Großbritannien vor einem Scherbenhaufen – die EU vor einem Neubeginn?

Axel Troost
Europa in Scherben

Die Briten haben gewählt, und zwar mehrheitlich den EU-Austritt. Der Brexit wird also in den kommenden Monaten im Detail ausverhandelt und spätestens in zwei Jahren vollzogen werden.

Was bedeutet das für die Zukunft der Europäischen Union, für die Bundesrepublik, für die Menschen in Europa überhaupt?

Zunächst müssen wir feststellen: Die Motivation der allermeisten Brexit-BefürworterInnen war nicht die Unzufriedenheit über eine unzureichend soziale oder ökologische EU, sondern es waren nationale, nicht selten nationalistische Motive, die stark von einer Haltung gegen Ausländer- und MigrantInnen mitgeprägt waren. Ob es gefällt oder nicht: der Brexit ist ein Sieg der Rechten und RechtspopulistInnen – zuvorderst in Großbritannien, aber letztlich in der gesamten EU. In Frankreich und in den Niederlanden haben die Rechtsaußen bereits eigene nationale Referenden über den Verbleib in der EU gefordert und es werden noch weitere EU-Mitgliedsländer mit der Frage nationaler Referenden auseinandersetzen müssen.

So sehr der Brexit auch Großbritannien und die EU spaltet, recht viel Einigkeit besteht in der Analyse, dass die Argumente der beiden Lager für und wider die EU auf sehr unterschiedlichen Ebenen lagen und sehr unterschiedlich verfingen. Nicht nur die Themenfelder waren völlig andere (einerseits die Gefahr eines Wirtschaftseinbruchs und vielfältiger praktischer Nachteile bei einem Brexit, andererseits die Themen Rückgewinn von Souveränität und Zurückdrängung der Migration nach einem Brexit), auch die Art der Ansprache war eine völlig andere: Die Brexit-GegnerInnen malten durchaus begründete Negativ-Szenarien für den Brexit aus, entwarfen aber letztlich ein positives Bild für ein Verbleiben in Europa aus. Ganz anders die Brexit-BefürworterInnen: bei ihnen ging es nicht um nüchterne Fakten und Nutzenabwägungen, sondern um die großen Stimmungen und die vermeintliche Wut im Bauch. Nun ist es leider eine Kernkompetenz der Rechten, Auseinandersetzungen mit Stimmungsmache zu führen. Der Brexit sollte aber alle fortschrittlichen EuropäerInnen aufrütteln: Ohne eine positive Stimmung für Europa wird es keine europäische Solidarität und vielleicht schon bald keine Europäische Union mehr geben. Für ein politisches Projekt der Reichweite Europas braucht es nicht nur die Unterstützung des Verstandes, sondern es braucht Herz und Leidenschaft.

Wo ist es geblieben, das „Herz für Europa“? Fairerweise darf man keiner politischen Kraft und keinem politischen Lager allein die Schuld dafür geben, dass Europa für die Mehrheit der Bevölkerungen in Europa immer mehr ein Konzept und eine Intuition geblieben ist, anstatt eine leidenschaftliche Idee mit Herzblut zu werden. Letztlich wurde von allen politischen EntscheidungsträgerInnen der vergangenen Jahrzehnte zu wenig für eine „Ich bin für Europa“-Stimmung getan. Wirklich sträflich aber war die immer wieder gern genutzte Strategie regierender Politikerinnen aller Länder und Couleur, unbequeme bzw. unpopuläre politische Schritte als Vorgabe aus Brüssel einzukleiden und im nächsten Satz noch über den technokratischen Brüsseler BeamtInnenapparat zu schimpfen. Ganz anders als hinsichtlich ihrer Stadt- oder Landkreisverwaltung haben 99 Prozent der Bevölkerung noch nie Kontakt zu einem EU-Beamten oder einer EU-Beamtin gehabt. Die weitverbreitete Hetze über Brüsseler Technokraten in der Bevölkerung ist fast zu ebenso 99 Prozent auf die Meinungsmache nationaler PolitikerInnen zurückzuführen.

