06.06.2017

Dystopien der Gegenwart

Rezension: Eva Schörkhuber: Nachricht an den Großen Bären, Wien 2017, 20 Euro

Stefan Gerbing

Das Ende der Blockkonfrontation war der Beginn einer Trivialisierung des dystopischen Romans. Das vermeintliche „Ende der Geschichte” und die scheinbare globale Durchsetzung liberaler Herrschaft ließ literarische und soziale Utopien zeitweilig genauso überflüssig scheinen, wie dystopische Warnungen vor totalen Herrschaftssystemen.

Der gegenwärtige Aufstieg protofaschistischer Parteien sowie die Mehrfachkrise in Europa bewirken seit einigen Jahren eine Re-Politisierung und eine neue gesellschaftliche Relevanz des Genres. Gleichzeitig erscheinen die etablierten Ordnungen derart fragil, dass die literarische Kritik der Gegenwart nicht mehr in eine ferne Zukunft verlegt zu werden braucht. Wenn der radikale Umbruch bereits stattfindet, bereits die nahe Zukunft als unvorstellbar anders vorgestellt wird, eignet sich auch die kommende Dekade zum Gegenstand literarischer Zukunftsfiktion.

Prominentestes Beispiel einer solchen Futurologie auf kurze Distanz dürfte Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung” sein, der wie eine Prophezeiung gelesen wurde und Resonanz weit über den Literaturbetrieb hinaus erfuhr. Die österreichische Autorin Eva Schörkhuber beschreitet nun mit ihrem zweiten Roman „Nachricht an den Großen Bären” das gleiche Terrain wie Houellebecq. Sie betritt es jedoch aus entgegengesetzter Richtung. Zwar bewegt sich auch Schörkhuber erzählerisch in einer sehr nahen Zukunft, in einer zutiefst polarisierten Gesellschaft im Ausnahmezustand. Auf die Krise der EU folgte in Schörkhubers Dystopie der nationale Rückbezug. Dieser ist jedoch selbst mehr Krisenphänomen als die von den Rechten versprochene Re-Souveränisierung und mündet in der Zerstörung von Staatlichkeit und demokratisch legitimierter Herrschaft.

Wo der französische Autor ironisch die lustvolle Unterwerfung unter einen modernisierten Euro-Islamismus beschreibt, dessen patriarchale Ordnung die Subjekte von der Anstrengung von Emanzipation und Freiheit regressiv erlöst, ist Schörkhubers Fixpunkt der emanzipatorische Widerstand gegen die faschisierten Verhältnisse. In Schörkhubers Dystopie sind die südlichen Staaten Europas kolonisiert und zu peripheren Zonen degradiert, in denen „die Überflüssigen” in Schuldknechtschaft gehalten werden. In den Zentren regieren die „Habgeier” und herrscht „die Meute”. Die Hauptprotagonistin des Romans, Su, schmuggelt im Zug reisend Dokumente über eine nicht näher benannte, wiederentstandene Grenze. Empfänger ist eine mystische Zelle des Widerstands. Sie sinniert dabei über ihre Geliebte, die sich bereits früher und radikaler dem „Widerstand“ angeschlossen hat. Jenseits dieses Rahmens besteht der Text aus Fragmenten und Abschweifungen, die zu einer Collage gefügt werden. Diese enthält Bilder vom Einbruch nationalsozialistischer Tätergeschichte in die Trivialität des Seniorenheimalltags, Impressionen der Radikalisierung eines Mannes im Umfeld der „Identitären Bewegung“ und Eindrücke aus der Selbsterzählung eines der „Habgeier“. Realität, Reflexion, Erinnerung und Tagträume von Su verschwimmen auf der langen Zugfahrt durch die Provinz.

Die Autorin Eva Schörkhuber

So sympathisch die Haltung der Autorin, so drängend die Fragen, denen sie sich widmet, ihr Buch vermag nur zum Teil zu überzeugen. Die Vorstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse wird stärker durch Stichworte als durch Handlung erzeugt. Schörkhubers Vision eines kolonisierten und in Zonen aufgeteilten europäischen Südens mangelt es an Tiefe. Sie ist lediglich die abziehbildhafte Überzeichnung der Gegenwart, zu real und zu klischeehaft zugleich.

Ärgerlich ist auch die übergriffige Ansprache der Leser*in in der zweiten Personen. Die klingt zu Beginn der Kapitel beispielsweise so: „Du wirst dich jetzt auf meine Stimme konzentrieren“. „Sie“, die Stimme, „wird dich auf eine Reise schicken. Sie wird dir zeigen, wie deine Welt in ein paar Jahren aussehen wird. Du wirst sehen wie du dich dann verhalten wirst. Ich zähle jetzt von eins bis zehn.“ Und leider wird man diese Stimme tatsächlich nicht mehr los. Spätestens beim Dritten „Ich zähle jetzt bis zehn und dann ...“, möchte man, dass diese unbeholfene Suggestionsprosa endlich aufhört.

Wenn stimmt, dass der Zwang sich permanent auf eine von bloß zwei Seiten zu schlagen das Übel unserer Zeit ist, hätten dem Buch mehr Zweifel, mehr anarchistische Freude an der Uneindeutigkeit, mehr echte Konfrontationen gut getan. Die Hauptfigur steht nicht nur immer auf der richtigen Seite, sie hat zudem weder Abgründe, noch erkennbare tiefergehende Konflikte, ja sie hat noch nicht einmal Angst, denn „Angst ist doch das größte Problem hier“, wie sie sagt. Nun müssen sich auch in einer Dystopie die Charaktere nicht von den Verhältnissen überwältigen lassen. Wenn sie jedoch von ihnen nur äußerlich tangiert werden, so laufen sie Gefahr, in die Nähe eines kitschigen Heroismus zu geraten.