Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen zwischen den Geschlechtern

Gisela Notz

Grenzen trennen Menschen willkürlich. Um Grenzen werden, seit wir die Geschichte zurückverfolgen können, Kriege geführt. Einerseits scheinen Grenzen unwichtiger zu werden, andererseits entstehen neue Grenzen, die zu Bedrohungen und Risiken führen, wenn sie überschritten werden. Güter, Kapital und Waffen können sich frei über die Grenzen hinweg bewegen. Menschen nicht. In diesem Artikel soll es um die Grenzen zwischen den Geschlechtern gehen, die ebenso lange zu Geschlechterkriegen führen. Man sollte alle Grenzen einreißen.

Die erste sozialistische Frauenbewegung

Sozialistinnen der proletarischen Frauenbewegung wollten keinen Geschlechterkrieg, sie wollten die Geschlechterdifferenz überwinden, indem sie Schulter an Schulter mit den Männern ihrer Klasse für Ebenbürtigkeit, Gleichberechtigung und für ein besseres Leben für alle kämpften. Sie waren der Überzeugung, dass dies nur in gemeinsamen Kampf für die Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse zu erreichen sei. Oft merkten sie dabei nicht, dass sie immer einige Schritte hinten den Männern zurückgelassen wurden. Für diese Frauen verlief die Trennlinie zwischen der bürgerlichen und der proletarischen Frauenbewegung. Es waren die „bürgerlichen Damen“, die um gleiche Teilhabe an den Privilegien der Männer ihrer Klasse durch Reformen innerhalb der bestehenden kapitalistischen Gesellschaft kämpften. Sie betonten die weibliche „Andersartigkeit“ gegenüber den Männern und schürten damit Gegensätze zwischen den Geschlechtern, wollten aber die Klassengegensätze und das kapitalistische System aufrechterhalten, indem sie diese für ihre Interessen nutzen wollten. Dass die große Masse der Proletarierinnen weiter in politischer Rechtlosigkeit gehalten wurde, war nicht ihr Problem. Das machte eine Zusammenarbeit mit ihnen schier unmöglich.

Pauline Staegemann

Allerdings kam es auch innerhalb der sozialistischen Frauenbewegung zu Grenzziehungen zwischen den Geschlechtern. Der 1873 durch Pauline Staegemann (1838 – 1909) mitgegründete Berliner Arbeiterfrauen- und Mädchenverein, der sich „auf den Boden der klassenbewussten Sozialdemokratie“ stellte, nahm ausschließlich Frauen und Mädchen auf. Offensichtlich wollten seine Anhängerinnen schon damals keinen „Nebenwiderspruch“ in der Frauenfrage sehen. Die „Absonderung der Frauen von den Männern“ wurde (nicht nur) durch Clara Zetkin (1857 – 1933) verurteilt. Allerdings schien auch sie zunehmend am gemeinsamen Kampf mit den Männern zu zweifeln. Sie war die treibende Kraft, die am 17. August 1907 auf der ersten internationalen Konferenz sozialistischer Frauen eine eigene Frauenorganisation gründete. Freilich sah sie darin vor allem ein Mittel, die Frauen der sozialistischen Parteien der Welt zu aktivieren und damit auch das Gewicht der internationalen Linken zu stärken. Das Hauptanliegen schien jedoch zu sein, „die unentbehrlichste Waffe für uns, das Frauenstimmrecht, mit erobern zu helfen“, wie Ottilie Baader (1847 – 1925) in ihrer Eröffnungsrede betonte. Auch ihr ging es um den „Kampf aller Ausgebeuteten ohne Unterschied des Geschlechts gegen alle Ausbeutenden, ebenfalls ohne Unterschied des Geschlechts.“ So wie sie dachten die meisten Sozialistinnen. Jede „ernste Frauenbewegung“ sollte eine soziale Kampfbewegung als Teil der proletarischen Gesamtbewegung sein. Man ging davon aus, dass es in der zu erreichenden sozialistischen Gesellschaft keine Geschlechterunterschiede mehr gibt.

Ottilie Baader (hinten links)

Nach der Auslösung des Ersten Weltkriegs verfasste Clara Zetkin im November 1914 einen Aufruf „an die sozialistischen Frauen aller Länder“, in dem sie sich entschieden gegen den Krieg und für breite Friedensaktionen aussprach. Nun wollte sie nicht mehr Schulter an Schulter mit den Männern kämpfen, auch nicht mit denjenigen ihrer Klasse. Zu viele waren auf der Seite der Kriegsbegeisterten: „Wenn die Männer töten“, so schrieb sie, „so ist es an uns Frauen, für die Erhaltung des Lebens zu kämpfen. Wenn die Männer schweigen, so ist es unsere Pflicht, erfüllt von unseren Idealen, die Stimme zu erheben.“ Damit hat sie nicht nur die Solidarität mit den Genossen aufgekündigt, sondern den sozialistischen Frauen die Rolle der „Erhalterinnen des Lebens“ zugewiesen und eine klare Grenzziehung zwischen den Geschlechtern propagiert. Die innerparteilichen Auseinandersetzungen über die weitere Bewilligung von Kriegskrediten spalteten auch die sozialistische Frauenbewegung. Davon hat sie sich bis heute nicht erholt.

