16.08.2016

Ordnung und Unordnung

Die zeitgenössischen Fluchtbewegungen und bürgerliche Ordnungsvorstellungen

Felix Anderl

In der eindrucksvollen Ausstellung „das imaginäre Museum“ im Museum für moderne Kunst (MMK) in Frankfurt am Main steht gleich zu Beginn das Werk des Konzeptkünstlers Alighiero Boetti: Order and Disorder. Die Besucherin schreitet den Raum betretend auf eine weiße Wand zu. An dieser hängen 100 kleine Holzquadrate, die wiederum ein großes Quadrat ergeben. Es handelt sich dabei um Stickereien aus Wolle, die auf Holzrahmen gespannt wurden. Auf jedem dieser Stickereien ist bei genauerem Betrachten zu lesen „ORDERDISORDER“. Das resultierende Quadrat könnte ordentlicher kaum sein.

Dreht sich die Betrachterin jedoch um 90 Grad nach links, erkennt sie, dass Boetti dem Quadrat ein weiteres Werk zur Seite gestellt hat, welches sich ausschließlich in der Zahl der Teile und in der Hängung unterscheidet. Während der erste Teil des doppelten Kunstwerkes aus 100 Teilen ein Quadrat ergibt, besteht der zweite Teil aus 99 Teilen, die in scheinbar wahlloser, ungeordneter Sortierung an der Wand hängen.

Für Boetti waren Ordnung und Unordnung keine Gegensätze, sondern Ausdrücke desselben Prinzips. Seine systematische Anordnung von Farben und Buchstaben suggeriert die Nähe der beiden Konzepte, die nur durch minimale Veränderung in ihr scheinbares Gegenteil umschlagen können. Die sich aufdrängende Frage „wer ordnet?“ kann hier nicht eindeutig entschieden werden: Ist es der Künstler, der zwischen Ordnung und Unordnung klar unterscheiden kann und so auf seine gestalterische Macht hindeutet, oder ist es die Perspektive der Betrachtenden, welche die eine Anordnung als ordentlich, die andere als in gänzlicher Unordnung befindlich einstuft? Doch diese Frage zu beantworten wäre ganz und gar nicht im Sinne Boettis, weist er doch gerade auf das sich gegenseitige Bedingen von Ordnung und Unordnung hin. Ohne das eine kann es das andere nicht geben. Beides koexistiert zu jeder Zeit. Wer nur die Ordnung sehen will kann dies tun, doch nur mit dem Wissen, dass es nur einem Linsen nach links bedürfte um die ins Gegenteil verkehrte Unordnung zu entdecken; es bedarf also eines aktiven Aktes der Ignoranz, um nur die eine oder die andere Seite des Werkes zu sehen.

„Nicht mehr mein Land“: Ordnungsdiskurse und Lob der Grenze

Die Werke von Boetti erscheinen deshalb so einschneidend, weil Ordnung in unserer Zeit ganz anders gedacht wird, nämlich nicht als Teil der Unordnung, sondern als deren Gegenteil, sein reguliertes Gegenüber. „Ordnung“ als Teil des Hier in Abgrenzung zum wilden Anderen funktioniert seit jeher als zentrales Narrativ der europäischen Identitätskonstruktion (Neumann 1999). Doch die Ordnung scheint in Gefahr. Glauben wir dem Alarmismus, der das Ende „unserer Ordnung“ ausruft und dafür auch eine Schuldige ausgemacht hat: Die vermeintliche Aufgabe der Souveränität im Kontext zeitgenössischer Fluchtbewegungen. Das wird in islamophoben Blogs wie der „Achse des Guten“ schon seit Längerem propagiert, findet sich aber in zunehmendem Maße auch in vormals liberalen Blättern wie dem Cicero.[1] Dort fragt Alexander Kissler am 23.2.2016: „Sind wir Zeuge einer demokratisch nicht gedeckten, fundamentalen Veränderung des Staatsvolkes? Treibt Merkel diese offensiv voran?“ Im gleichen Blatt beklagt Sloterdijk einen „Souveränitätsverzicht“, der zu einer „Überrollung Deutschlands“ führe. Von ähnlichen Vokabeln, der „Flut“ (Rüdiger Safranski), der „Welle“ (Die Welt), des „Ansturms“ (Der Focus) oder der „Lawine“ (Wolfgang Schäuble) war in den letzten Monaten viel zu hören. Gemein ist den Beiträgen, dass sie das Bestehende als gegebene Ordnung annehmen, als sei die Bevölkerung der BRD vor der „Flüchtlingskrise“ eine fest verankerte und homogene Masse gewesen.

