Vom enfant terrible zur Präsidentschaftspartei?

Der Aufstieg der Front National in Frankreich

Felix Syrovatka

Der Aufstieg der Front National beginnt in der Stunde der Niederlage. Bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2007 konnte der Präsidentschaftskandidat und damalige Vorsitzende der Partei, Jean-Marie Le Pen, nur enttäuschende 10,7 % auf sich vereinigen und landete damit auf dem vierten Platz hinter dem Zentristen Francois Bayrou. Es war eine historische Situation, hatte es Jean-Marie Le Pen noch fünf Jahre früher in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen geschafft. Die Partei schien am Boden und wurde von vielen JournalistInnen schon ins Nirwana der französischen Kleinstparteien abgeschrieben. Just in dieser Situation der offensichtlichen Niederlage verkündete die Tochter des Spitzenkandidaten und damals stellvertretende Vorsitzende der Partei, Marine Le Pen, dass in dieser Wahl „in jeder Hinsicht, die Ideen von ihm [von J.-M. Le Pen. Anm. F.S.] gewonnen haben“.

Sie sollte Recht behalten. Nun mehr neun Jahre später gehört die rechtsradikale Front National so selbstverständlich zur politischen Landschaft Frankreichs wie kaum eine andere Partei. Knapp 50 % der französischen WählerInnen hält sie nach einer jüngsten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts IPSOS für eine normale Partei, knapp 35 % würden ihr sogar zutrauen, das Land zu regieren. Doch nicht nur die aktuellen Umfragen zeigen, dass die Front National sich mittlerweile im politischen System etabliert hat, sondern auch die starken Ergebnisse bei den letzten Wahlen. Nach dem Sieg bei den Europawahlen 2014 wurde die Partei bei den Regionalwahlen im Dezember 2015 zum zweiten Mal hintereinander landesweit die stärkste Partei. Im ersten Wahlgang konnte die Partei in sechs Regionen die meisten Stimmen auf sich vereinen. Allein die Parteivorsitzende Marine Le Pen erreichte in ihrer Region Nord-Pas-De-Calais-Picardie mit 40,64 % das landesweit beste Ergebnis; knapp vor ihrer Nichte Marion Maréchal-Le Pen im Süden Frankreichs.

Frankreich in einer tiefen multiplen Krise

Diese bedrohliche Entwicklung der Front National hat seine Wurzeln nicht zuletzt in den multiplen Krisenerscheinungen, welche Frankreich in den letzten Jahren stark geprägt haben. War Frankreich anfangs kaum von der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise betroffen, entwickelte sich ab dem Jahr 2010 eine tiefgreifende Rezession, die durch die Krisenentwicklungen innerhalb der Eurozone weniger ausgelöst als vielmehr verstärkt wurden. Denn der Grund für die negative wirtschaftliche Entwicklung Frankreichs liegt vor allem im strukturellen Umbau des französischen Regulationssystems. Spätestens zu Beginn der 1990er Jahre begann eine tiefe Transformationsphase des französischen Kapitalismus, welche mit einer hohen Deindustralisierung und einer starken Finanzialisierung des Landes einherging. Vor allem im industrialisierten Norden Frankreichs kam es zu schweren sozialen Verwerfungen, dem massiven Abbau von Arbeitsplätzen und einer Verarmung ganzer Landstriche.

Multitude in multipler Krise: Nuit Debout

Die Transformation der wirtschaftlichen Strukturen und die damit einhergehende Wirtschaftskrise beförderten die zunehmende Entfremdung zwischen Regierenden und Regierten. War dieser Zwiespalt in Frankreich aufgrund der strukturellen Grundlagen der V. Republik schon immer vorhanden, vergrößerte er sich durch die angebotspolitische Reformpolitik und dem zunehmenden Abbau des Sozialstaates zunehmend. Die wirtschaftspolitische Annährung der beiden Großparteien, die zunehmende autoritäre Durchsetzung von Reformen und nicht zuletzt die austeritätspolitische Wende der derzeit regierenden sozialdemokratischen Regierung führte in den letzten Jahren zu einer Vertiefung der französischen Repräsentationskrise. In der jährlichen Untersuchung des Instituts IPSOS (2016) manifestiert sich diese Ablehnung in Zahlen. So gaben im April 2016 rund 83 % der Bevölkerung an, dass das demokratische System in Frankreich sehr schlecht funktioniere und ihre Interessen nicht repräsentiert würden. Mit 89 % stimmte eine deutliche Mehrheit der Aussage zu, dass es den PolitikerInnen egal ist, was die Bevölkerung denkt. Und nur acht Prozent aller Franzosen erhoffen sich Veränderungen von den etablierten politischen Parteien, während 92 % jegliches Vertrauen in diese verloren haben.

