Gegendemokratie und Volksgemeinschaft

Jan Rohgalf

PEGIDA & Co. mögen mit dem Abendland, der Nation oder dem Patriotismus inbrünstig Ideen beschwören, die man schon für erledigt gehalten hat, mit einem Anachronismus haben wir es hier jedoch keineswegs zu tun. Ganz im Gegenteil sind PEGIDA und ihr Umfeld Phänomene der gegenwärtigen, hochgradig individualisierten Gesellschaften, in denen von der Politik vorwiegend Anerkennung, Schutz und Förderung des eigenen Lebensstils erwartet wird. Demokratie wird zusehends als „Gegendemokratie“ (Pierre Rosanvallon[1]) begriffen: Nicht als Arrangement, das Kompromisse zwischen widerstreitenden Interessen und Gemeinwohlvorstellungen ermöglicht, sondern in erster Linie als Widerstand gegen wahrgenommene Zumutungen und Verfehlungen der etablierten Politik. Die sozialen Medien scheinen das ideale Tool für dieses Politikverständnis zu sein – nicht nur, weil sie die Sichtbarkeit des je eigenen Lebensstils in den Vordergrund stellen oder potentiell alle mit ihrer Hilfe an den etablierten Medien vorbei die Öffentlichkeit erreichen können. Aus der Logik des Vernetzens und Teilen heraus formieren sich in den Sozialen Medien immer wieder oft flüchtige Zusammenhänge, in denen Menschen on- wie offline gemeinsam handeln. Gern wird das Bild des Schwarms bemüht, um dieses unorganisierte, scheinbar spontane Zusammenhandeln zu beschreiben, das nur ein Minimum an Gemeinsamkeiten und Verbindlichkeit aufweist.

Wirr ist das Volk. Zumindest manchmal. Protest mit DIY-Elementen

Meistens werden linke, emanzipatorische Protestbewegungen wie die Indignados oder Occupy als Beispiele für politischen Aktivismus im Zeichen des Schwarms angeführt. Alternativ zum Schwarm wird dann auch der Begriff der Multitude benutzt, der durch die Theorie-Bestseller von Antonio Negri und Michael Hardt populär geworden ist. PEGIDA zeigt nun, dass die Gegendemokratie der Spätmoderne ebenso mit rechten, nationalistischen und/oder völkischen Ideen kompatibel ist. Eine Gegenüberstellung dieser beiden kontrastierenden Fälle lässt einige Fallstricke der Gegendemokratie zu Tage treten. Vier Punkte seien im Folgenden zur Diskussion gestellt.

Nieder mit den Palästen!

Charakteristisch ist der Verdacht, die bestehenden Organisationen und Institutionen seien Mittel einer Fremdherrschaft, die den Einzelnen etwas überstülpen oder sie für etwas vereinnahmen, das nicht das Ihrige ist. Auf Seiten der Linken gehören hierzu natürlich die Unternehmen und Vertragswerke des globalisierten Kapitalismus, oftmals auch der Staat und die Institutionen der repräsentativen Demokratie oder die Medien. In Hardt und Negris düsterer Gegenwartsdiagnose bildet das alles einen einzigen Herrschaftsapparat: das Empire. Occupy unterstrich die Notwendigkeit, sich jenseits der Institutionen zu positionieren, mit deren Hilfe das „1%“ über die „99%“ herrsche. Dabei wurde nicht selten gar in den Avancen sympathisierender Gewerkschaften und NGOs die Gefahr vermutet, von großen Organisationen vereinnahmt zu werden.

Die Rechte wiederum mobilisiert derzeit äußerst erfolgreich mit einem Zerrbild der Bundesrepublik als als einer Diktatur, in der die EU, die Parteien, Medien, Konzerne, Gewerkschaften, Kirchen usw. den Einzelnen etwas ihnen Fremdes aufzwingen würden. Auch hier wird vor dem Verlust des je Eigenen als Besonderem gewarnt. Freilich pflegt die Rechte eigene Schreckensbilder der Vereinheitlichung: etwa ein von oben angeordneter politischer und medialer „Einheitsbrei“ à la DDR, das Verschwimmen der Geschlechteridentitäten im Zuge der „Gender-Ideologie“ oder eine einzige globale „Multikultur“, in der die Besonderheit der eigenen kulturell-ethnischen Identität verschwinde.

Here comes everybody!

Die Multitude ist auch eine Lehre aus der linken Tradition der Avantgarde-Partei. Statt der in Verruf geratenen straff geführten Organisationen der Revolutionäre ist die Multitude ein loses Netzwerk, in dem die Einzelnen sich keiner Parteilinie und Ideologie beugen müssen. Ausdrücklich ziehen Hardt und Negri die Parallele zum Internet, in dem Heterogenes verknüpft werde, ohne dass die Eigenständigkeit der Knoten in Mitleidenschaft gezogen werde. Bei Occupy wehte ein ähnlicher Geist, wenn das Fehlen eines Führungszirkels und einer einheitlichen politischen Forderung als Stärke begriffen wurde. Ebenso wurden in den Vollversammlungen, den Asambleas, viel Zeit und Energie darauf verwendet, gleiches Rederecht und gleiche Sichtbarkeit für alle sicherzustellen. Alles andere hätte bedeutet, dass die Versammlung wieder für einige der Anwesenden gesprochen hätte, die selbst effektiv keine Stimme hätten.

