Gretchenfrage

Sag mir, wie hältst Du’s mit dem Staatsversagen

Staatsversagen: Den einstigen Kampfbegriff der Neoliberalen hat die AfD übernommen und umgedeutet. Wir haben sechs LINKE gefragt: Sag mir, wie hältst Du‘s mit dem Staatsversagen.

Martina Renner

Martina Renner

Ich liege schon lange mit dem Wort „Staatsversagen“ über Kreuz. Genauer, seit diesen Monaten nach der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) am 4.11.2011. Schnell war klar: Das Scheitern der Fahndung nach dem Kerntrio, die katastrophal falsche Ermittlungsarbeit der Polizei und der flächendeckende Aufbau einer ganzen Szene von Neonazis durch Behörden waren nicht Ausdruck des Versagens, sondern Ausdruck des Funktionierens eines Systems. Der NSU war kein Unfall sondern Konsequenz. Aber irgendwie sprach niemand von Schuld, man vermied das Wort Staatskrise oder Staatsverbrechen. In Italien oder der Türkei wäre man da forscher in der Analyse gewesen. Dort war immer denkbar, dass der Staat Teil von rechtem Terror ist. Aber in der Bundesrepublik sprach man vornehm von „Staatsversagen“. Das Wort ist so geschmeidig wie falsch, wenn es um das Gewährenlassen von Neonazi-VerbrecherInnen geht. Es suggerierte, in der Aufarbeitung des NSU-Komplexes ginge es um ein einmaliges und auf Pannen oder menschlichen Fehlentscheidungen beruhendes Nichtfunktionieren der Sicherheitsbehörden. In dieser Erzählung haben die Behörden lediglich zu wenige Daten getauscht und der Föderalismus hat die Zusammenarbeit der Polizeien behindert. Weiterlesen.[1]

Martina Renner war stellvertretende Vorsitzende im thüringischen Untersuchungsausschuss, heute ist sie Obfrau im NSA-Untersuchungsausschuss[2]

Kolja Möller

Kolja Möller

„Staatsversagen“ –war der Kampfbegriff, der den Aufstieg der AfD ermöglichte. Die These lautet: Der Staat verliert seine Autorität, wenn die Grenzen für Einwanderungsbewegungen offen sind. So konnte die AfD bis weit in die gesellschaftliche Mitte und Linke hinein Ängste vor einem angeblich drohenden Kontrollverlust mobilisieren. Der These vom Staatsversagen liegt jedoch ein folgenreiches Missverständnis zugrunde. Denn der (moderne) Staat ist Verfassungsstaat. Er ist an Recht, Verfassung und das internationale Recht gebunden, mithin auch an die Menschenrechte. Er bezieht seine Autorität nicht aus der Polizei, dem Militär, der effektiven Vollkontrolle des gesellschaftlichen Lebens oder der Überwachung der BürgerInnen, sondern aus dem Umstand, dass er seine Herrschaft in rechtlich gebundener Form ausübt. Daraus folgt zweierlei: 1. Er kann sich nicht vollständig gegen Einwanderungsbewegungen schließen, erst recht nicht gegen Fluchtbewegungen, die aus Bürgerkriegen, politischer Verfolgung und humanitären Katastrophen erwachsen. 2. Der Staat „versagt“ erst dann, wenn er sich systematisch nicht mehr an Recht und Verfassung hält. Selbst wenn es ihm nicht gelingt, gesellschaftliche Problemlagen adäquat zu verwalten, versagt er nicht. Ein demokratischer Staat kann und muss es aushalten, dass er nicht alles und jeden immerzu kontrollieren und alle Probleme sofort lösen kann … Weiterlesen[3].

Kolja Möller ist Mitglied der *prager frühling Redaktion.

Ralf Krämer

Ralf Krämer

Erst mal genau hingucken, was oder wer da eigentlich oder angeblich versagt, in welcher Hinsicht, was die Hintergründe sind, und wem das nützt. Der Staat ist kein monolithischer Block. Er ist kapitalistischer Staat, aber als demokratisch verfasster Rechts- und Sozialstaat auch eine Beschränkung kapitalistischer Herrschaft und zentrales Instrument linker Politik.
Wenn der Staat dabei versagt, die Steuergesetze gegenüber Reichen und Konzernen konsequent zu vollziehen, müssen Linke dies anprangern. Wenn ihm nicht gelingt, Staatsprojekte wie Militäreinsätze und Aufrüstung, Stärkung der Geheimdienste und Vertiefung einer ausgeprägt neoliberalen EU-Integration und Globalisierung wie geplant durchzusetzen, sollten Linke das begrüßen und daran aktiv beteiligt sein dies zu erreichen.
„Staatsversagen!“ ist aber vor allem ein Schlachtruf der Neoliberalen. Und zwar sehr häufig nach der Methode „Haltet den Dieb!“: Erst werden öffentliche Infrastrukturen, Dienstleistungen und der Sozialstaat durch Ausgabenkürzungen und Steuersenkungen systematisch kaputt „gespart“, dann folgt die Klage über „Staatsversagen“ und der Ruf nach Privatisierung. Hier müssen Linke konsequent gegenhalten.
Dem steht manchmal ein naiver Antietatismus in Teilen der Linken entgegen, der den Staat nur als Zwangssystem betrachtet. Ablehnung unnötiger Kontrollen und Einschränkungen persönlicher Freiheit ist richtig, aber Linken muss es um Gleichheit der Freiheit und Entwicklungsmöglichkeiten gehen. Das erfordert demokratische Gestaltung mittels Einrichtungen, die dafür die Durchsetzungsmacht haben. Ein öffentliches Bildungswesen mit Schulpflicht und gesetzliche Sozialversicherungen sind links. Auch vermeintlich „progressive Entstaatlichung“ endet oft in vertieften sozialen Spaltungen und Entdemokratisierung.

