Mosaik oder Kaleidoskop

7 Thesen wieso die Linke heute über den Neoliberalismus hinaus statt dahinter zurück muss

Jan Schlemermeyer

„Der wichtigste Unterschied innerhalb der zeitgenössischen Linken verläuft zwischen Vertretern einer Politik des folkloristischen Lokalismus (…) und denen, die eine Politik entwerfen, die sich in einer Moderne der Abstraktion, Komplexität, Globalität und Technologie zu Hause fühlt“

(Nick Srnicek/Alex Williams)

 

Ein wesentliches, aber bisher eher wenig beachtetes Ergebnis der Debatte über die Grenzen und Möglichkeiten einer Mosaiklinken ist die folgende Überlegung: Die passende Metapher für das politische Subjekt einer befreiten, aber arbeitsteiligen Gesellschaft ist eher Kaleidoskop- als Mosaiklinke. Denn die Linke müsste heute vielmehr ein Prozess der grenzübergreifenden Veränderung, denn ein Akteur der ordentlichen Verwaltung sein. Die Grenze verläuft daher nicht mehr einfach zwischen einer reformistischen und einer radikalen Linken, sondern zwischen denen, die bereit sind, quer zu den Handlungsfeldern und Institutionen Potentiale des Gemeinsamen frei zu legen und entsprechende Verbindungen zu schaffen – und denjenigen, die auf der einen wie der anderen Seite die Krisen des globalen Kapitalismus mit einer reaktionären Rückkehr zur vermeintlichen Übersichtlichkeit von Nationalstaat, Identität oder Familie beantworten wollen. Warum die Grenzen neu gezogen werden müssen? Dazu im Folgenden sieben Thesen.

Mosaik- oder Kaleidoskoplinke — nicht nur eine Frage der Metapher

 