Alighiero Boetti, Order and Disorder, 1985–1986, MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main

Der Staatsrechtler Dietrich Murswiek hat in seinem viel beachteten Aufsatz die „Umstrukturierung der Bevölkerung Deutschlands“ beklagt und damit deutlich gemacht, dass er Deutschland nur durch einen Differenzdiskurs begründen kann. Die Nation wird durch Rückgriff auf traditionell ethnisierende Positionen fundiert. Einwanderung ist aus dieser Perspektive immer eine Abweichung von der Norm und kann nur so lange erlaubt sein, wie sie die vermeintlich gegebene Ordnung nicht erschüttert. Die Grundhaltung deutscher Verwaltungsdiskurse zur Einwanderung beschreibt Tobias Schwarz (2010: 65) dementsprechend passend als „Verbot mit Erlaubnisvorbehalt“. Es ist diese Intuition einer notwendigen Abgeschlossenheit der eigenen Ordnung, auf Basis derer die Bürgerlichkeit zum Schluss kommt, die Souveränität der Bundesrepublik (Ordnung) sei in Gefahr oder bereits im Verfall befindlich, wenn anders aussehende Menschen in Zügen oder Booten ankommen.

„Wir schaffen das“: Rhetorik der Eindeutigkeit

Auffällig ist aber, dass auch abseits der oben kurz dargestellten xenophoben Perspektiven an einer Rhetorik der Eindeutigkeit, der dualistischen Ordnung, festgehalten wird, die ihre Entsprechung empirisch niemals finden kann. Ahistorisch wird eine imaginäre Ordnung beschworen; auch wenn diese gar nicht hergestellt werden kann. So sahen sich die für eine zögerliche Öffnung eintretenden PolitikerInnen gezwungen, Diskurse der homogenen Struktur zu verfestigen. In einem seltenen Zug des politischen Handelns beschwor Angela Merkel denn auch, dass „wir“ „es“ schaffen könnten. Obwohl sie damit rechts-chauvinistische GegnerInnen in die Schranken wies und gegen den Druck der CSU die Grenzen für sehr kurze Zeit und selektiv offenließ, bekräftigte sie das Bild einer homogenen Staatsgruppe („wir“) gegenüber einer unspezifischen, externen Gefahr für die Ordnung („das“) zum Zweck der Aufrechterhaltung einer reaktionären Ordnungsvorstellung des homogenen Volkskörpers, der in dieser Ausnahmesituation den Erlaubnisvorbehalt zu materialisieren in der Lage sei.

Um derlei sprachliche Grenzziehungen und ihre Unterschiede einzusortieren, können wir generell zwischen drei groben Strategien des Umgangs mit kollidierenden internationalen (Rechts-)Normen unterscheiden, die sich auch auf die vorliegende Situation übertragen lassen: das Aushalten von Ambivalenz, Einzelfallentscheidungen und die Schaffung neuer Eindeutigkeiten (Zimmermann et al.: 2013). Der Impuls der deutschen Rechten, ein Ende der „Flüchtlingsströme“ zu fordern, ist eindeutig national-chauvinistisch. Doch wie steht es um die im Mainstream verwendete Rhetorik, ein Ende der „Flüchtlingskrise“ einzufordern, beziehungsweise diese zu „lösen“? Die Antwort auf diesen Impuls („wir schaffen das“) zeigt an, worum es gehen soll: Diese Massenbewegungen sind ein Problem, das gemanaged werden kann. Es ist ein Ausnahmephänomen, ein Einzelfall der Unordnung, das aufgeräumt werden kann, zwar mit Entbehrungen, aber nicht durch strukturelle Veränderungen. Unsere Vorstellung der globalen Ordnungsverhältnisse wird nicht angetastet. Vielmehr werden die Geflüchteten als Eindringlinge in unsere Ordnung verstanden, in der es nun ein bisschen weniger gemütlich ist.[2]

