Der Linksrealismus in Lateinamerika

Eine Zwischenbilanz der linken Regierungen

Sérgio Costa

Nach der Wahl des Rechtsliberalen Macri in Argentinien, dem „Nein“ Boliviens zu der Absicht Morales, seine vierte Präsidentschaftskandidatur in der Verfassung zu verankern sowie den Krisen in mehreren links regierten Ländern der Region, feiern die konservativen Medien in Lateinamerika eine neue Ära, in der der Pragmatismus die Linksideologien angeblich ersetzt habe. Laut der argentinischen Zeitung La Nación stellt die jetzige politische Wende eine Götterdämmerung mit der entsprechenden „wagnerischen Dramatik“ dar: Ineffiziente Bürokratien, Korruption, Protektionismen, Enteignungen und die Unfähigkeit der Linken die Entstehung vom Wohlstand zu fördern, habe zur (politischen) Verbrennung der Götter (gemeint sind die Linkspräsident_innen) geführt.

Diese Bilanz ist irreführend. Denn es ist noch keine politische Wende vollzogen. Die Linke regiert in sieben bis acht (abhängig davon, wie der gegenwärtige Streit in Brasilien ausgeht) von elf Ländern, in denen sie jüngst an die Macht kam. Darüber hinaus waren die Linksregierungen wirtschaftlich nicht weniger kompetent als die Liberalkonservativen. Durchschnittlich wuchs das Bruttoinlandprodukt in den von der Linken regierten Ländern mit ähnlichen Raten wie in den übrigen Ländern Lateinamerikas.

Besonders erfolgreich zeigten sich die Linksregierungen in der Armutsbekämpfung, wie es aus der unten stehenden Tabelle deutlich hervorgeht. Während die Armut in den links regierten Ländern durchschnittlich mehr als halbiert wurde, wurde sie in den übrigen Ländern entweder nur wenig reduziert oder ist sogar gestiegen. Auch die durch den Gini-Koeffizient gemessene Einkommensungleichheit ist moderat bis erheblich in den links regierten Ländern zurückgegangen, während sie in den anderen Ländern entweder stabil blieb oder nur moderat zurückging.

Armut und Einkommenskonzentration in Lateinamerika

Indikatoren

Linksregierungen*

Armut – in % der Bevölkerung

 Gini-Koeffizient (Einkommen)

2002**

 2009

2013

2002

2009

2013

Argentinien (2003-2015)

34,9

11,3

4,3

0,58

0,51

0,47

Bolivien (2006-2020)

62,4

42,4

32,7

0,61

0,51

0,49

Brasilien (2003-?)

30,0

19,3

14,1

0,64

0,58

0,55

Chile (2006-2010, 2014-2018)

18,7

11,4

7,8

0,55

0,52

0,51

Ecuador (2007-2017)

49,0

37,1

33,5

0,51

0,48

0,45

El Salvador (2009-2019)

48,9

47,9

40,9

0,52

0,48

0,43

Uruguay (2005-2020)

15,4

8,6

2,3

0,45

0,42

0,38

Venezuela (1999-2019)

48,6

27,8

32,1

0,50

0,39

0,41

Keine Linksregierungen

 

Costa Rica

20,3

18,5

17,7

0,49

0,50

0,50

Dominikanische Republik

47,1

41,4

40,7

0,54

0,55

0,52

Guatemala

60,3

54,8

67,7

0,54

0,58

0,55

Honduras

77,3

69,5

74,3

0,59

0,57

0,56

Kolumbien

49,7

37,3

30,7

0,57

0,56

0,53

Panama

36,9

25,7

25,1

0,57

0,53

0,52

Mexiko

39,4

36,3

41,2

0,51

0,48

0,49

Quelle: eigene Zusammenstellung ausgehend von Social Panorama of Latin America 2015 (CEPAL/ECLAC)

* Auch Paraguay (2008-2012), Peru (2011-2016) und Nicaragua (2007-2017) wurden bzw. werden zeitweise von Linksregierungen geführt. Aufgrund der politischen Diskontinuität oder der lückenhaften Datenlage werden diese drei Länder hier jedoch nicht aufgeführt.

