10.10.2017

Der verleugnete Bruder Nabokows

Rezension: Paul Russell. Das unwirkliche Leben des Sergej Nabokow. Männerschwarm

Bodo Niendel

Zum einhundertsten Jubiläum der russischen Oktoberrevolution erscheint ein besonderes Buch. Paul Russell lässt die Leser*innen in die turbulenten Jahre um den Ersten Weltkrieg eintauchen und zeigt eine weitgehend unbekannte Facette dieser Zeit. Russell erzählt die Geschichte von Sergej Nabokow, dem kleinen Bruders des bekannten russischen Autors Wladimir Nabokow.

Der Ich-Erzähler berichtet über Sergejs erste schwule Erlebnisse während der Kriegswirren in Russland. Diese bleiben auch seiner Familie aus der Oberschicht St. Petersburgs nicht verborgen. Doch während die beiden Brüder Sergej und Wladimir von materiellen Nöten befreit sind, ist die Homosexualität Sergejs nicht einmal in Ansätzen lebbar.

Die Eltern versuchen ihm die Homosexualität mit ärztlicher Hilfe auszutreiben, doch wie jede „Homoheilung“, so scheitert auch diese. Die Anerkennung seines Vaters bleibt Sergej verwehrt und auch sein Bruder Wladimir lehnt seinen schwulen Bruder ab.

Die Oberschichtsfamilie Nabokovs lehnt die ausbrechende Revolution ab und flieht, zunächst gehen die Kinder ins Exil später auch die Eltern. In verschiedenen europäischen Metropolen leben die Brüder innerhalb oder am Rande avantgardistischer Künstlerkreise. Doch obwohl manchmal zeitgleich in einer Stadt beheimatet, verleugnet Wladimir seinen Bruder bis zu dessen Tod.

Der Autor Paul Russell lässt die Leser*innen das tosende Bohème-Leben Sergejs nachspüren: Kunst, Opium, ausschweifende Partys und tiefe Krisen prägen dessen Leben. Bei den Avantgardisten ist Sergejs Homosexualität häufig akzeptiert und so freundet er sich in Paris mit dem berühmten Schriftsteller Jean Cocteau an. Mit einem deutschen Adligen erlebt er auf einem Schloss in Österreich kurzes Liebesglück. Sie werden denunziert, im Bett von der Polizei überrascht und wegen Verstoßes gegen den Paragraphen 129 I des österreichischen Strafgesetzbuches, der Homosexualität unter Strafe stellte, verurteilt. Nach seiner Freilassung versucht Sergej ausgerechnet im faschistischen Berlin beruflich Fuß zu fassen, als Übersetzer im Reichspropagandaministerium. Beschuldigt ein britischer Spion zu sein, wird er schließlich ins Konzentrationslager eingewiesen.

Russell zeichnet mit diesem wunderbaren Roman das kurze unbekannte Leben des Bruders, des zu Weltruhm gelangten Wladimir Nabokow nach. Der Roman lebt von der plastischen Nachzeichnung des rasanten Lebens Sergejs, der familiären Konflikte und der Verhältnisse einer Welt, die aus den Fugen gerät. Der Roman fesselt auch dank der guten Recherche Russells und ist gerade sprachlich überzeugend. Eine tragische, eine wunderbare Erzählung.

 

Paul Russell. Das unwirkliche Leben des Sergej Nabokow. Männerschwarm 2017, 24 Euro. Der Rezensent Bodo Niendel ist Referent für queer-Politik der Bundestagsfraktion DIE LINKE.