Überlegungen dieser Art sind der Rechten naturgemäß fremd. So lauschen die Anwesenden bei PEGIDA konventionell Reden, die von einer Bühne aus gehalten werden. Die OrganisatorInnen bestimmen, wer spricht. Zugleich hat sich unter den TeilnehmerInnen die Praxis eingebürgert, selbstgebastelte Plakate mitzuführen. Durch dieses DIY-Element wird nicht nur das Selbstbild einer Graswurzelbewegung „besorgter Bürger“ gepflegt. Wie die Facebook-Seite von PEGIDA werden die Demonstrationen zur sichtbaren Projektions­fläche für disparate Forderungen, solange sie sich in das Narrativ der „Gutmenschendiktatur“ einfügen lassen, in das sich die PEGIDA hineingesteigert haben.

Hier darfst Du ganz ohne Abstriche und Kompromisse allein Du selbst sein!

Der Genitiv ist dem besorgten Bürger sein Feind. Rassistisches DIY bei Legida

Die Multitude verspricht, auf wundersame Weise zweierlei gleichzeitig zu erfüllen: das Streben nach unbedingter Autonomie einerseits, den Wunsch nach dem Aufgehobensein in der Gemeinschaft andererseits. Dass beide in einem ausgeprägten Spannungs­verhältnis stehen, interessiert die Urheber der Multitude-Idee ebenso wenig wie die Frage, wie mit Konflikten umgegangen werden soll, die in den losen Netzwerken der Multitude entstehen. Die vielen Unterschiedlichen stehen in diesen Netzwerken scheinbar einfach nebeneinander, weit genug voneinander entfernt, um Reibungen zu verhindern. Denn Konflikte würden bedeuten, dass Kompromisse und Regelungen gefunden werden müssen. Etwas verbindlich regeln hieße aber, die Einzelnen [2]im Zweifelsfall in die Pflicht zu nehmen, sie den Regeln der Gemeinschaft zu unterwerfen.

Die Rechte wiederum setzt auf einen anderen Trick, um Gemeinschaft und Autonomie kurzzuschließen. Sie flüchtet sich in zuverlässig in das, was Paul A. Taggart[3]  heartland nennt, eine partikulare, eher gefühlte als reflektierte Gemeinschaft der Rechtschaffenen, die stets durch all jene bedroht ist, die den eigenen Lebensstil mutmaßlich nicht teilen: die korrupten Eliten, aber etwa auch die Fremden, die „sozial Schwachen“, die „Gutmenschen“ oder allgemein die politischen Gegner. Der eigene Lebensstil wird kurzerhand zum wahren Willen „des Volkes“ erklärt und alle Konflikte und Verwerfungen in der Gesellschaft dem Wirken von „Volksverrätern“ und Fremden zugerechnet. Wer dazu gehört, so das Versprechen des heartland, braucht keine Kompromisse einzugehen, keine Einschränkungen hinzunehmen, weil der eigene Lebensstil das Gesetz ist.

Wir sind das Volk!

Der Schwarm besteht aus einer großen Zahl von potentiell Beteiligten. Er handelt immer und überall dort, wo sich aus diesem Kreis punktuell Freiwillige zusammenfinden, um vorübergehend gemeinsame Ziele zu verfolgen. Begreift man darüber hinaus vor allem den Protest gegen die etablierte Politik als Essenz der Demokratie, ergeben sich daraus schwerwiegende Konsequenzen.

So tritt nach Hardt und Negri die Multitude immer dort in Erscheinung, wo sich Menschen versammeln, die sich gegen das Empire stellen und sich für ein selbstbestimmte Leben einsetzen. Dies hat zur Folge, das im Grunde jede Protestaktion als Ereignis der wahren Demokratie gefeiert werden kann – und zwar vollkommen unabhängig von der Zahl der Beteiligten, der vertretenen Forderungen und der Reaktion der Umwelt. Das ist nicht nur praktisch im Hinblick auf die Legitimation von Protest, sondern immunisiert nebenbei auch noch gegen die Möglichkeit des Scheiterns. Auch bei Occupy spielte die tatsächliche Zahl der Teilnehmenden keine Rolle für das Selbstverständnis, die wahre Demokratie in den Camps zelebrieren, sondern vor allem die Inklusivität des Diskussionsprozesses.

Wenngleich die Zahl der DemonstrantInnen maßgeblich für die öffentliche Resonanz auf PEGIDA ist,  das skandierte „Wir sind das Volk“ drückt etwas anderes aus. „Das Volk“ zeigt sich demnach, wenn BürgerInnen „aufwachen“ und gegen die Eliten Widerstand leistet. Ähnlich wie bei der Multitude kann dadurch im Prinzip jede beliebige Äußerung zur Manifestation dessen avancieren, was „das Volk“ angeblich wirklich will. Mit der fatalen Folge, dass sich auch der Mob vor dem Flüchtlingsheim genauso wie die Verfasser von Hass-Kommentaren im Netz vollkommen im Recht fühlen, da sie ja „das Volk“ seien. Dieses Denken knüpft auch an die alte Weimarer Rechte, etwa an Carl Schmitt (in „Verfassungslehre“ von 1928), der nicht numerische Mehrheiten, sondern die tatsächliche Anwesenheit „des Volkes“ zum Kriterium der Demokratie machte, „sofern es nur nicht als organisierte Interessengruppe erscheint“. Überall kann sich dann der wahre Wille „des Volkes“ zeigen: „etwa bei Straßendemonstrationen, bei öffentlichen Festen, in Theatern, auf dem Rennplatz oder im Stadion.“

 

Jan Rohgalf arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften der Universität Rostock.

Links:

  1. https://fr.wikipedia.org/wiki/La_Contre-démocratie
  2. http://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/1600910X.2013.816637#.V2eSGqI2V_s
  3. http://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/1356931042000263528