Feminismus, Islam und Psychoanalyse

Muslimisch und links: Wie geht das zusammen?

Susanne Schade

Die Mehrdeutigkeit der Begriffe Feminismus und Islam erlaubt es nicht, einen festen Standpunkt zu beziehen. Die emanzipatorischsten Formen des Feminismus sind womöglich inkompatibel mit dem Islam, während andere Formen des Feminismus mit dem Islam vereinbar sind. Es ist nahezu augenscheinlich, dass die meisten Debatten zum feministischem Islam oder muslimischen Feminismus in der akademischen Welt stattfinden (Ali, 2014:21) und dennoch werden im Alltag viele verschiedene Formen von Widerstand gegen eine patriarchalische Gesellschaft entwickelt, von Musliminnen, deren Stimmen nicht in die Öffentlichkeit dringen, die leise um eine bessere Stellung in der Gesellschaft ringen.

Erst kürzlich hatte ich Gelegenheit, eine junge Muslima kennenzulernen, die gar nicht so recht in das Bild des konservativen Stereotypes passen wollte: ohne Kopftuch und politisch queer und links. Aber wie geht das zusammen? In der linken Tradition wird Religionskritik großgeschrieben, es wird sich schwergetan, Muslime zu politisieren und mit ihnen solidarisch zu sein. Dabei wird meist ein theoretisches Feuerwerk bemüht, dass von Hegel über Feuerbach bis zu Marx reicht und Religion als eine „illusorische Sonne“ begreift, „die sich um den Menschen bewegt, solange er sich nicht um sich selbst bewegt“ (MEW, Bd1: 379).

Wie sieht noch einmal gleich eine Feministin aus?

Nun sind wir mit einer gesellschaftlichen Situation konfrontiert, in der sich Menschen noch nicht um sich selbst bewegen, sondern in der Religion sich auch eine Reflexion auf die Schwächen des Kapitalismus darstellt. Die junge Muslima, mit der ich sprach, beschreibt die Bedeutung von Religion aus ihrer Sicht folgendermaßen:

„Es ist eher so eine kulturelle Identität. Ich bete jetzt nicht fünf Mal am Tag, aber ich bete auch ab und zu an Feiertagen ... ich trinke zwar jetzt Alkohol aber ich habe das lange Zeit auch nicht gemacht aus politischen Gründen, weil ich der Meinung war, dass Nikotin und Alkohol den revolutionären Geist so bändigen, dass man schlechte Zustände dadurch eher hinnimmt. Es macht viel Sinn  zu sagen, ein nüchterner Geist ist ein hellerer Geist. Schweinefleisch esse ich auch nicht, also ich ernähre mich vegan. Für mich ist auch so Nächstenliebe und für andere Leute auch aufstehen und nicht zu gucken, wenn irgendetwas passiert. Das ist für mich so Praxis.“

In verschiedener Hinsicht erfüllt Religion ihr Begehren: den Wunsch nach Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, mit der sie sich identifiziert, denn sie nimmt sich selbst als nichtdeutsch wahr, den Wunsch nach mütterlicher Versorgung, der eigenen, aber auch der Nächstenliebe für andere und einen Lebensstil, bei dem sie sich einen revolutionären Geist bewahrt. Nicht nur wird hier die orale Funktion von Religion deutlich, sondern auch das Halt gebende Moment der Religion und damit einer Gemeinschaft, die sehr anders ist als der Kapitalismus (vgl. Winnicott, 2006 [1974].)

Aus freudianischer Perspektive wird Religion - zumindest das Christentum - als Vater-Komplex abgewertet, an dem sich die menschliche Hilflosigkeit und die infantile Vatersehnsucht zeigt (Freud, 2000 [1927]). Im Islam wird von Psychoanalytiker-Kollegen auf den Mutter-Komplex verwiesen (Benslama, 2009). Mit Blasphemie aus wissenschaftlicher oder auch psychoanalytischer Sicht ist dennoch kein Erkenntnisgewinn zu erhoffen, der an die praktischen Erfahrungen der Muslim*innen anknüpft und sie von einer „illusorischen Sonne“ mehr zu einer Drehung um sich selbst bewegt.