  1. Das Problem liegt heute weniger darin, dass es keine Vorschläge für andere, sozialere und ökologischere Politikinhalte geben würde – die gibt es entgegen der beklagten „Alternativlosigkeit“ massenhaft. Vielmehr fehlt sowohl für die Forderungen sozialer Bewegungen wie für die linker Parteipolitik insgesamt eine realistische Durchsetzungsperspektive. Die folgenlose Flut alternativer Konzepte ist insofern selbst schon zu einem Symptom der postdemokratischen Entpolitisierung geworden. Ein wesentlicher Grund für dieses praktische Scheitern linker Politik ist, dass die Auswirkungen der gesellschaftlichen Transformation seit den 1970er Jahren auf den Bereich des Politischen, das heißt der strategischen Formulierung und Konzeption, bisher nicht hinreichend reflektiert wurden. Denn als deren Folge stellt sich das linke Milieu als „kulturell segmentiert, sozial zerklüftet, politisch dadurch gespalten“ (Walter 2010) dar. Das erfordert ein neues „Wir“ jenseits alter Gruppen- oder Klassenidentitäten. Diskurstheoretisch formuliert geht es um sogenannte Äquivalenzketten oder Diskurskoalitionen“ (Mikfeld 2011). Dabei geht es nicht nur um die Frage der politischen Kooperationsfähigkeit innerhalb der Linken, sondern mehr noch um die Frage, inwiefern sie insgesamt zu ihrer sozialen Verbreiterung in der Lage ist. Denn wenn schwache Bewegungen mit lahmen Parteien kooperieren, bringt das, abgesehen von einer Menge Bündnistreffen, auch nicht viel.
  2. Diese Problemdiagnose verweist auf tieferliegende soziale Prozesse, insbesondere auf eine Erhöhung des Grades gesellschaftlicher Differenzierung, welche die klassisch fordistischen Formen linker Politik, wie zum Beispiel das Konzept der „politischen Führung“ und der „Eroberung der politischen Macht“ (Kellner/Lieberam/Steigerwald 2013), problematisch gemacht haben. Eine moderne Konzeption linker Politik muss daher systematisch auf diese Ausdifferenzierungsprozesse reagieren, wenn die politische Linke in absehbarer Zeit gesellschaftlich wirkmächtig werden will. Da heute weithin unklar zu sein scheint, wie eine linke Politik das Problem (und die Chance) der Freiheit systematisch in eine Strategie gesellschaftlicher Veränderung einbauen kann, ist die theoretische Frage nach einer übergreifenden Vermittlung unterschiedlicher Handlungsfelder und Interessen auch eine von praktischer Relevanz. Politisch meint das die Aufgabe, einen linken Umgang mit dem aktuellen Grad der gesellschaftlichen Differenzierung zu finden, der in der Lage ist, das Freiheits- und Individualitätsversprechen des Neoliberalismus kritisch gewendet aufzunehmen und insofern als strategische Handlungsanleitung einer Praxis dienen kann, die soziale Gerechtigkeit durch und nicht trotz politischer Freiheit grenzübergreifend verwirklicht.
  3. Genau an diesem Punkt setzen verschiedene, häufig etwas blumig klingende Konzepte zur Rekonfiguration linker Politik, wie „Mosaiklinke“ (Urban 2009) und „Multitude“ (Hardt/Negri 2004) an. Damit ist – bei allen Unterschieden im Detail – der Anspruch verbunden, eine Neudefinition des Konzeptes materieller Demokratie zu leisten, indem dessen Fokussierung auf die fordistische Industriegesellschaft und deren Akteure seitens der meisten linken Spektren durch eine „postfundamentalistische Öffnung“ des Politikverständnisses insgesamt vermieden wird. Demnach haben „Gesellschaften des entwickelten Kapitalismus einen Grad an Komplexität erreicht, in dem kein Akteur a priori feldübergreifende Handlungskompetenz reklamieren kann“ (Urban 2012). In diesem Sinne werden „Bewegungen“ und „Regierung“ bzw. „Institution“ insgesamt nicht mehr als bloß empirische Akteure, sondern als unterschiedliche soziale Handlungsformen bzw. -felder gedacht, die auf der Grundlage eines programmatischen Umbaus der Institutionen der parlamentarischen Demokratie und einer Rekonfiguration des Selbstverständnisses von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften verbunden werden können. Das meint insbesondere eine Absage an jede Form avantgardistischer Politik und ein Verständnis von Solidarität, das die Veränderung des eigenen Standpunktes als produktive Chance einkalkuliert. Gerade „deswegen sind die Methoden der Erarbeitung von Gemeinsamkeiten und Differenzen zentral“ (Buckel/Ypsilanti 2012).
  4. Soll es sich bei den Ansätzen zur Redefinition linker Politik um mehr als bloße „Metaphern der politischen Rhetorik“ (Urban 2012) handeln, gilt es einen Begriff des politischen Feldes zu entwickeln, der die instrumentelle Vorstellung von (Bündnis-)Politik überwindet. Angesichts der strategischen Ratlosigkeit der politischen Linken scheint die Feststellung des Systemtheoretikers Uwe Schimank, dass sich die materialistische Theorie bisher ausgiebig den Analysen entlang der vertikalen Ungleichheits- und Herrschaftsdimension von Gesellschaft und (zu) wenig dem Aspekt der horizontalen Ungleichartigkeit der verschiedenen Handlungsfelder gewidmet hat (Schimank 2000) nicht ganz aus der Luft gegriffen. Ansatzpunkt für eine umfassendere Betrachtung des Problems kann daher zunächst die theoretische Feststellung sein, dass kapitalistische Gesellschaften nicht nur als Herrschaftsordnungen, sondern ebenso auf der „Sachebene“ als komplexe Systeme von Organisationen beschrieben werden können. Komplex meint hierbei erst einmal die schlichte Tatsache, dass eine adäquate Beschreibung des Kapitalismus „vieler Sätze (oder Formeln) bedarf“ (Ernst 2009) und nicht einfach aus einer Logik oder der Herrschaft einer sozialen Klasse abgeleitet werden kann. In der Sache selbst ist soziale Differenzierung dabei begründet, da sie in der erkenntnistheoretischen „Unmöglichkeit [wurzelt], Information mehr als bis zu einem gewissen Ausmaß zu reduzieren.“  