** Je nach Verfügbarkeit der Daten beziehen sich die Indikatoren zum Teil auf Zeiten um die Jahre 2002, 2009, 2013.

 

Die von den lateinamerikanischen Linksregierungen erzielte soziale Verbesserung ergab sich hauptsächlich aus einer Kombination von Geldüberweisungen an die ärmeren Bevölkerungsgruppen und realer Aufwertung des Mindestlohns. Durch Programme wie Zugangsquoten zu Ausbildungs- oder Arbeitsplätzen, strengere Antidiskriminierungsgesetze sowie spezielle Förderprogramme wurde wiederum die gesellschaftliche Stellung von Frauen, Schwarzen und Indigenen – wenn nicht unmittelbar wirtschaftlich, wenigstens rechtlich und machtbezogen – von den Linksregierungen insbesondere in Chile, Brasilien, Bolivien und Ecuador aufgewertet.

Gleichzeitig wurde die wenig progressive Steuerstruktur, die in den Ländern der Region historisch vorherrscht, bis auf wenige Ausnahmen, nicht angetastet. Dabei werden Konsum und Erträge aus Arbeit scharf besteuert, während Kapitalgewinne und Eigentum kaum oder gar nicht belastet werden. Dies führt dazu, dass der lateinamerikanische Staat generell über eine im Vergleich zu den europäischen Sozialdemokratien geringe Umverteilungsmacht verfügt. Während der Staat in Ländern wie Schweden oder Deutschland die vom Markt hervorgegangene Einkommensungleichheit durch Transfers, aber vor allem durch Steuern halbiert, kann der Staat in Lateinamerika – auch unter den Linksregierungen – die wirtschaftlich produzierte Ungleichheit nur minimal reduzieren.

Die allgemeine Rede von Linksregierungen in Lateinamerika soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich dabei um sehr unterschiedliche politische Stile in den verschiedenen Ländern handelt. Grob lassen sich zwei Modelle unterscheiden. Zum einen geht es um den Kirchnerismo in Argentinien, den Chavismo in Venezuela sowie um das Herrschaftsmuster von Correa in Ecuador und von Morales in Bolivien, welche sich, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weisen, an das Modell des klassischen Nationalpopulismus anschließen. Wie in der mittlerweile kanonischen Analyse von Ernesto Laclau beschrieben, teilt der populistische Diskurstypus die Gesellschaft in zwei mehr oder weniger homogene Blöcke: die Eliten und die Subalternen. Dabei proklamieren sich die Machthaber selbst zu Schützern der Subalternen, welche in der Diskursfigur der Armen, der Arbeiterschaft, der Populärklassen oder der Indigenen repräsentiert werden können.

In Brasilien, Chile, El Salvador und Uruguay hingegen, wählten die Linksregierungen einen nüchterneren Diskurs, in dem der Wohlstand aller betont wurde. Hier bestehen aber auch Unterschiede: Während in Brasilien, Chile und El Salvador die Hervorhebung der individuellen sozialen Mobilität und der Erweiterung der Konsummöglichkeiten der „neuen Mittelklassen“ immer mehr ins Zentrum der Regierungsrhetorik rückt, strukturiert die Suche nach sozialer Gerechtigkeit den Regierungsdiskurs in Uruguay.

Unter Evo Morales wurde die Armut in Bolivien halbiert

Diese unterschiedlichen Diskursmuster schlagen sich in der Wirtschaftspolitik jedoch kaum nieder. Denn unabhängig von ihrer rhetorischen Radikalität, setzten die Linksregierungen in Lateinamerika auf ein eher neoliberales Wirtschaftsprogramm, um das freundliche „Investitionsklima“ vor allem für das internationale Kapital aufrechtzuerhalten.

