Über die Aushöhlung der Solidarität

In der Flüchtlingsfrage lassen sich Pragmatik und Programmatik nicht trennen

Yuval Eylon

Die Themen Flucht und Migration haben die Linke weltweit gespalten. Während sich insbesondere in den krisengeplagten Ländern Spanien und Griechenland eine Welle der Solidarität zeigte, konnte man gleichzeitig von prominenten DenkerInnen und PolitikerInnen aus der radikalen und nicht-ganz-so radikalen Linken Argumente vernehmen, die wie ein Echo der rechten Mobilisierung gegen Geflüchtete klangen.

Diese Argumente reichten von einer grundsätzlichen Rechtfertigung der Abschottungspolitik bis hin zu instrumentellen und pragmatischen Überlegungen, dass eine geflüchtetenfeindliche Rhetorik und entsprechende Maßnahmen notwendig seien, um politische Macht zu erringen und damit den Aufstieg der radikalen Rechten zu stoppen.

Dieses pragmatische Argument kann allerdings nicht getrennt von dem grundsätzlichen Argument betrachtet werden. Es hat zur Voraussetzung, dass bei der Übernahme von flüchtlingsfeindlichen Positionen der langfristige Schaden nicht den erhofften kurzfristige Nutzen übersteigt, weil beispielsweise Grundwerte und Begründungen für progressive Politik in der Öffentlichkeit untergraben werden.

Bevor wir uns aber dem pragmatischen Argument zuwenden, sollten wir einen kurzen Blick auf die gebräuchlichen Begründungen für flüchtlingsfeindliche Maßnahmen werfen und ihre Stichhaltigkeit überprüfen.

Eine Auffassung besteht darin, dass die Ankunft Geflüchteter legitime Bedenken hervorruft, die als Begründung für den Widerstand gegen eine wirtschaftsliberale Politik dienen können. Solche legitimen Befürchtungen reichten von einer verstärkten Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt über Bedenken bezüglich kultureller Eigenheiten von Geflüchteten bis hin zu einer Gegnerschaft zu einer weiteren Beschleunigung gesellschaftlichen Wandels. Eine andere Position ist, dass offene Grenzen dem Kapital nutzen und ein Herrschaftsinstrument darstellen. Diese Positionen können dementsprechend als kommunitaristisch bzw. als marxistisch kategorisiert werden. Beide stimmen darüber ein, dass eine Rhetorik und eine Politik gegen Geflüchtete übernommen werden sollten, um lokale Interessen zu verteidigen.

Die kommunitaristische Position lässt sich in dem Satz: „Solidarität beginnt zu Hause“ zusammenfassen. In der Konsequenz bedeutet sie, dass die Solidarität mit der eigenen Community und der hiesigen Arbeiterklasse größer sei als die Solidarität mit Geflüchteten. Diese Position hat seit den 1990er Jahren sehr an Popularität gewonnen. Sie geht davon aus, dass Menschen eher solidarisch handeln, wenn die Adressaten von Solidarität der eigenen Gruppe angehören. Aus diesem Grund, so wird nahegelegt, seien multikulturelle Gesellschaften weniger ansprechbar für linke Diskurse.

Der kommunitaristische Standpunkt befasst sich also mit Abwägungen. Er beruht auf der verhältnismäßig unbestreitbaren Vorstellung, dass es unter Umständen bei Entscheidungen zwischen konfligierenden Bedürfnissen moralisch legitim und politisch notwendig sein kann, bei sonst gleichen Voraussetzungen Staatsbürger gegenüber Nichtstaatsbürgern zu bevorzugen.

Nichtsdestotrotz lässt sich derzeit ein geflüchtetenfeindlicher Standpunkt nur mit der Vortäuschung dieser Abwägung rechtfertigen. Denn die Entscheidung müsste nicht nur das Gewicht sondern auch die Art der widerstreitenden Bedürfnisse in Betracht ziehen. Die elementare Not Geflüchteter ist mit den konkurrierenden Ansprüchen nicht vergleichbar. Wenn man also gegenwärtig Geflüchtete in die Betrachtung mit einbezieht, wird man kaum eine Alternative zu den viel geschmähten liberalen Politiken finden. Die Alternative wäre Geflüchtete gar nicht in die Abwägung mit einzubeziehen.

Wird schnell hohl: Solidarität.

Diese extreme Variante des Kommunitarismus, die nur die Interessen der lokalen Bevölkerung in Betracht zieht, bringt uns zu dem marxistischen Argument. Das besteht nicht darin, dass die lokale Bevölkerung zu bevorzugen sei, weil die Interessen der Geflüchteten gleichgültig seien, sondern weil abgeriegelte Grenzen die notwendige Bedingung für eine progressive Politik seien.

Nur zu welchem Preis? Wenn man solche eine Sichtweise — oder genauer solch eine Blindheit — gegenüber Interessen anderer einnimmt, und wenn man die vorgenannten Überlegungen der drängenden Not von Geflüchteten überordnet, dann treten linke Grundwerte wie Solidarität und Gleichheit hinter diskriminierende Auffassungen der Rechten zurück. Bei der Übernahme von den Begründungen jener, die sich gegen Geflüchtete wenden, wird nicht nur eine moralische Grundlage aufgegeben, sondern überhaupt die Basis jedes linken, öffentlichen Diskurses.

Es ist wichtig, den Unterschied zwischen den strategischen Gründen und den öffentlich geäußerten Begründungen für derartige Politiken zu beachten. Tut man dies, dann wird offenbar, dass man mit den besten Begründungen und der Behauptung dem Allgemeinwohl zu dienen, die verderblichsten Politiken verteidigen kann, vermeintlich ohne die ihnen zu Grunde liegenden Rationalitäten zu übernehmen. Das ist jedoch illusorisch.

Die Übernahme von Argumenten und Positionen, die auf einer Sprache der Grenzen, der Abschottung und der kategorialen Unterscheidung zwischen „uns“ und „ihnen“, zwischen „Bruder“ und „Gegner“ beruht, wird für die Linke noch nicht einmal kurzfristig Gewinn bringen und ihr auf lange Sicht massiv schaden. Das wäre so, als würde man z.B. antisemitische Stereotype verwenden, um gegen Rassismus zu kämpfen. Man gewinnt wenn überhaupt kurzfristig einige WählerInnenstimmen, aber die Legitimierung und Ergänzung rassistischer Propaganda ist das Gegenteil kluger Politik.

Yuval Eylon ist Gastdozent an der Fakultät für Geschichte, Philosophie und jüdische Studien der „Open University of Israel“. Die Übersetzung besorgte Stefan Gerbing.