Was ist eigentlich Finanzialisierung?

Die Bedeutung der Finanzwirtschaft im gegenwärtigen Kapitalismus ist gestiegen. Das heißt mitunter mehr Instabilität, Ungleichheit, und Demokratieprobleme

Daniel Mertens
Davie Bowie hier noch als realwirtschaftliches Produkt

Als David Bowie Anfang des Jahres verstarb, erinnerte die Financial Times an ein besonderes Meisterstück des Künstlers: Bowie Bonds. Der Musiker hatte 1997 die Einnahmen aus 25 seiner Alben ‚verbrieft‘ und damit zu einer auf den Finanzmärkten handelbaren Anleihe gemacht. Seine Fans hatten allerdings Schwierigkeiten Bowie Bonds zu erwerben: Die gesamten Wertpapiere im Wert von 55 Millionen US-Dollar wurden von einem einzelnen institutionellen Anleger aufgekauft, der auf Renten- und Lebensversicherungen spezialisierten Prudential Insurance Company.

Diese kleine Episode im Aufeinandertreffen von Finanzmarkt und Popkultur steht exemplarisch für einen graduellen Strukturwandel in der Funktionsweise kapitalistischer Ökonomien, der als Finanzialisierung bezeichnet wird. Unter diesem Begriff wird eine ganze Reihe von miteinander verschränkten politischen, ökonomischen und kulturellen Prozessen gefasst, in denen Finanzaktivitäten und -akteure einen wachsenden Einfluss auf unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche nehmen. Dazu zählt erstens die Tatsache, dass ein zunehmender Teil der volkswirtschaftlichen Profite durch Finanzgeschäfte erzielt wird; und zwar nicht allein von Banken und institutionellen Investoren wie Versicherungen und Pensionsfonds, sondern auch von klassischen Industrieunternehmen. Damit verbunden ist zweitens der Befund, dass unternehmerische Entscheidungen verstärkt der Kontrolle durch Finanzinvestoren unterliegen, die sich negativ auf Arbeitsverhältnisse und langfristige Investitionsentscheidungen durchschlagen kann (Stichwort: shareholder value). Drittens umschreibt der Begriff die geographische und sozialstrukturelle Ausweitung von Finanzanlagemöglichkeiten und Finanzprodukten für Bevölkerungskreise, die bislang weder als Investoren noch als Kreditnehmer in Erscheinung getreten sind, wodurch mehr Menschen ihr Handeln an ‚objektiven‘ Finanzmarktprinzipien orientieren.

Die Voraussetzungen für diese Tendenzen sind vielfältig. Das innovative Potenzial des Finanzsektors, neue Produkte wie Bowies Verbriefungen hervorzubringen und (regulatorische) Nischen für neue Akteure wie Hedgefonds und Kapitalbeteiligungsgesellschaften zu nutzen, ist eine. Zugleich bedarf es aber auch einer politischen Reorganisation gesellschaftlicher Bereiche, vom Wohnungsmarkt bis zu den Systemen sozialer Sicherung, um überhaupt den Boden für Finanzialisierungsprozesse zu bereiten. Wer an den Umbau der öffentlichen Daseinsvorsorge denkt, an Rentenkürzungen und Privatisierungen, und dabei die Hypes von der T-Aktie über die Riester-Rente bis zum kreditfinanzierten Wohneigentum in der aktuellen Niedrigzinsphase im Blick behält, wird diesen Zusammenhang offensichtlich finden.

Pfade und Konsequenzen der Finanzialisierung

Obwohl Finanzmärkte längst global sind und das moderne Finanzwesen in viele periphere Regionen vorgedrungen ist, sind die damit beschriebenen Prozesse alles andere als einheitlich. Unterschiedliche Länder und Regionen sind zu einem unterschiedlichem Grad ‚finanzialisiert‘, was darauf verweist, dass Finanzialisierung politisch gestaltbar ist: Die USA und Großbritannien beispielsweise haben in ihrer jüngeren Entwicklung mehr auf die Liberalisierung des Finanzmarktes und die Stärkung ihrer Finanzplätze gesetzt als andere Länder, was ihnen Machtvorteile in der internationalen Wirtschaftsordnung bescherte. Das exportorientierte deutsche Modell hat von der Verschuldung in anderen, nicht zuletzt südeuropäischen, Ländern profitiert, ohne sich mit den Folgen einer inländischen Kreditblase auseinandersetzen zu müssen. In Osteuropa beruhen Finanzialisierungsprozesse überwiegend auf den Aktivitäten ausländischer Banken und in zahlreichen Entwicklungsländern fußt die Integration weiter Bevölkerungsgruppen in globale Finanzkreisläufe auf der Mikrofinanz. Der Begriff Finanzialisierung muss also historische und lokale Begebenheiten berücksichtigen, um analytisch hilfreich zu sein.