NIMB

Es zeigt sich in der sogenannten Flüchlingskrise ein altbekannter Impuls des privilegierten Bürgertums. Ein Problem wird erst dann zum Problem, wenn es sich vor der eigenen Haustüre abspielt: „Not in my backyard“ (NIMB)! Solange der Krieg in Syrien tobt, oder auch die jungen Menschen in Ghana keine Perspektive haben: Schade, aber nicht mein Problem. Erst wenn diese Subjekte den Weg übers Mittelmeer geschafft haben, werden sie zur Bedrohung. Die eigene Ordnung ist in Gefahr. Hieran zeigt sich auch die Unfähigkeit der Intelligenzija und generell der Sozialwissenschaften der letzten Generation: War es nicht das Projekt der Geschichts- und Politikwissenschaft und der Soziologie, die globalen Verflechtungen aufzuzeigen, Interdependenzen nachzuvollziehen? Ist es nicht Konsens, dass Globalisierung kein neues Phänomen ist, dass Geschichte schon seit Jahrhunderten global vernetzt sich abspielt? Und sollte es nicht mittlerweile eine erhebliche Verbreitung dieses Wissens gegeben haben, ein Wissen um die Verstrickung globaler Ordnungen und die eigene Verantwortung um Konflikte und Probleme an anderen Orten der Welt?

Offensichtlich nicht. Ordnung wird noch immer zuallererst lokal und national und Probleme als räumlich kontingent verstanden. Erst durch geografische Nähe werden sie drängend, weil sie drohen, die imaginierte Ordnung zu unterminieren. Jedes Boot mit Flüchtenden ist ein Akt der Rebellion gegen diese Ordnungsvorstellung und aktualisiert die Verwobenheit der gemachten Welt aufs Neue. Dagegen wird mit Klassifizierungen vorgegangen. Ein „Wirtschaftsflüchtling“ hat demnach genauso wenig das Recht, unsere Ordnung anzutasten wie jemand aus einem „sicheren Herkunftsstaat“. So wird eine unwirtliche Welt voller Leid bürokratisch durchdrungenen und die darin sich bewegenden Subjekte zu effekthascherischen, gierigen Eindringlingen deklariert. Damit ist die Ordnung wiederhergestellt, ohne dass etwas an den real existierenden Verwerfungen geändert worden wäre. Doch wie Bourdieu es formuliert hat: “nothing classifies somebody more than the way he or she classifies.” (Bourdieu: 1989, 19).

„Fluchtursachen bekämpfen“: Privilegien verteidigen

Dass es bei den Initiativen abseits der eigenen Grenzen denn auch weniger um das Leiden der „Anderen“ geht, sondern nur um die Stabilisierung der imaginierten Ordnung, zeigt sich auch in den Interventionen zur Bekämpfung von „Fluchtursachen“. Zwar klingt dieses Konzept nach einer nachhaltigeren und präventiven Form der Kooperation, jedoch erkennen Fachorganisationen wie Medico International in dieser Praxis eher einen „Export der Abschottung“ (Lenz 2016: 18). Das widersprüchliche Moment dieser, bisher wenig erfolgreichen Strategien ist, dass sie das Zerfaserte der eigenen Ordnung verbildlichen, deren Geschlossenheit sie zu schützen vorgeben. Gedacht als Versicherung für den deutschen Michel, der sich nicht mehr mit den Bildern von toten Kindern an der Adria oder auf Kreta herumschlagen muss, verdeutlichen sie das Ineinandergreifen normativer und wirtschaftlicher Ordnungen und explizit auch das räumliche Ausgreifen der europäischen Ordnungsmacht. Dies gilt insbesondere für die Marineoperation zur Flüchtlingsabwehr (Operation Sophia), die hauptsächlich Schlepperboote in fremden Gewässern oder sogar an nordafrikanischen Küsten zerstört. Aber auch die zivile Bekämpfung der Fluchtursachen dringt explizit in den Gestaltungsraum anderer souveräner Staaten ein, durch „Sensibilisierungskampagnen“, die von der Migration abhalten sollen oder durch die spezifische Schulung von sudanesischen und südsudanesischen Polizeibeamten. Auch die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) mischt in diesem Business mit, so kann die Abschottungspolitik gleich als Entwicklungszusammenarbeit abgerechnet werden.