In ihren wirtschaftlichen Strategien konnten sich die Linksregierungen in Lateinamerika von den übrigen Regierungen auch nicht wirklich differenzieren. Anders als während des klassischen „Fortschrittspopulismus“ der 1950er und 1960er Jahre, als eine konsequente Politik der Importsubstituierung verfolgt wurde, setzt die gegenwärtige Linke nicht auf die industrielle Entwicklung. Im Gegenteil: Wie auch die anderen Regierungen der Region, versuchten die Linksregierungen vom sog. Commodity-Boom zu profitieren, als China während der 2000er Jahre zum Hauptimporteur von Agrar- und Bergbauprodukten aus Lateinamerika wurde. Aus China kamen dafür die industriellen Produkte, die den wachsenden Binnenmarkt Lateinamerikas versorgten. In diesem Kontext wurden die lateinamerikanischen Wirtschaften immer anfälliger und abhängiger von der Weltkonjunktur. Man spricht hier von einer Reprimarisierung der Wirtschaften Lateinamerikas: Die industrielle Produktivität ging zurück und Lateinamerika wurde - wie in den Kolonialzeiten - zum Weltlieferant primärer Produkte, also Rohstoffe und Agrarprodukte. Als nun die Entschleunigung der chinesischen Wirtschaft eintrat, und die Rohstoffpreise auf dem internationalen Markt jüngst zurückgingen, wird der Zusammenbruch des auf Rohstoffexporten basierten Wirtschaftsmodells in Lateinamerika unvermeidbar.

Diese wirtschaftliche Erschöpfung erklärt auch großenteils die politische Krise in Ländern wie Brasilien, Chile und Venezuela, wobei die Linksregierungen in gewisser Weise Opfer ihres vergangenen Erfolgs sind. Die gute Konjunktur der 2000er Jahre und die damit einhergehenden wachsenden Erwartungen der Bevölkerungsteile, die aus der Armut zu „neuen Mittelklassen“ aufgestiegen sind, setzen die Regierungen unter Erfolgsdruck im Bereich einer abhängigen Wirtschaft, die sie nicht (mehr) steuern können. Die Zweckallianzen mit den Vertretern des Kapitals werden ebenfalls brüchig, wenn die Wirtschaft stagniert und das zu verteilende Sozialprodukt nicht mehr wächst. In der Krise zeigt auch das politische System, das nach dem Aufstieg der Linken in den meisten Ländern nicht reformiert wurde, seine Lücken. Es wird deutlich, dass die Wirtschaft Parteien und einzelne Politiker_innen im Tausch gegen überteuerte staatliche Aufträge und andere Vergünstigungen immer schon finanziert hat. Die Linke spielt das korrupte Spiel weiter, wobei sich die Gräben zwischen Linksregierungen und einer kritischen Zivilgesellschaft vertiefen, die an den Linksdiskurs der Transparenz und der Unabhängigkeit einst geglaubt hatte.

Das ist auch die schwierigste Herausforderung der lateinamerikanischen Linke heute: Die Phase des politischen Hyperrealismus, in der ihr zweifelhafte Allianzen, eine neoliberale Wirtschaftspolitik und fragwürdige politische Methoden große Wahlerfolge beschert haben, ist endgültig vorbei. Der Linken bleibt keine andere Alternative als sich auf ihre Herkunft aus der Zivilgesellschaft, den sozialen Bewegungen und den alternativen Öffentlichkeiten zurückzubesinnen und dort wieder Fuß zu fassen. Nur dort können die professionellen Linkspolitiker_innen ihre demokratische Legitimität wieder gewinnen und die entscheidenden Argumente für die (Selbst)Begrenzung ihrer aus dem Fugen geratenen Machtansprüche finden

Sérgio Costa ist Professor im Bereich Soziologie des Lateinamerika-Instituts der FU Berlin.