»Ich bitte Sie!«

Populismus taugt nicht als fortschrittliche Kategorie. Was die Linke dennoch braucht, ist die Botschaft der Hoffnung auf gelingende Veränderung

Tom Strohschneider

Es gibt Wörter, die funktionieren wie ein ins Wasser geworfener Stein: Auf den konzentrisch sich ausbreitenden Wellen kann so ziemlich jeder surfen - in welche Richtung auch immer. Der »Populismus« gehört seit Jahren dazu. In Wahrheit schert sich kaum jemand um die politikwissenschaftlichen Debatten zum Thema. Differenzierende Aussagen, etwa ob nun eher ein Politikstil, eine Strategie oder eine bestimmte Klassifizierung von Interessengegensätzen gemeint ist und welche substanziellen Unterschiede es zwischen verschiedenen Formen des Populismus gibt, können im hektischen Nachrichtenbetrieb der Zwei-Satz-Statements ohnehin nicht mitgesendet werden.

Ich bitte Sie! Das ist nicht die Hoffnung, die gemeint war

Oft dient das Schlagwort »populistisch« zur Abwehr von Forderungen, die nicht als einem »realpolitischen« Konsens entsprechend angesehen werden - das kann bereits der Ruf nach einer kleineren sozialpolitischen Maßnahme sein und »populistisch« meint dann, diese lasse sich angeblich nicht bezahlen. Was nicht alles schon als »populistisch« kritisiert wurde! Auch parteipolitische Versprechungen in Wahlkämpfen gelten so schnell als »populistisch«. Schlimmer ist aber: Es wird bis heute mit dem Begriff »Populismus« ein extremismustheoretischer Verdacht transportiert, denn in der Regel werden die Populisten als Vertreter jener politischen Randbereiche angesehen, die sich wie ein Hufeisen um die als gut imaginierte »Mitte« legt.

Der Eindruck, dass die beiden Enden dabei irgendwo wieder zusammenstoßen, ist gewollt - und spätestens hier gehen die Probleme linker Auseinandersetzung mit dem Populismus los. Denn es ist ja bisweilen sehr wahr, was als Kritik an der populistischen Versuchung geäußert wird - zumal in einer Zeit wie heute, wo der »Linkspopulismus« nicht mehr nur eine Formel der öffentlichen Herabwürdigung ist, sondern von Linken als das große neue Ding gefeiert wird.

Bloß: Lässt sich daraus irgendein politischer Nektar saugen? Unlängst ist Linksfraktionschef Dietmar Bartsch danach gefragt worden - und er antwortete: »Ich weiß nicht, wie Linkspopulismus funktioniert.« Die Linkenvorsitzende Katja Kipping meinte hingegen schon Ende 2012, sie »glaube, es braucht Linkspopulismus, auch in der Zuspitzung, um deutlich zu machen, es gibt Alternativen«. Angeknüpft wird hier an die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe, die so etwas wie den theoretischen Bezugspunkt herstellt – unter Rückgriff auf Arbeiten ihres 2014 verstorbenen Mannes, des Philosophen Ernesto Laclau. Mit ihm hatte sie bereits 1985 »Hegemonie und radikale Demokratie« geschrieben, einen Versuch, die Hegemonietheorie von Antonio Gramsci fortzuschreiben - es geht um einen »progressiven Gemeinwillen«, der nicht andere ausschließt, die politischen und ökonomischen Kräfte des Neoliberalismus als Gegner festlegt und zugleich in einer »Person« identifiziert: die da oben.

Raul Zelik hat darauf verwiesen, »dass der Linkspopulismus – vor allem der Chavismus – die politischen Verhältnisse in Lateinamerika ein Jahrzehnt lang geprägt hat. Aber progressiv an ihm war nicht seine populistische Rhetorik, sondern die soziale Verankerung in den unteren Klassen.« Der Populismus von Laclau und Mouffe dagegen vertrete »einen Gramscianismus ohne Marx: Diskurs und Politik werden als Mittel zur Erlangung von Hegemonie aufgewertet, ökonomische Analysen hingegen fast bedeutungslos.« Und Georg Fülberth kritisierte ganz generell den Versuch, alternative Politik auf einen »Affekt eines klassenlosen Kollektivs« zu begründen.