  5. Innerhalb der Linken wird soziale Komplexität jedoch häufig nur positiv im Sinne einer Zunahme von Optionen und nur selten als eine Form der negativen Strukturierung von Wahlmöglichkeiten aufgrund der Überforderung von Verarbeitungskompetenzen verstanden. Dabei liegt hier vielleicht der Schlüssel zum Verständnis der Berechtigung verschiedener Bereiche, wie eben Partei und Bewegung. Dass es keine „objektive“ Antwort auf die Frage nach einer menschlichen und zugleich auch „funktionierenden“ Form der gesellschaftlichen Reproduktion gibt (wie liberale und marxistische Technokratie gerne glauben wollte), heißt nicht, dass einfach alles unmittelbar möglich ist. Will man also nicht einer reaktionären Reduktion von Komplexität das Wort reden, sondern vielmehr am Ziel einer „Demokratisierung der Differenzierung“ (Alex Demirovic) festhalten, stellt sich die Frage, ob die „Sachdimension“ kapitalistischer Herrschaft als eine spezifische Ebene gesellschaftlicher Vermittlung mit eigener Dichte politisch ernster genommen werden sollte. Schließlich wird das „Reich der Freiheit“ auf absehbare Zeit auch noch mit einem „sozialen Reich der Notwendigkeit“, also einem bestimmten Stand der Formen sozialer Informationsverarbeitung verbunden sein. Denn die Ausbildung verschiedener Rationalitätsformen, Institutionentypen und Spezialisierungen ist eben auch ein historisches Ergebnis von sozialen Praxen, Erfahrungen und Wissensbeständen, die gesellschaftlich sedimentieren. Das aber heißt, soziale Differenzierung als ein integrales Moment moderner Gesellschaften zu begreifen, das weder voluntaristisch übergangen werden kann, noch einfach in Herrschaft aufgeht, sondern vielmehr einen widersprüchlichen Bestandteil der sozialen Realität darstellt – und als solcher immer auch von Subalternen erkämpft wurde.
  6. Diese Analyse hat Auswirkungen auf die Konzeption von Zielvorstellung wie Modus linker Politik. Denn genau hier – in der Einsicht in die widersprüchliche Rationalität einer gesellschaftlichen Reproduktion durch soziale Differenzierung – liegt die Aufgabe, dem sich alle Ansätze zur Neubestimmung linker Politik unter den Bedingungen der komplexen kapitalistischen Gesellschaft stellen müssen. Dabei geht es um nicht weniger als das Problem, dass es bisher kein dem Kapitalismus ebenbürtiges, emanzipatorisches Konzept eines Systems gibt, welches die gesellschaftliche Gesamtarbeit im globalen Maßstab in Einzeltätigkeiten zerlegt und diese wieder zusammenführt. Daher muss die Organisationsleistung und der Rationalitätsfortschritt konkret innerhalb der Handlungsfelder des Bestehenden, die „Erweiterung sozialer Freiheiten bereits in institutionellen Errungenschaften, in veränderten Rechtssetzungen und kaum mehr rückgängig zu machenden Mentalitätsverschiebungen“ (Honnneth 2015) analysiert werden. Alle Versuche dieses Problem zu umgehen, verweigern sich der Einsicht in die Zweckrationalität verschiedener Handlungsfelder mittels der politischen Phantasie eines souveränen Neuanfangs. Oder um dasselbe Problem nochmal mit der etwas theologischen Metapher eines anderen Systemtheoretikers zu beschreiben: „Am Anfang war das weiße Blatt, nicht das Wort – aber nur am Anfang, danach nicht mehr, danach gibt es kein Anfangen mehr, sondern nur ein Weitermachen.“ (Nassehi 2015)
  7. Entledigen sich die Ansätze zur Neubestimmung linker Politik von der Souveränitätsfiktion eines Bruchs, egal ob er nun als Phantasie eines revolutionären Neustarts (Unsichtbares Komitee 2010) oder eines etatistischen Gesamtplans (Wagenknecht 2016) auf das weiße Blatt einer doch längst beschriebenen Gesellschaft gezeichnet wird, dann können sie reformuliert werden. Das würde diese Ansätze von der nach wie vor mitschwingenden Bedeutung einer so ausgeklügelten wie instrumentellen Taktik befreien. Auf der Ebene des politischen Modus würde das die autoritäre Frage nach der Integration durch jene nach den adäquaten Übersetzungsformen zwischen verschiedenen, jeweils eben auch funktional begründbaren sozialen Logiken ablösen. Ein Einrichten im Bestehenden (oder gar eine Absage an die prinzipielle Unterscheidbarkeit von links und rechts, wie sie einigen Systemtheoretiker vorschwebt) muss das nicht heißen, denn schließlich gibt es „keine soziale Funktion, welche die Gesellschaft nicht entbehren könnte (…). Nichts kann verhindern, dass die Gesellschaft die Verfassung oder das Eigentumsrecht aufgibt, sofern etwas an ihre Stelle tritt, was als funktionales Äquivalent dieser Struktur wirken kann“ (Bachur 2013). Veränderung aber wäre dann – jenseits von Reform und Revolution – zu denken als ein Prozess der Transformation mit kaum kalkulierbaren Rückkoppelungen. Befreiung als Zielvorstellung wäre insofern nicht mehr das Tabula-Rasa am Ende aller Tage, sondern vielmehr die Entfesselung der vielfältigen Rationalitäten sozialer Arbeitsteilung aus den Systemzwängen ihrer kapitalistischen Form. Mit anderen Worten: Das Ziel wäre am Ende ein „zwangloses Zusammenspiel aller sozialen Freiheiten in der Differenz ihrer jeweiligen Funktionen“ (Honneth 2015).

