigen Unsicherheitsgefühl. Es hat die Innenminister und Sicherheitsbehörden blind gemacht für die eigentlichen Notwendigkeiten effektiver Sicherheit. Nun kann nur eine Radikalkur helfen.

Die schrecklichen Terroranschläge des Jahres 2015, vor allem jene in Paris, haben die Welt schockiert. Die weltweite Anteilnahme am Schmerz der Angehörigen und Freunde der Opfer war gewaltig. Doch den Solidaritätsbekundungen und Trauermärschen, die ein kraftvolles Bekenntnis zur freiheitlichen Demokratie und Lebensweise sein sollten, folgten schnell harsche Einschränkungen eben dieser Werte im Namen vermeintlicher Sicherheitsgewinne. Allein in Frankreich ist der Katalog höchst fragwürdiger Eingriffe in rechtsstaatliche Prinzipien und Grundrechte enorm. Jüngst nahm die engagierte französische Justizministerin Taubira im Protest gegen die Aberkennung der Staatsbürgerschaft bei Terrorverdächtigen den Hut. Der von Staatspräsident Hollande ausgerufene Notstand wurde in der Verfassung verankert, die als eines der Geburtsdokumente der Menschenrechte in Europa gilt.

Leider zeigten gerade die Anschläge von Paris deutlicher als viele andere zuvor: Die Anti-Terror-Politik seit dem 11. September 2001 ist in eine gefährliche Sackgasse geraten. Trotz umfangreichster Datensammlungen (in Frankreich gibt es schon seit längerem die anlasslose Vorratsdatenspeicherung über zwölf Monate sowie die versuchsweise Erhebung und Analyse von Fluggastdaten) wurden die Anschlagsplanungen nicht entdeckt. Stattdessen waren viele Täter und deren Kontaktpersonen den Sicherheitsbehörden sogar schon lange vor den Anschlägen als Gefährder bekannt und zahlreiche Informationen über diese Personen in den Datenbanken von Geheimdiensten und Ermittlungsbehörden unterschiedlicher EU-Länder.

Die Datenberge sind hoch genug

Das eigentliche Problem im Fall der Pariser Anschläge lag demnach nicht in mangelnden Datenbergen, sondern in der zügigen Auswertung und Nachverfolgung vorhandener Anhaltspunkte. Dieses Phänomen steht im Einklang mit den zahlreichen Fällen verübter oder verhinderter Terroranschläge an anderen Orten: Auch in Ottawa, in Boston, in Toulouse, in Brüssel und im Flugzeug nach Detroit hatte es solche Verdachtsmomente gegeben. Doch entweder gingen diese in der Masse der Informationen unter oder es fehlte an ausreichend Personal und Ausstattung, diese Daten zügig auswerten zu können.

Ursache dieser Entwicklung ist ein grundlegender Fehler in der derzeitigen Sicherheitspolitik: Während die anlasslose Datensammlung als vermeintlich günstiges und wirksames Mittel gegen Terroristen und Kriminelle angepriesen und umgesetzt wurde, musste bei den Sicherheits- und Ermittlungsbehörden – vor allem vor Ort – massiv eingespart werden. Der fehlende Fokus der Datensammlungen auf Verdachtsmomente und Risikofelder sorgt dafür, dass der gefühlte Sicherheitsgewinn zu einem realen Verlust an effektiver Sicherheit auf den Straßen führt. Allein in Paris wurden 2014 rund 1700 Stellen gestrichen. In Deutschland waren es in den fünf Jahren zuvor nach Angaben der Gewerkschaft der Polizei etwa 15.000 Stellen.

Da haben wir den Salat — Datenberge ohne Zweck

Diese PolizistInnen fehlen nicht nur bei der Auswertung von Daten. Sie fehlen bei der Arbeit vor Ort. Sie fehlen in den Vierteln, in denen die Radikalisierung zunimmt und Jugendliche zu Straftätern werden. Gerade in Zeiten knapper Kassen wäre es daher unverantwortlich, die verfügbaren Mittel zum Beispiel in die ziellose Überwachung von Fluggästen zu stecken, wie es nun eine EU-Richtlinie vorsieht, die demnächst vom Europäischen Parlament verabschiedet werden soll. Diese anlasslose Fluggastdaten-Sammlung wird — nach Schätzungen der EU-Kommission — rund 500 Millionen Euro kosten. Die europäische Ermittlungsbehörde Europol hingegen hat derzeit gerade einmal ein jährliches Budget von einigen hunderttausend Euro für gemeinsame Ermittlungsteams, in denen Beamte verschiedener Mitgliedstaaten gemeinsam an einem Fall arbeiten.