Ralf Krämer ist Mitglied im Parteivorstand von DIE LINKE.

Thies Gleiss

Thies Gleiss

Eine die linke Debatte seit hundertfünfzig Jahren prägende Sorge, ist die Frage, ob der herrschende Staat und seine Institutionen für eine emanzipatorische Politik benutzt werden können, oder ob sie überwunden und ersetzt werden müssen. Der „Klassencharakter des Staates“ hat in der linken Gemeinde schon viele Debatten und wird noch viele weitere bestimmen. Solche Diskussionen geben Sinn und rechtfertigen die dabei geleerten Rotweinflaschen und Fassbrausegläser.

Einige führende Mitglieder der Partei DIE LINKE machen sich allerdings im Vorwahlkampf 2017 ganz andere Sorgen. Es findet als „letzter Ausweg“ aus einer sich vertiefenden Legitimationskrise der herrschenden Klasse und ihrer politischen Parteien eine „Sicherheitsdebatte“ statt. Das ist immer die letzte Karte der Bourgeoisie besonders in Wahlkampfzeiten. Die politischen Kräfte, die stets behaupten, es gäbe keine Alternative zu ihrer Politik und alles würde für alle gut werden, fühlen sich offenkundig so unsicher, dass sie ihre eigene Propaganda als Lügen demaskieren und behaupten, alle Menschen wären in Gefahr. Deshalb müssten Armee und Polizei sowie die Überwachung und anlasslose Kontrolle ausgebaut werden. Die Grenzen müssten geschlossen werden, damit niemand hineinkommt, der nicht hinein soll. Weiterlesen.[4]

Thies Gleiss ist Mitglied des ADFC und im Parteivorstand von DIE LINKE.

Fabio di Masi

Fabio de Masi

Die Deutsche Bahn nervt und macht auf Börsenbahn. Aber ist die Telekom AG netter als Bundespost? Staats-TV mit Knoff Hoff Show war langweilig. Aber brauchen wir RTL II, Deutschlands härteste Verkehrspolizisten und Sozial-Porno? Einen Staat kann man verbessern. Aber Macht von Multis oder Warlords ist absolut. Im gescheiterten Staat Somalia geht es nicht freier zu. Mit Norbert Blüm wäre die Rente sicher, mit Riester und Maschmeyer sicher nicht. Und die neue Stasi heißt Facebook & Google. Ohne Flüchtlingshelfer oder Sportvereine keine Integration von Flüchtlingen. Aber ohne Schulen geht nix. In den 1990er Jahren privatisierte Rot-Rot in Berlin Wohnungsbau. Das hieß „progressive Entstaatlichung" - heute explodieren die Mieten. Daher: Nicht den Staat bekämpfen sondern absolute Macht. Ob von Deutscher Bank oder Donald Trump. Make Bundesbahn Great Again.

Fabio De Masi ist Ökonom und MdEP.

Harald Wolf

Harald Wolf

„Staatsversagen“ war zunächst ein Kampfbegriff des Neoliberalismus gegen staatliche Interventionen in die Wirtschaft. Wirtschaftskrisen seien demnach eine Folge staatlicher Eingriffe, die das reibungslose Funktionieren des „freien Marktes“ stören. Heute ist „Staatsversagen“ vor allem ein rechtspopulistischer Kampfbegriff. „Staatsversagen“ sei die als „Merkels Grenzöffnung“ bezeichnete Einreise tausender syrischer Flüchtlinge gewesen. Dies habe zu einem staatlichen „Kontrollverlust“ und zu einer „Herrschaft des Unrechts“ (Seehofer) geführt und schließlich zu „Merkels Toten“ (Pretzel) am Breitscheidplatz. Der Gegenentwurf zum „Staatsversagen“ ist damit klar: Ein totale Kontrolle ausübender „starker Staat“ und geschlossene Grenzen, um das „deutsche Volk“ vor Flüchtlingen und Terrorismus zu schützen. Kritik von links stimmt deshalb nicht in das Gerede vom Staatsversagen ein, sondern legt sich mit den hinter staatlichem Handeln stehenden politischen und Klasseninteressen an.

Harald Wolf ist Mitglied der LINKSFRAKTION im Berliner Abgeordnetenhaus.

Links:

  1. https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/1356.sag-mir-wie-hältst-du-es-mit-dem-staatsversagen.html
  2. https://de.wikipedia.org/wiki/NSA-Untersuchungsausschuss
  3. https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/1354.sag-mir-wie-hältst-du-es-mit-dem-staatsversagen.html
  4. https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/1357.sag-mir-wie-hältst-du-es-mit-dem-staatsversagen.html