 

Jan Schlemermeyer ist Politikwissenschaftler, lebt in Berlin und ist u.a. bei Blockupy aktiv. Er ist Mitautor eines Bandes zu Geschichte und Organisierung der Antifa (theorie.org) und arbeitet bei der LINKEN.

 

Literatur

Bachur, Joao Paulo (2013): Kapitalismus und funktionale Differenzierung – eine kritische Rekonstruktion, Baden-Baden.

Buckel, Sonja/Ypsilanti, Andrea (2012): Crossover, in: Brand, Ulrich et al (2012): ABC der Alternativen 2.0, Hamburg.

Ernst, Gernot (2009): Komplexität – ‚Chaostheorie‘ und die Linke, Stuttgart.

Hardt, Michael/Negri, Antonio (2004): Multitude, Frankfurt am Main.

Honneth, Axel (2015): Sozialismus reloaded – und revidiert, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2015.

Kellner, Manuel/Lieberam, Ekkehard/Steigerwald, Robert (2013): Reform und Revolution. Revolutions- und Klassentheorie im 21. Jahrhundert. Hamburg.

Mikfeld, Benjamin (2011): Auf der Suche nach dem Gemeinsamen – Überlegungen zur Zukunft der pluralen Linken, in: Blätter für internationale Politik (2011): Exit – Mit Links aus der Krise, Berlin.

Nassehi, Armin (2015): Die letzte Stunde der Wahrheit -  warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss, Hamburg.

Schimank, Uwe (2000): Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Opladen.

Unsichtbares Komitee (2010): Der kommende Aufstand. Hamburg.

Urban, Hans-Jürgen (2009): Die Mosaik-Linke, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2009.

Urban, Hans-Jürgen (2012): Mosaiklinke, in Brand, Ulrich et al (2012): ABC der Alternativen, Hamburg.

Walter, Franz (2010): Vorwärts oder abwärts? Zur Transformation der Sozialdemokratie, Berlin.

Wagenknecht, Sahra (2016): Reichtum ohne Gier: Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten, Frankfurt.