Die SPD-Linke nach der Wahl

Thilo Scholle

Die Sozialdemokratie hat die dritte Wahl in Folge verloren. Mit 20,5 % der abgegebenen Stimmen erzielte sie das schlechteste Wahlergebnis seit mehr als 100 Jahren. Bei der Suche nach den Ursachen ist es geboten, nicht bei einem Blick auf die Kampagne zur Bundestagswahl und die Performance der Partei in den letzten Monaten stehen zu bleiben. Die Ursachen für diese Wahlniederlage liegen tiefer. Nötig ist auch ein Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen und Trends mindestens der letzten 20 Jahre.

Zu beachten sind zudem die weiteren Verschiebungen im politischen Spektrum. Die AfD ist mit stolzen 12,6 % ins Parlament eingezogen. Es steht zu befürchten, dass dies den Raum des öffentlich Sagbaren deutlich nach rechts erweitern wird. Und beinahe am wichtigsten: Fast ein Viertel der Wahlberechtigten hat gar nicht gewählt - und viele von ihnen tun dies schon seit langem nicht mehr. Eine große Gruppe steht so  am Rande der politischen und gesellschaftlichen Debatten, hat sich aus der politischen und gesellschaftlichen Willensbildung weitgehend verabschiedet. Menschen, die politische Debatten gar nicht mehr verfolgen, die für gesellschaftliches Engagement nicht mehr erreichbar sind, und von denen ein Teil – längst nicht alle – bei dieser Wahl die AfD gewählt haben. Dies ist nicht nur für das Funktionieren eines demokratischen Gemeinwesens ein großes Problem, sondern gerade auch für die Sozialdemokratie, zeigen doch Untersuchungen, dass der Anteil der NichtwählerInnen in sozial prekären Milieus im Vergleich zu wohlhabenden deutlich steigt.

Regulierung des digitalen Kapitalismus oder Revolution?

Für das Wahlergebnis der SPD tragen zudem weder das Wahlprogramm noch die Regierungsbilanz (oder der Spitzenkandidat) die Hauptschuld. Insbesondere im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik kann sich die Regierungsbilanz durchaus sehen lassen. Beispielsweise mit der Forderung nach der Abschaffung sachgrundloser Befristungen war auch im Regierungsprogramm progressives Potential vorhanden. Es scheint aber nach wie vor so zu sein, dass punktuell richtige Regierungspolitik rund um den Mindestlohn oder die Einführung der Rente mit 63  nicht ausreicht, um einmal verspieltes Vertrauen zurückzugewinnen. Zudem ist es nicht gelungen, Regierungsarbeit und die eigene weitergehende politische Agenda in ein nachvollziehbares Verhältnis zu bringen. Die Parteistruktur als inhaltlicher Motor und als Schnittstelle zu Zivilgesellschaft und politischem Umfeld fiel in den letzten Jahren weitgehend aus. Für den allgemeinen Betrachter erschien es daher zumeist so, als ob mit einem in der Groko erzielten Kompromiss auch die sozialdemokratische Forderung erledigt war.

Nötig ist vor allem ein Blick auf die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre. Zu beobachten ist ein äußerst disparates Bild. Während ein großer Teil der Bevölkerung in Umfragen weitgehende Zufriedenheit mit der eigenen Lage angibt, kämpft ein anderer Teil mit prekären Beschäftigungsverhältnissen und der Angst vor dem Abstieg. Fast scheint es so, als ob momentan bei vielen vor allem der Wunsch nach dem Bewahren des Status quo im Mittelpunkt steht, und nicht der Wunsch nach weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen – v.a. auch aus der Angst heraus, dass es dann schlechter und nicht besser werden könnte. Schief wäre es, diese Spaltung mit dem zuletzt vermehrt diskutierten Gegensatz von weltoffenen Kosmopoliten und eher auf Abschottung setzenden Protektionisten zu verbinden. Die Kombination aus kultureller Progressivität und ökonomischer Marktgläubigkeit ist genauso möglich wie eine Kombination aus dem Wunsch nach sozialer Sicherheit und Weltoffenheit. Hinzu kommt: Der Vertrauensverlust der Sozialdemokratie bei Teilen ihrer angestammten WählerInnenschaft entstand in den letzten Jahren nicht, weil sie kulturell zu progressiv auftrat, sondern weil sie schlicht nicht mehr die ökonomischen Interessen – und damit verbunden die Ansprüche auf soziale Würde – dieser Gruppen bediente. Neue gesellschaftliche Allianzen lassen sich an einer solchen Spaltungslinie nicht bilden.

Aufgabe der Sozialdemokratie der nächsten Jahre wird vor allem sein, Allianzen und Solidaritäten über einen Bereich zu entwickeln und programmatisch zu füllen, der für den ganz überwiegenden Teil der Menschen nach wie vor die größte Relevanz für ihre Identität, ihren sozialen Status in der Gesellschaft und ihre materielle Existenz besitzt: Den der Arbeitsgesellschaft. Statt sich in Debatten über kulturelle Moderne, Heimatgefühle oder Kosmopolitismus zu verheddern, liegt hier das Potential, eine neue politische Klammer zu schaffen. Inhaltlich wird dies nicht einfach sein, da ein Bogen vom Facharbeiter aus der Automobilindustrie über den IT-Freelancer bis zum prekär beschäftigten Dienstleister zu schlagen ist. Zudem muss es darum gehen, individuelle Autonomiewünsche in der Arbeit, wie sie durch die Digitalisierung möglich werden, mit dem Wunsch nach sozialer Absicherung zu verbinden. Beispielweise mit dem Konzept der Arbeitsversicherung liegen in diese Richtung zielende Politikentwürfe seit langem vor. Was noch immer weitgehend fehlt, ist auch ein ideelles Dach für diese Politik. Politisches Ziel ist eine Gesellschaft, in der jede/r Leben und Arbeit weitgehend nach eigenen Wünschen und Interessen gestalten kann.

Die aktuellen Debatten um die Beschaffenheit und mögliche Gestaltbarkeit eines „digitalen Kapitalismus[1]“ könnten Anknüpfungspunkt für einen solchen Diskussionsprozess sein.

Für die SPD muss es in den kommenden Jahren darum gehen, um diese Fragen ein progressives gesellschaftliches Projekt zu formulieren. Die Parteilinke muss in diesem Prozess ins Zentrum der Partei gehen, und inhaltlicher Motor eines solchen Prozesses sein. Und sie darf sich vor persönlicher politischer Verantwortung nicht scheuen, vor diesem Hintergrund war die Wahl von Andrea Nahles zur Fraktionsvorsitzenden ein guter Auftakt.

Thilo Scholle ist Mitlglied der Redaktion der Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft (spw).

Links:

  1. https://www.fes.de/de/digitalcapitalism