Die „Neuen Frauenbewegungen“ der 1970er Jahre

Die engagierten Frauen aus dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) brachten die Grenzziehung zwischen den Geschlechtern wieder auf die Tagesordnung. Die These vom „Nebenwiderspruch“ lehnten die meisten ab. Sie wollten die Klassenfrage im Zusammenhang mit der Geschlechterfrage betrachten. Sie kritisierten den Widerspruch zwischen den politischen Ansprüchen und Theorien und dem praktischen frauendiskriminierenden Verhalten ihrer Genossen, die einerseits gegen Unterdrückung und Unrecht kämpften sowie die Emanzipation der Arbeiterklasse forderten, sich aber den weiblichen SDS-Mitgliedern gegenüber reichlich autoritär verhielten. Gerade „ihre Männer“ wollten die Tatsache der doppelten Unterdrückung der Frauen durch Kapitalismus und Patriarchat nicht zur Kenntnis nehmen. Helke Sander hatte in ihrer Rede am 13. September 1968 auf der 23. Delegiertenkonferenz des SDS in Frankfurt/Main, die sie im Auftrag des Aktionsrates zur Befreiung der Frau hielt, die „Trennung zwischen Privatleben und gesellschaftlichem Leben“ kritisiert. Sie lehnte es ab, damit „auf Zeiten nach der Revolution (zu) warten, da eine nur politisch-ökonomische Revolution die Verdrängung des Privatlebens nicht aufhebt, was in allen sozialistischen Ländern bewiesen ist“. Auch die SDS-Frauen hatten bis dahin immer Seite an Seite mit den Männern für eine sozialistische Gesellschaft gekämpft. Nun kämpften sie gegen die Arbeitsteilung entlang der Geschlechterlinie und entlarvten den SDS als „Männerbund“. Sie gingen sogar so weit, sich im Spannungsfeld zwischen öffentlichen und häuslichen Sphären eigene, „männerfreie“ Räume zu schaffen, um ihre Erfahrungen und Vorstellungen in den Mittelpunkt zu stellen. Radikale autonome Feministinnen sahen die patriarchale Geschlechterunterdrückung als grundlegende Strukturkategorie der herrschenden Gesellschaft an und verfolgten daher die Abschaffung des Patriarchats als oberstes Ziel.

Die in den USA lebende Radikalfeministin Shulamit Firestone unterschied in Anlehnung an das marxistische Klassenmodell „die Klasse der Männer und die Klasse der Frauen“. Ihr Anliegen war es, „eine Analyse der Dynamik des Kampfes der Geschlechter [zu] entwickeln, die genauso gründlich sein sollte wie die Analyse des Klassenwiderspruchs von Marx und  Engels für die ökonomische Revolution“. Auch in der BRD folgten Feministinnen der These, dass das „geschlechtsspezifische Klassensystem“ tiefer verankert sei als jede andere soziale oder ökonomische Spaltung. Erst mit dem Verschwinden patriarchaler Machtverhältnisse würde auch die kapitalistische Ausbeutung beendet sein. Die Strategien zur Lösung der mit der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung verbundenen Diskriminierungen wurden kontrovers diskutiert. Daraus ergab sich auch die Frage, wie Männer und Frauen zusammen leben wollten. Monogame, heterosexuelle Kleinfamilie und die domestizierte Hausfrau galten als Erfindung des Kapitalismus und als Kolonie des „kleinen weißen Mannes“, mit der er sich die Reproduktion der Arbeitskraft kostenlos aneignen kann. Statt weiter über die (Un)vereinbarkeit von Familie und Beruf zu lamentieren oder nach aufreibenden „partnerschaftlichen“ Lösungen zu suchen, sahen vor allem Frauen einen Vorteil in kollektiven Lösungen des Zusammenlebens. Gemeinsam mit anderen wollten sie in ebenbürtigen Geschlechterstrukturen leben, wirtschaften und (eventuell) Kinder erziehen, ohne Besitzansprüche, Ausbeutung, Unterdrückung und Gewalt.  

Ohne diese Zeit des geschlechterpolitischen Aufbruchs wären die vielfältigen Lebensformen und die aktuellen Debatten um die Auflösung der Grenzen zwischen den Geschlechtern, wie wir sie heute kennen, nicht möglich geworden. Der erkämpfte Stand der Emanzipation ist (nicht nur) durch rechtspopulistische Strömungen in Gefahr, zurückgedreht zu werden. Damit das nicht geschieht, brauchen wir über Geschlechtergrenzen hinausgehende emanzipatorische Bündnisse zwischen Menschen aus Parteien und Institutionen und solchen die außerparlamentarisch in die  Politik eingreifen wollen.

Gisela Notz, Sozialwissenschaftlerin und Historikerin, Berlin. Sie schrieb zum Weiterlesen Feminismus, Köln, PapyRossa 2011 sowie Kritik des Familismus, Stuttgart , Schmetterling 2015.