99 Prozent der Bevölkerung noch nie Kontakt zu einer EU-BeamtIn gehabt

Hat die Politik also zunächst zu wenig für ein gutes Bild von Europa getan, ist sie seit den 1990er Jahren sehr erfolgreich dabei, viel für ein schlechtes Bild von Europa beizutragen. Waren EU-Entscheidungen bis in die 1990er Jahre für die meisten Menschen eher diffuse Einzelereignisse, so hat Europa spätestens mit der Strategie von Lissabon („Die EU – Die wettbewerbsfähigste Region der Welt“) und dann noch brachialer im Zuge der Euro-Krise sehr wohl eine Kontur und gewissermaßen sogar ein Herz erhalten – nämlich die Kontur der Austerität, des Gürtel-Enger-Schnallens, des Molochs mit dem kalten Herzen.

Dieser „Gewinn“ an Kontur ist auch und vor allem einem Umstand geschuldet: dem Wegbrechen der europäischen Sozialdemokratie als Korrektiv für die bis dahin von den Liberalen und Konservativen vorangetriebenen Modellen der EG bzw. EU als Wirtschaftsgemeinschaft und Freihandelszone. Seit jeher verstanden sich die sozialdemokratischen Parteien Europas als Vertreter einer starken sozialen und sozialstaatlichen Komponente im europäischen Gemeinwesen.

Es war – und damit kommen wir zurück auf Großbritannien – der Vorsitzende der britischen Labour-Party Tony Blair, der mit seiner Vision von „New Labour“ den Rückzug der europäischen Sozialdemokraten aus der primären Verpflichtung gegenüber dem Sozialen und der Arbeitnehmerschaft einleitete. „New Labour“ – das war die Vorstellung, dass sozialdemokratische Politik gleichermaßen sozial wie wirtschaftsnah sein könne und dass im Zweifelsfall sozial ist, was Arbeit schafft – auch unter wenig erbaulichen Arbeitsbedingungen.

Dieser Weg wurde von Gerhard Schröder und seiner „neuen Mitte“ übernommen und weiterentwickelt. Die deutsche Agenda 2010 war die gleichermaßen visionäre wie konsequente Umsetzung des neuen Mantras und sollte der deutsche Beitrag zur Erreichung der Lissabon-Strategie sein. Und tatsächlich, in Sachen Wettbewerbsfähigkeit hat die Agenda 2010 in Deutschland zweifellos große Wirkung gezeigt. Aber über eben genau diesen Quasi-Fetisch der Wettbewerbsfähigkeit war ein positives oder gar leidenschaftliches Werben für ein soziales und sozialstaatliches Europa praktisch unmöglich geworden. Ein auf Wettbewerb gegründetes Europa kann per se kein solidarisches Europa sein, denn der Wettbewerb braucht Verlierer, um Sieger zu küren.

Der Brexit ist zweifellos ein herber Schlag. Wollen wir aus ihm aber irgendeine vorwärtsweisende Schlussfolgerung ziehen, so muss sie ein Weckruf sein: SozialdemokratInnen und SozialistInnen in Europa! Reißt das Ruder herum und macht, dass es ein soziales Europa werde! Besinnt Euch und sucht nach der Solidarität, der Zärtlichkeit der Völker in Europa! Kehrt der Austerität den Rücken und zeigt den Menschen, wie die Wirtschaft für die Menschen da sein kann statt umgekehrt! Es liegt an Euch, dass die EU eine Zukunft hat und verdient.

Und allen anderen politischen Kräfte links der Mitte ist zu sagen: Zeigt den Menschen, und gerade den Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, wie ein soziales Europa aussehen müsste, für das ihr mit ihnen gemeinsam zu kämpfen bereit seid.

Und nehmt dabei die Herzen der Menschen mit!

 

Axel Troost ist Abgeordneter der LINKSFRAKTION im Bundestag.