Kooperation statt anlasslose Überwachung

Dabei ist es gerade die fehlende grenzübergreifende EU-weite Zusammenarbeit von Ermittlern, die Unsicherheit schafft. Selbst führende Ermittler bezweifeln, dass die anlasslose Speicherung von Daten überhaupt einen Mehrwert bei der Prävention von Terrorismus und organisierter Kriminalität bietet. Vielmehr ist es dringend notwendig, die bereits umfangreich erlaubten Überwachungsmaßnahmen bei auftretenden Verdachtsmomenten sowie in Risikofeldern in den Fokus der Sicherheitspolitik zu rücken. Dies kann aber nur dann erfolgen, wenn die Risiko- und Verdachtsmomente zügig und ohne Vorbehalte zwischen den Behörden ausgetauscht werden und gemeinsam an ihrer Verfolgung gearbeitet wird.

Die Terroristen profitieren davon, dass die aktuelle Sicherheitspolitik nicht dementsprechend umgestellt, sondern sogar verstetigt wird. Viel zu oft endet eine Ermittlung oder Überwachung, wenn ein Gefährder das Land wechselt. Viel zu selten geben die zuständigen Behörden in einem EU-Mitgliedsland alle Erkenntnisse an ihre Kollegen in den Nachbarländern weiter. Dabei sind schon jetzt viele Daten vorhanden: Wir wissen, wer in welchem Flugzeug sitzt und wenn ein Kämpfer aus Syrien zurückkehrt und in die Europäische Union wiedereinreist – auch per Zug oder Auto -, sollten das sofort die Ermittlungsbehörden aller Mitgliedstaaten wissen. Doch die Regierungen verschließen sich vor dieser Analyse und ihren Konsequenzen. Sie versuchen, mit den immer gleichen Mitteln das Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung zu erhöhen, schaffen damit aber erst die real existierende Sicherheitslücke.

Datensammeln ist wichtig und richtig, wenn es Verdachtsmomente oder konkrete Gefährdungen gibt. Wie das EU-weit funktionieren könnte, zeigt das kürzlich vom Europäischen Parlament verabschiedete System für die Bekämpfung von Geldwäsche und Korruption. Auf Grundlage fester Kriterien sollen "gefährdete" Personen identifiziert werden: PolitikerInnen, aber auch ihre SekretärInnen und FahrerInnen. Sie werden systematisch überprüft, wenn sie zum Beispiel ein Konto eröffnen, um sicher zu stellen, dass das Geld "sauber" ist. Alle übrigen BürgerInnen werden von solchen Maßnahmen aber verschont. Diese Richtlinie muss von den Mitgliedsländern schnellstmöglich umgesetzt werden, weil so auch die Finanzierung von Terrorismus bekämpft werden kann. Zudem braucht es einen verpflichtenden Austausch dieser Informationen – hier verlieren sich die Regierungen der EU noch immer in Untätigkeit, obwohl klar ist, dass dies ein effektiver Weg wäre, die Finanzierungsquellen des Terrorismus auszutrocknen.

Sicherheit ohne Generalverdacht

Es gibt keine Wunderwaffe im Kampf gegen den Terror. Eine absolute Sicherheit gegen Selbstmordattentäter, die keine Skrupel haben, können wir nicht erreichen. Aber wir haben gute Chancen, unseren Schutz zu verbessern, ohne auf den Generalverdacht zu setzen. Das muss unser gemeinsames, europäisches Ziel sein. Klar ist doch: Wenn sich ein Verdacht oder ein Risiko realisiert, muss ein Richter in der Lage sein, aus eben diesem Anlass Daten – auch zu einem frühen Moment – sammeln zu lassen. Das kann der Server sein, der regelmäßig von organisierten Kriminellen besucht wird und das kann die Fluglinie sein, auf der jihadistische Kämpfer nach Europa zurückkehren könnten. Doch das wäre etwas vollkommen anderes als die geplante Kompletterfassung unserer aller Leben zum Zwecke der Überwachung.

Wer im Lichte dieser Erkenntnisse immer noch nach dem schlichten Modell der anlasslosen Datenspeicherung ruft, ignoriert nicht bloß die höchstrichterliche Rechtsprechung, die für jede Datensammlung einen zumindest groben Bezug zu einem Verdacht oder einem Risiko einfordert, sondern läuft auch Gefahr, effektive Sicherheit auf Kosten teurer Placebo-Maßnahmen zu opfern. Der unreflektierte Ruf nach der Speicherung aller Telekommunikations- und Fluggastdaten auf Vorrat zeigt, dass sich die Sicherheitspolitiker nicht mit der Frage nach der Effektivität und Verhältnismäßigkeit befasst haben. Angesichts der Tatsache, dass die EU-Staaten seit dem 11. September 2001 mit etwa 240 Sicherheitsmaßnahmen in die Grundrechte der Menschen eingegriffen und dazu Milliardenbeträge aus den Steuerkassen geholt haben, wäre eine solche Analyse allerdings das oberste Gebot, um endlich die Maßnahmen zu ergreifen, die wirklich mehr Sicherheit bringen und mit unserer freiheitlichen Demokratie vereinbar sind.

Jan Philipp Albrecht ist grüner Abgeordneter im Europaparlament und hat die alternativen Polizeikongresse[1] organisiert.

Links:

  1. http://www.alternativer-polizeikongress.de/