Erfolgreiche rechtspopulistische Strategie

Der Aufstieg der Front National kann jedoch nicht nur vor dem Hintergrund der tiefen Wirtschafts- und Repräsentationskrise verstanden werden. Zwar kann man die Front National theoretisch als Ausdruck ebenjener tiefen Hegemoniekrise der V. Republik verstehen, jedoch würde eine einfache Ableitung des Erfolges zu unterkomplex bleiben. Denn eine Hegemoniekrise, die der marxistische Theoretiker Antonio Gramsci (1991 ff.) als eine „Zeit der Monster“ interpretiert, eröffnet vielmehr nur die Räume für Parteien wie die Front National, um sich im politischen System zu etablieren. Vielmehr benötigt es jedoch einer politischen Strategie sowie „Charismatikern, welche die Demagogie […] als ausgezeichnete Waffe“ einzusetzen wissen, um die „historische Situation“ politisch nutzen zu können.

Grundlegend für das Verständnis des Erfolgs von Marine Le Pen ist die als „Entdiabolisierung“ bezeichnete, öffentliche Abwendung vom Antisemitismus und rechtsradikaler Rhetorik. Diese begann schon mit ihrer Wahl zur Parteivorsitzenden auf dem Parteitag in Tours 2011, welche von der Öffentlichkeit als Bruch mit der antisemitischen Tradition und als Signal für die Modernisierung der Partei verstanden wurde. Seitdem gilt eine strikte Mitgliederpolitik. So wurden Mitglieder des offen nationalsozialistischen, völkisch-nationalistischen Flügels öffentlichkeitswirksam aus der Partei ausgeschlossen, ebenso wie jene Mitglieder, welche sich in den Medien positiv zum Nationalsozialismus äußerten. Sogar ihren Vater, den Gründer und ehemaligen Ehrenvorsitzenden der Front National ließ sie aus der Partei ausschließen. Dieses resolute öffentliche Auftreten führte zu einer Wandlung der Parteiwahrnehmung in der französischen Bevölkerung, auch wenn sich programmatisch nur wenig seit der Amtsübernahme durch Marine Le Pen verändert hat.

Befördert wurde die Wandlung der Parteiwahrnehmung durch die Übernahme zahlreicher Positionen und Forderungen von den beiden großen Parteien, in erster Linie durch die konservative UMP. Am deutlichsten zeigte sich dies im Präsidentschaftswahlkampf 2012, in welchem es Marine Le Pen mehrfach gelang den konservativen Spitzenkandidaten und damaligen Präsidenten, Nicolas Sarkozy vor sich herzutreiben. Mehrfach konnte sie mit ihren Wahlkampfthemen den öffentlichen Diskurs bestimmen. So erreichte sie etwa mit der Behauptung, dass 100 % des Fleisches, welches im Großraum Paris produziert werde, rituell geschlachtetes Halal-Fleisch sei, das ohne Wissen der Verbraucher in den Handel komme, eine große Debatte über die Sitten des Islams und die Konsequenzen der Einwanderung für die französische Identität. Alle PräsidentschaftskandidatInnen waren damals gezwungen, zu diesem Thema Stellung zu beziehen.

Hier einträchtig nebeneinander, sonst oft von ihr getrieben: Sarkozy und Le Pen

Anhand dieses Beispiels lässt sich der Schwerpunkt der politischen Strategie der Front National bestimmen. So zielt das diskursive Vorgehen der Partei darauf, den öffentlichen Diskurs so zu nutzen, dass die eigenen Positionen, wie etwa die Ablehnung des Islams oder die Migration nach Frankreich, salonfähig gemacht werden und in die Mitte der Gesellschaft vordringen können. Es werden Beispiele konstruiert, welche die eigenen Positionen als anschlussfähig erscheinen lassen, wodurch die Übernahme dieser durch die etablierten Parteien die Partei selbst salonfähig machen. Zugleich bedient sich der Front National im öffentlichen Diskurs scheinbar „unverdächtiger“ und oftmals von der gesellschaftlichen Linken besetzten Begriffen wie „Laizität“ und verknüpft diese mit rassistischen und islamfeindlichen Inhalten.