Finanzialisierung hin oder her: In the end we are all dead. Rest in Peace Bowie.

Die Konsequenzen der „finanzgetriebenen Landnahme“ sind allerdings weitreichend. Mit dem Wachstum des Finanzsektors während der vergangenen 30 Jahre lässt sich eine zunehmende Instabilität der Weltwirtschaft beobachten, die auf tieferen und vernetzten Krisen der Finanzmärkte beruht und die in der Funktionsweise der kapitalistischen Finanzwirtschaft selbst begründet liegt (so auch die Hypothese finanzieller Instabilität des Ökonomen Hyman Minsky). Das trifft nicht nur die Länder des globalen Nordens, sondern auch immer wieder Bevölkerungsgruppen des globalen Südens, die mit stärkeren Schwankungen von Rohstoffpreisen konfrontiert sind. Darüber hinaus finden sich in der Bedeutungszunahme des Finanzsektors auch Ursachen für den Trend steigender Ungleichheit: zum einen, weil sich ein größerer Anteil des volkswirtschaftlichen Einkommens bei Finanzakteuren sammelt und so eine neue Gruppe der „working rich“ entstehen konnte; zum anderen weil der Druck der Finanzmärkte auch auf Beschäftigungsverhältnisse im Industrie- und Dienstleistungssektor durchgreift, wo die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer_innen schwindet. Zu guter Letzt lässt sich auch eine Verschiebung der politischen Machtverhältnisse feststellen, nicht nur mit Blick auf direkte Einflusskanäle, sondern weil die Bedeutung der Finanzmärkte auf politische Entscheidungen strukturell durchschlägt: Finanzmarktinteressen erhalten ein größeres Gewicht in der Formulierung der Wirtschaftspolitik, zum Beispiel in Form einer glaubwürdigen Finanzpolitik, einer vermögensorientierten Geldpolitik oder einer Industriepolitik für den Finanzsektor.

Die seit 2007 anhaltende Finanzmarktkrise und die Art der Krisenpolitik in Europa unterstreicht diese Befunde. Die Rettung ‚systemrelevanter‘ Banken bei gleichzeitiger Verschlechterung der Lebensverhältnisse weiter Bevölkerungsteile ist Ausdruck der politischen Prioritätensetzung. Die skizzierten Finanzialisierungsprozesse weisen auch darauf hin, warum eine Institution wie die Europäische Zentralbank so mächtig werden konnte: Während andere Mittel der Krisenbearbeitung ideologisch oder materiell versperrt sind, konzentrieren sich die Maßnahmen der EZB auf die Stabilisierung der Finanzmärkte und deren Versorgung mit Liquidität, damit auch das realwirtschaftliche Wachstum wieder anzieht; bislang mit mäßigem Erfolg.

Was tun?

Mit Finanzialisierung steht nun im besten Fall ein analytisches Konzept zur Verfügung, das dabei hilft zu erkennen wie und wo Finanzmärkte strukturell einer sozialen und demokratischen Gesellschaftsordnung im Wege stehen. Leider neigt Kritik an Banken und Finanzmärkten, so rügte einst der Historiker Jakob Tanner, regelmäßig dazu sich entweder in „politischem Popanz“ zu ergehen oder „antisemitische Stereotype“ zu bedienen – die ‚Heuschrecken-‘ und ‚Rothschild-Diskurse‘ sind dafür bestes Anschauungsmaterial. Die fortdauernde Krise hat aber Möglichkeitsräume geöffnet, um fundamental über die Rolle von Banken und Finanzmärkten zu diskutieren. Wie lässt sich nicht nur der systematische Betrugscharakter des gegenwärtigen Finanzsystems ausschalten, den unlängst auch konservative Kommentatoren bemängeln, sondern wie kann ein Umbau desselbigen transformativ auf unser Wirtschaftsmodell wirken? Wie kommen wir von dem wohl wirklichkeitsnächsten Vorschlag einer Finanztransaktionssteuer weiter zur Stärkung neuer öffentlicher und genossenschaftlicher Modelle? Wie können wir das Finanzsystem verteilungsgerecht stutzen und die bislang äußerst technokratische und komplexe Finanzmarktregulierung demokratisierbar machen? Mit den ungelösten Schwierigkeiten von Commerzbank und Deutsche Bank sowie dem über allem schwebenden Digitalisierungstrend fängt hierzulande die Diskussion vielleicht erst richtig an. „Changes are taking the pace“, würde David Bowie sagen.

Daniel Mertens ist Politikwissenschaftler an der Goethe-Universität Frankfurt und forscht zu Themen der Vergleichenden und Internationalen Politischen Ökonomie. 2015 erschien sein Buch über Privatverschuldung und Finanzialisierung im Campus Verlag.