Kipping spricht aber dennoch einen wichtigen Punkt an - die Frage, wie es der gesellschaftlichen Linken in Zeiten des »Immerschlimmerismus« (Matthias Horx) gelingen soll, »deutlich zu machen, es gibt Alternativen«. Denn hierin liegt ein substanzielles Problem: dass die Verhältnisse, so wie sie sind, nicht bleiben dürfen, weil sie die Menschen davon abhalten, »als Menschen« zu leben, ihre Welt frei und gleich, in Solidarität zueinander zu gestalten, ist wahr. Der gesellschaftlichen Linken hängt der Pessimismus wie ein Stein am Bein.

Hinzu kommt: das gespaltene Krisenbewusstsein. In Umfragen drücken Mehrheiten ihre Kritik an den real existierenden Verhältnissen aus, sie äußern sich kritisch über die Folgen des Kapitalismus, über die postdemokratischen Zustände, über Ungleichheit und politisch gewollte Verunsicherung. Einerseits. Andererseits sind sie skeptisch bis ablehnend, wenn es um wirkliche Veränderungen geht. Angela Merkel hat schon Wahlen mit Drei-Wort-Sätzen gewonnen: »Sie kennen mich.« Ihre Botschaft: Wer lieber nicht den »unsichere« Weg der Veränderung gehen wolle, müsse ihre Kanzlerschaft sichern - dann bleibe auch in Zeiten der »vielen Krisen« die deutsche Insel des »an uns ist es bisher noch vorübergegangen« erhalten.

In Zeiten des Immerschlimmerismus wird alles zum roten Tuch.

Dagegen kann nur eines helfen - eine Botschaft linker Hoffnung. Veränderung ist möglich, und sie kann nicht nur die Lebensbedingungen einer Mehrheit verbessern, sondern auch die Voraussetzungen für grundlegende Schritte gesellschaftlicher Umwälzung. Das Problem: Linke sind von Berufs wegen skeptisch, ihr Job ist es gerade nicht, zwecks kurzfristiger Zustimmung die Komplexität der »Beschissenheit der Dinge« zu übergehen. Alles hängt immer mit allem zusammen. Das macht Veränderung so schwierig. Und das kratzt am Fundament einer Botschaft linker Hoffnung.

Was Gregor Gysi damit zu tun hat? Der frühere Linksfraktionschef ist mit Abstand der Politiker seiner Partei, der am ehesten die χάρισμα - die »Gnadengabe« - besitzt, Ausstrahlung, die diskurspolitisch eine Wirkung über die eigene Anhängerschaft hinaus entfaltet. Der Göttinger Parteienforscher Franz Walter hat vor ein paar Jahren ein Buch über »Charismatiker« in der deutschen Politik vorgelegt. Gysi kommt darin nicht vor und es ist gegen Walters Buch eingewandt worden, dass jeder umgehend an die auf Max Weber zurückgehende Definition »charismatischer Herrschaft« denken müsse - die aber zur Beschreibung diktatorischer Eigenschaften dient. Weshalb man politische Figuren wie Willy Brandt doch nicht darunter einsortieren könne.

Kann man nicht? Nun, wenn zu Charisma individuelle Fähigkeiten wie ein ausgeprägter politischer Instinkt und Authentizität gehören, wenn dazu zählt, dass eine Person gesellschaftlichen Visionen eine Glaubwürdigkeit verschaffen kann, die die Hoffnung auf linke Veränderung stärkt, dann gibt es gute Gründe für ein Lob des Charismatikers. So sehr linke Politik zurecht darauf setzt, dass Menschen nicht von irgendwelchen herausgehobenen Figuren »in eine lichte Zukunft« geführt werden können, sondern die Veränderung der Verhältnisse erst in ihrem unmittelbaren eigenen Tätigwerden dafür wirksam wird, so wird man in der Mediendemokratie nicht an der Frage vorbeikommen, wie die Zahl derer, die sich »selbst ermächtigen«, eine kritische Masse gesellschaftlichen Wandels erreichen kann.