Besetzung linker Themen als Strategie

Überhaupt ist die Besetzung linker Themen und Rhetorik grundlegend um den Wahlerfolg der Front National zu verstehen. Denn gerade wirtschaftspolitisch hat Marine Le Pen eine Vielzahl linker Positionen übernommen, wobei sie diese strikt völkisch denkt. Hier liegt einer die wenigen Punkte programmatischer Erneuerung der Front National seit dem Amtsantritt der neuen Parteivorsitzenden. Während ihr Vater ein großer Verfechter der neoliberalen Ideen von Ronald Reagan und Margaret Thatcher war, zitiert Marine Le Pen gerne öffentlich linke Intellektuelle. Seit ihrer Amtsübernahme gehört die Kritik an der Globalisierung und am sogenannten „Hyperliberalismus“ ebenso zu ihrem rhetorischen Repertoire wie die Kritik an der undemokratischen EU. Eine Verstaatlichung von Banken wird genauso selbstverständlich gefordert wie die Senkung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre oder die Einführung der Finanztransaktionssteuer. Auch hier schafft es der Front National oftmals sein rechtes Gedankengut in eine sozialistische bzw. sozialdemokratische Rhetorik zu verpacken und soziale Themen geschickt mit rassistischen Ideen und Forderungen zu verknüpfen. Die Kritik am globalen Kapitalismus und der neoliberalen Ideologie endet beispielsweise relativ schnell in einer Skandalisierung der „Massenimigration nach Frankreich“ und der Forderung nach einem stärkeren Schutz der „französischen Identität“.

Zudem wurde der französische Arbeiter ebenso zum symbolischen Leitbild der Rechtspopulisten erhoben wie der französische Kleinstunternehmer. Beide seien ökonomisch und in ihrer französischen Identität von der EU und dem globalen Kapitalismus bedroht. Als die Platzbewegungen gegen die geplante Arbeitsrechtsreform (Loi El Khomri) begannen, veröffentlichte der Front National Werbeplakate, welche Bäcker, Krankenschwestern und Müllfahrer zeigten und welche mit dem Slogan „Die wahre Nuit Debout“ überschrieben waren. In Anspielung auf die Nachtarbeit dieser Bevölkerungsgruppe versuchte der Front National die ArbeiterInnen und Studierende gegeneinander auszuspielen und sich gleichzeitig als Arbeiterpartei zu inszenieren. Hier zeigt sich, dass die soziale Rhetorik nicht nur als diskursive Strategie zu verstehen ist, sondern auch als Versuch weite Teile der Arbeiterschaft materiell einzubinden.

Denn die Thematisierung der sozialen Fragen von rechts führte nicht zuletzt dazu, dass der Front National eine größere Öffentlichkeit erreichen und dadurch auch neue WählerInnenschichten erschließen konnte. So finden sich heute die WählerInnen der Front National vor allem in denjenigen Milieus, welche von der wirtschaftlichen Krise besonders betroffen sind, also jene Wählergruppen die in den 1970er und 1980er Jahren oftmals die politische Linke wählten. Dabei kommt es der Front National zu Gute, dass sie trotz ihrer Entdiabolisierung weiterhin konsequent auf Konfrontation zum politischen Establishment in Frankreich agiert. Während die politische Linke aufgrund des Mehrheitswahlsystems in Frankreich mit der regierenden Sozialdemokratie kooperierte um überhaupt an einen Sitz im Parlament zu gelangen, musste sich der Front National aufgrund fehlender Kooperationspartner zwangsläufig immer als Gegenpol zum politischen System der V. Republik konstruieren. Diese Wahrnehmung als Anti-Systempartei und als Anti-Partei kommt dem Front National nun zu Gute, denn ihr rein symbolischer Bruch mit dem Antisemitismus, wie auch ihre wirtschaftspolitische Wende hin zum ethnisch-nationalen Protektionismus, haben den FN für viele Franzosen bis weit in die politische Mitte wählbar gemacht.

Felix Syrovatka[1] arbeitet als Lehrbeauftragter am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Schwerpunktmäßig publiziert er zur politischen und ökonomischen Entwicklung in Frankreich, vor allem im Bereich der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sowie zur Entwicklung der rechtspopulistischen Partei Front National.

Links:

  1. http://felix-syrovatka.de/