Auch in linken Debatten muss es darum gehen, sich der je subjektiven Wirklichkeit von Menschen zuzuwenden. Viel zu häufig wird in der Kritik alles Bestehenden das Gemeinsame aus den Augen verloren. Genauso wie im Iran in den 1970er Jahren viele Iraner auch Kommunisten waren, können Religion und politisches Handeln Hand in Hand gehen. Denn im Kapitalismus erfinden Menschen recht ausgefallene Praktiken, um mit der bestehenden Situation zurecht zu kommen. Sie flüchten in den Konsum, um ihrer Freiheit durch den Besitz von immer mehr Produkten Ausdruck zu verleihen und um ihre täglich erfahrene Entfremdung ertragen zu können, sie verändern sich charakterlich durch die Anforderungen ihres Berufes und gestalten soziale Beziehungen als Austauschbeziehungen, weil Tausch das vorherrschenden ökonomische Prinzip ist.
Auch Muslime finden auf ihre Art und Weise einen Umgang mit der gesellschaftlichen Situation. Das mögen viele Linke nicht gut finden, aber es ist eben ihre Weise – ihre je subjektive Erfahrungswelt - und diese macht sie nicht zu besseren Menschen aber auch nicht zu schlechteren Menschen. Sie nehmen sich in erste Linie anders war und es ist nicht verwunderlich, dass auch viele ihre Religion oftmals konservativer praktizieren, als in ihrem Herkunftsland - aus einer Flucht heraus von erfahrenem Rassismus, Diskriminierung und Ausgrenzung. Religion gibt auch Halt in einer Gesellschaft, in der vieles unübersichtlich geworden ist, in der der soziale Aufstieg häufig nur für eine weiße Mehrheit möglich ist.

So antwortet auch die junge Muslima auf meine Frage hin, wie für sie Feminismus und Islam zusammengehen:

Für mich selbst ist im Islam Feminismus und Justice drin, gegen Rassismus, gegen
Sexismus, gegen jede Art und Ungerecht-Behandlung. Also für mich gehört dazu, eine
gute Muslima zu sein, gegen soziale Ungerechtigkeit zu kämpfen und deshalb ist er gut
für mich der Islam.“

Insofern bedeutet Religion nicht nur, sich um eine Sonne zu drehen, sondern gerade auch den Weg zurück zu finden zu einer Gesellschaft in der sich einmal mehr alles um den Menschen dreht (vgl. Schade, in press). In diesem Sinne kann Religion auch etwas Schönes sein.

Susanne Schade studierte Psychologie und Linguistik in Dresden, Manchester und Sheffield. Seit 2001 ist sie assoziertes Mitglied der Discourse Unit Manchester, dem Centre for Qualitative and Theoretical Research on the Reproduction and Transformation of Language, Subjectivity and Practice, und aktuell in der psychoanalytischen Weiterbildung.

Quellen:

Ali, Zahra (2014). Islamische Feminismen. Wien, Passagen Verlag.

Freud, Sigmund (2000[1927]). Die Zukunft einer Illusion. Studienausgabe. Band IX. Frankfurt, Fischer Verlag: 135-189.

Benslama, Fethi (2009). Psychoanalysis and the Challenge of Islam. Minneapolis, University of Minnesota Press.

MEW (1976). Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Berlin, Dietz Verlag, Band 1.: 378-391.

Schade, Susanne (in press). Feminism, Islam and Psychoanalysis. Conference Publication. Islamic Psychoanalysis / Psychoanalytic Islam Conference, College of Psychoanalysts – UK.

Winnicott, D.W. (2006[1974]). Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Gießen, Psychosozial Verlag.