Welchen Beitrag Gysi dazu leisten könnte, ist deutlicher geworden, seit er »der bekannteste Hinterbänkler des Bundestages« ist (Gysi über Gysi). Das ist natürlich Koketterie, das ist Eitelkeit, das ist ein Ausdruck von Nicht-loslassen-können - schließlich ist der Berliner nicht als Fraktionschef verdrängt worden, er hat vor einem Jahr in Bielefeld den Platz für die nächste Generation geräumt, dies mit einem politischen Vermächtnis verbunden. Nun sieht es so aus, als finde die Partei nicht den richtigen Weg, ihn festzuhalten - auch trotz oder vielleicht wegen mancher Starallüren.

Dass ein Satz von Gregor Gysi über die »saft- und kraftlose« Linke über Tage Schlagzeilen macht und die Führungsfiguren der Partei zu wortreichen Entgegnungen veranlasst kann als ein bisher letzter Beleg für seine charismatische Kraft gelten. Andere Linkenpolitiker hatten sich nach den Frühjahrswahlen nicht minder kritisch über den Zustand und die strategischen Herausforderungen geäußert - aber ohne größeres öffentliches Echo. Es zeigt sich in diesem Kontrast, wie sehr Gysis gesellschaftliche Sprecherposition die von anderen überragt, sowohl nach innen wie nach außen. Das dies so ist, hat etwas mit seinem rhetorischem Talent zu tun - und genau darin erkennt man den Unterschied zu dem, was gern »populistisch« genannt wird.

Denn Gysi vereinfacht nicht, um die Welt weniger widersprüchlich zu zeichnen - ist also nicht auf den die politischen Verhältnisse verschleiernden Effekt aus. Sondern er »reduziert Komplexität, um Verständlichkeit zu erreichen«, so hat es einmal die Jury der Universität Tübingen formuliert, die Gysi 2013 für seine »Rede des Jahres« auszeichnete. Nicht »Gramscianismus ohne Marx« ist das, sondern der Versuch, in den Räumen des Öffentlichen, in denen Parteipolitik stattfindet, das Klassenpolitische nicht zu unterschlagen und dennoch hörbar zu bleiben.

Gysis rhetorische Mittel unterscheiden sich dabei stark von denen anderer Linkenpolitiker - und das wiederum ist auch auf einer politisch-psychologischen Ebene von Belang. Ein Argument, das mit der augenzwinkernden Wortgeste des »Ich bitte Sie!« verbunden wird, kann nicht so schnell aus dem Äther des politisch-medialen Raums gedrängt werden wie eine verbalaggressive Kritik am politischen Gegner - die dieser wie beim Squash einfach zurückschlägt, auf dass das Pingpong der reflexbeladenen Abgrenzungen dann weitergeht.

In Gysis »Ich bitte Sie!« steckt auch das Wissen darum, dass man die eigenen Widersprüche und die der politischen Materie nicht unterschlagen darf, ihnen aber ebenso wenig mit Hilflosigkeit begegnen sollte, sondern nur mit dialektischer Gelassenheit. In einem im Frühjahr erschienen Gesprächsbuch hat er auf die Frage, ob seine Partei linkspopulistisch sein solle, mit dem Hinweis auf einen solchen, einen wichtigen Widerspruch reagiert. Die Schwierigkeit, sagt er da - und man hört das »Ach, wissen Sie« praktisch noch, obwohl es gar nicht im Text vorkommt -, besteht darin, dass die Linke einerseits Positionen vertrete, die in großen Teilen der Bevölkerung überhaupt nicht populär sind, und andererseits für Veränderungen stehe, die zwar populär sind, die zu begründen aber es nicht zulässig wäre, die dahinter stehende Komplexität der Verhältnisse zu unterschlagen.

Wie nun da heraus kommen? Mit der Botschaft der Hoffnung auf linke Veränderung. In Gysis Worten: Er müsse nicht alles gleich »so detailliert klarmachen, sondern ich muss erstmal für ein anderes Prinzip kämpfen«. Erst wenn man »die Bevölkerung für dieses andere Prinzip« gewonnen hat, »habe ich überhaupt die Chance, in Details zu gehen.« Sagen, dass »There ist No Alternative« eine Lüge im Interesse der Beibehaltung herrschender Verhältnisse ist - und nicht verschweigen, dass jeder Weg zu einer linken Alternative über weite Strecken steinig, widersprüchlich und von heute aus besehen teils noch unbekannt sein wird. Geht nicht? Gregor Gysi würde sagen: »Ich bitte Sie!«

Tom Strohschneider ist Chefredakteur der Tageszeitung Neues Deutschland.