09.03.2017

Ein Rückfall hinter Gabriel?

Was an der Debatte über die Vorschläge von Martin Schulz so nervt

Alban Werner

Die Debatte um die Vorschläge von Martin Schulz zu Korrekturen an der Agenda 2010 geht in die falsche Richtung. Sicherlich, es wäre ein Fortschritt, wenn das Arbeitslosengeld I länger gezahlt würde und weniger Leute ins Hartz IV-System geraten. Auch gegen freiwillige Qualifizierungsangebote für Erwerbslose ist an und für sich nichts einzuwenden. Es bleibt aber das Problem, dass die vorgeschlagene Maßnahme nicht zum Kern des Irrtums von Hartz IV vordringt.
Der Kern des Irrtums liegt darin, für eine hohe Erwerbsarbeitslosigkeit die Verfassung des Arbeitsmarktes verantwortlich zu machen, d.h. Regulierungen zu Gunsten der Beschäftigten wie Kündigungsschutz, Tarifverträge und eben die Absicherung durch das Erwerbsarbeitslosengeld. Sicherlich gibt es auch ›Mismatch‹-Arbeitslosigkeit, d.h. freie Stellen passen nicht zu jenen, die ihre Arbeitskraft anbieten. Aber damit alleine kann man keine Erwerbslosigkeit in Millionenhöhe erklären, deswegen greift der Ansatz zu kurz, hauptsächlich auf Qualifizierungsmaßnahmen zu setzen.
Über Umfang und Struktur von Beschäftigung wird nicht direkt auf dem Arbeitsmarkt entschieden, sondern vielmehr indirekt durch die Menge und die Struktur der Nachfrage auf den Warenmärkten. Nur wenn eine ausreichende Menge Güter und Dienstleistungen gekauft werden, wenn ausreichend investiert wird, werden bei gegebener technischer Ausrüstung auch entsprechend viele Leute angestellt. Reformen à la Agenda 2010 bewirken hingegen ein Wachstum des Niedriglohnsektors, der die Löhne insgesamt herunterzieht. Der Niedriglohnsektor ist eine lebensverlängernde Maßnahme für Unternehmen, die aufgrund ihrer niedrigen Produktivität und/oder ihrer schikanösen Praktiken ansonsten aus dem Markt ausscheiden müssten.
Wenn die Politik will, dass mehr Leute zu Bedingungen ›guter Arbeit‹ eingestellt werden, muss sie durch Instrumente wie kluge Regulierungen und Investitionen dafür sorgen, dass mehr Arbeitskraft nachgefragt wird - im Zweifelsfall, weil die Unternehmen sie dringend brauchen, um ihre volleren Auftragsbücher abzuarbeiten und sich mit neuerer und z.B. ökologisch verträglicherer Ausrüstung zu versorgen, ihre Güter oder Dienstleistungen auf die Höhe der Zeit zu bringen usw.
Ich erinnere mich an einen typischen Satz, der zur Hochzeit der Agenda 2010-Durchsetzung mantrahaft wieder und wieder abgespult wurde: »Die Politik kann keine Arbeitsplätze schaffen, sie kann nur die Bedingungen für die Unternehmen verbessern«. Dieses Dogma verfing, so wie auch der Glaube, man müsse ein Mehr an Erwerbsbeschäftigung durch ein weniger an Lohn und Sozialstaat erkaufen. Er wurde begleitet von der ideologischen Anrufung der ›schwäbischen Hausfrau‹, die besagt, man könne wirtschaftliche Gesundung und den Abbau der Staatsverschuldung durch eine rigide Sparpolitik erreichen.
Diese Dogmen bilden zusammen das ideologische Skelett und Fleisch der Agenda 2010. Dagegen frontal angehen zu wollen ist keine Spitzfindigkeit, sondern heute eine der wichtigsten Aufgaben. Denn wenn diese Glaubenssätze nicht aus den Köpfen gedrängt werden, werden sich diejenigen, die sie mit vollster Überzeugung oder mangels besseren Wissens vertreten, weiterhin mit Erfolg bei Koalitionsverhandlungen, am Kabinettstisch und natürlich in den Sprechblasenausleerungsveranstaltungen des deutschen Fernsehens, kurz den Talkshows auf sie berufen.

Leider höre ich weder von Parteilinken bei SPD und Bündnisgrünen, noch von denen in meiner Partei DIE LINKE oft und deutlich genug, dass sie die oben genannten ideologischen Grundlagen der Agenda 2010 in Frage stellen. Martin Schulz und der SPD Unehrlichkeit oder Inkonsequenz vorzuwerfen, mag zwar für den einzelnen Linksaktivisten das eigene Gewissen wärmen und sogar sachlich zutreffen. An der gesamtgesellschaftlichen Lage jedoch ändert es wenig. Vor allem drohen den KritikerInnen der Agenda 2010 jeder parteipolitischen Couleur und Radikalität ganz andere Probleme. Dann nämlich, wenn die Unionsparteien sich aufraffen und feststellen, dass ihre beste Chance auf Sieg gegen die SPD darin besteht, voll auf die Sicherheits- und die Steuersenkungskarte zu setzen.
Viele WählerInnen, auch von SPD, Bündnisgrünen und LINKE werden sich dann denken: »Gerechtigkeit ist ja schön und gut, aber warum krieg ich nicht unterm Strich mehr raus?«. Stattdessen zeigen sich die Parteien links von Union und FDP - selbst noch ganz kalt erwischt von der Möglichkeit, dass die nächste Bundestagswahl doch nicht von vornherein verloren ist - von ihrer hilflosen Seite. Gerade weil Union und FDP nur mit der steuerpolitischen Karte gewinnen können, müssten ihre linken KonkurrentInnen jetzt zeigen, dass sie nicht nur umverteilen können. Sie müssten erstens herausstellen, worin das Ziel der Umverteilung besteht und zweitens, dass sie auch bessere Vorschläge zur Erwirtschaftung dessen haben, was umverteilt werden soll.

Im Prinzip wusste das sogar Sigmar Gabriel, obwohl er alles dafür tat, auch seine besseren Ideen unglaubwürdig zu machen. Im Gespräch mit dem hauseigenen Debattenmagazin ›Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte‹ sagte er z.B.:
»Warum jetzt eine Krankenschwester oder ein Krankenpfleger, oder, noch schlimmer, eine Altenpflegerin oder ein Altenpfleger auf die Idee kommen sollen, SPD zu wählen, das ist jedenfalls an ihrem Alltag nicht so schnell herauszufinden. Wir kommen dann und erklären denen, wie toll eine Bürgerversicherung ist. Die wollen aber erst einmal wissen: ›Tut ihr eigentlich etwas dafür, dass ich als Altenpflegerin nicht meine Ausbildung auch noch selber bezahlen muss? Und kriege ich hier mal vernünftige Arbeits- und Entlohnungsbedingungen?«
Hinter das, was sogar Sigmar Gabriel durchschaut hat, sollte man nicht zurückfallen.