Die eigentliche, auch völkerrechtlich klar vorgeschriebene, Ordnungsaufgabe für den Souverän, in Seenot geratene Schiffe und lebensbedrohte Menschen zu retten, übernimmt zu großen Teilen die Zivilgesellschaft mit privat finanzierten Initiativen wie SOS Méditérranée, Seawatch oder Médicins Sans Frontières (MSF). Diese Gruppen opfern sich aus moralischen Gründen auf; sie sind die eigentlichen Verantwortungsethiker der Zeit, obwohl sie explizit gegen die so genannten VertreterInnen der „Vernunft“ ankämpfen. MSF, eine von den Statuten her stets „unpolitische“ Organisation, nimmt folgerichtig auch keine Spenden aus der EU mehr an. Zu widersprüchlich wäre es, ihre Aufgaben zu übernehmen und Menschen zu retten, deren Tod erst über vermeintlich ordnungsbildende Abschottungspolitik produziert wird. Diese Gemengelage wird sich vorerst kaum ändern. Nicht, so lange es als angemessen gesehen wird, die eigenen Privilegien auf Kosten anderer zu verteidigen, sie als gegebene „Ordnung“ zu rechtfertigen und diese Asymmetrien expansiv und militärisch zu verteidigen.

JedeR Flüchtende agiert als RebellIn gegen die reaktionäre Ordnungsvorstellung der mitteleuropäischen Bürgerlichkeit. Diese Rebellion benötigt den Rückhalt aller progressiven Kräfte gegen den Konsens der nationalen Privilegien und deren Abschottung. Einer der praktischen HelferInnen der Gefallenen dieser Rebellion auf dem Mittelmeer, der zu Berühmtheit gelangte, weil er mit einem Toten Baby im Arm fotografiert wurde, antwortete auf die Frage ob er sich als Held sehe: „Die echten Helden, das sind die Leute, die entschieden haben: Ich gehe in dieses Boot und ich suche nach Zukunft.“[3]

 

Felix Anderl ist Research Associate am Chair for International Relations and Theories of Global Orders der Goethe Universität Frankfurt am Main.

 

Literatur

Lenz, Ramona (2016): Export der Abschottung. Die Auslagerung der Migrationskontrolle globalisiert die Politik der Ausgrenzung. In Medico International: Rundschreiben 01/16.

Murswieck, Dietrich (2016): Nationalstaatlichkeit, Staatsvolk und Einwanderung, in: Otto Depenheuer / Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht. Ferdinand Schöningh, Paderborn 2016, S. 123-139.

Neumann, Iver B. (1999): Uses of the Other: “The East” in European Identity Formation. University of Minnesota Press.

Schwarz, Tobias (2010): Bedrohung, Gastrecht, Integrationspflicht. Differenzkonstruktionen im deutschen Ausweisungsdiskurs. Bielefeld: transcript.

Zimmermann Lisbeth, Andreas von Staden, Angela Marciniak, Linda Wallbott, Friedrich Arndt (2013): Muss Ordnung sein? Zum Umgang mit Konflikten zwischen normativen Ordnungen. In: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 20 (1), 35-60.

Anmerkungen

[1] Für eine ausführlichere Analyse des Blattes siehe Anne Fromm: „Ein neuer Ton“ in der Taz am Wochenende (2./3. Juni 2016). Dieser Absatz fußt auf ihren Recherchen.

[2] Der bürgerliche Reflex ist demnach am besten mit der Sicherung eigener Privilegien beschrieben, legitimiert sich aber auf der Basis reaktionärer Differenz-Konstruktionen. Er wohnt somit den Argumentationen aller Schäubles und Wagenknechts inne.

[3] http://www.taz.de/!5306813/[1]

Links:

  1. http://www.taz.de/!5306813/