Potentielle Streikbrecher oder zukünftige Genoss*innen

Die Diskussion über Migration & Arbeiterbewegung in historischer Perspektive

Janis Ehling

AfD-nah oder No-Border-neoliberal[1], so lauten gegenwärtig die wechselseitigen Vorwürfe in der Migrationsfrage. In schlechter Tradition sprechen sich Linke mal wieder gegenseitig das Linkssein ab. Dabei sind die verschiedenen Haltungen in der Migrationsfrage so alt wie die Linke selbst.

Dreckige Iren und deutsche Streikbrecher

„Diese Leute, fast alle ohne Zivilisation aufgewachsen, an Entbehrungen aller Art von Jugend auf gewöhnt, roh, trunksüchtig, unbekümmert um die Zukunft, […] bringen alle ihre brutalen Sitten mit herüber“ und verderben die englische Arbeiterklasse, so schrieb Friedrich Engels über die irischen Einwanderer*innen.[1] Erst viel später sollte er diese Positionen, die heute wohl mit Fug und Recht als rassistisch bezeichnet werden würden, völlig revidieren.[2] Ganz so brutal und roh können die irischen Sitten auch nicht gewesen sein, da Engels beide Ehefrauen Irinnen waren. Doch nicht nur die Geschichte linker Vordenker war eng mit der Migrationsfrage verknüpft:

Haymarket riots

Am 1. Mai 1886 kam eine Arbeiterversammlung in Chicago zusammen. Sie feierte ihren ersten erfolgreichen Streik. Im Zuge dieses Streiks setzten die Fabrikbesitzer auf Massenaussperrungen. Sie versuchten mittels migrantischer Streikbrecher, unter anderem aus Deutschland, den Streik zu brechen. Dank einer erfolgreichen Kampagne der Arbeiter*innen fanden sich aber unter den Einwanderer*innen weniger Streikbrecher als gedacht. Der Streik weitete sich in den nächsten Mai-Tagen aus und ging als Haymarket Riots in die Geschichte ein. Dessen blutige Niederschlagung wurde zum Anlass den 1. Mai fortan als internationalen Kampftag der Arbeiterklasse zu begehen.

Solche und solche Arbeiter*innen

Die beiden berühmten Beispiele zeigen die Problematik der Migrationsfrage gut auf. Jegliche Gewerkschaft oder Genossenschaft ist durch ihre Mitglieder durch ein Innen und Außen definiert: Meist gut organisierte Arbeiter*innen schafften es Fabrikbesitzern und Unternehmern Rechte abzutrotzen. Diese erkämpften Vorrechte verteidigten sie gegen andere Arbeiter*innen, ob gegen Streikbrecherinnen oder Lohndrücker. Diese „Anderen“ waren in der damaligen Situation von anderer Herkunft, Religion, Hautfarbe oder Ethnie.[3] Sehr häufig wurden diese Unterschiede von den Unternehmern gezielt ausgenutzt und „Fremde“ eingesetzt, um die Arbeiter*innen gegeneinander auszuspielen.

Die chinesische Eisenbahn in den USA

Der wohl prominenteste Streit in der historischen Arbeiterbewegung ist der um chinesische und indische Vertragsarbeiter*innen. Für den Bau der Eisenbahn in den USA rekrutierten amerikanische Firmen chinesische Arbeiter*innen, die sie unter erbärmlichen Bedingungen und zu Hungerlöhnen anstellten. Ähnlich ging die englische Bourgeoisie nach dem Ende der Sklaverei vor. Sie rekrutierte für die Landwirtschaft und die Textilindustrie vor allem indische Vertragsarbeiter*innen. Die englischen und amerikanischen Arbeiter*innen wurden verdrängt. Ihre Gewerkschaften forderten daher eine Kampagne gegen Masseneinwanderung und Gastarbeiter*innen.

Der Konflikt in der II. Internationale

Eine völlig entgegensetzte Position zu den englischen und amerikanischen Gewerkschaften vertrat hingegen Wladimir I. Lenin. Er wies jede Begrenzung der Einwanderung als egoistisch, spießbürgerlich und zünftlerisch zurück.[4] Er argumentierte, dass nur der Kapitalismus die Arbeiter*innen aus ihren konservativen Strukturen in die Großstädte riss und damit in organisierte Arbeitsverhältnisse brachte.[5] Die Linken würden von den Migrationsbewegungen letztlich profitieren. Weil sich das Thema zu einem Riesenstreit auswuchs, befasste sich die II. Internationale auf dem Sozialistenkongress 1907 in Stuttgart prominent mit dem Thema. Es ging dabei um die Frage der Regulation der Migration, Gastarbeiter*innen, Mindestlohn und Wohnungen für Migrant*innen, um kriminelle Schleuser und eine Einwanderungsgesetzgebung usw.

Wie immer: Ein Kompromiss

Die Debatten wurden kontrovers, polemisch, aber auf hohem Niveau geführt. Die Debatten verliefen dabei anders als heute viele glauben: Rosa Luxemburg beantragte etwa den Mindestlohn für Einwander*innen zu streichen, weil sie die Forderung für völlig unrealistisch hielt.

Letztlich einigte sich der Kongress auf einen Kompromiss. Der Beschluss wurde geteilt in Ein- und Auswanderungsland. Für Einheimische wie Einwanderer*innen sollte Arbeitsschutz, die Verkürzung des Arbeitstages, ein Minimallohn sowie Kontrolle der Heimarbeit und der Wohnsituation gelten. Der Kongress wendete sich gegen jedwede Extraregelungen aufgrund von Nationalität, Rasse und Klasse. Die Einbürgerung müsse zügig erfolgen, damit Einheimische und Eingewanderte nicht gegeneinander gestellt werden können. Die Gewerkschaften sollten alles für die Eingliederung der Einwanderer*innen in ihre Reihen tun. Unfreie Vertragsarbeit, also Quasi-Sklaverei sollte verboten werden, jenen, die nicht frei über ihre Arbeitskraft verfügen konnten Ein- und Ausreise verboten werden. Für das Auswanderungsland forderte der Kongress rege gewerkschaftliche Agitation, Information über die wahren Zustände im Einwanderungsland, Einsatz für sichere Transportwege und das Vorgehen gegen kriminelle Schlepper, aber nicht gegen Migrant*innen.

Die Mehrheit denken

Der Ansatzpunkt des Beschlusses war es die konkreten Kämpfe und Bedürfnisse der jeweiligen Arbeiter*innen in den Vordergrund zu stellen. Der Antrag wurde aber sicherlich auch angenommen, weil das Thema Migration für die Linke damals präsenter war. Viele Linke waren selber vom „Damoklesschwert der Ausweisung“ (Karl Liebknecht) betroffen. Rosa Luxemburg kam durch eine Scheinehe an ihre deutsche Staatsbürgerschaft. Der spätere KPD-Vorsitzende Heinrich Brandler wurde aus mehreren deutschen Staaten wegen seiner politischen Aktivitäten ausgewiesen. Die Gesetzgebung zur Ein- und Auswanderung richtete sich nicht nur nach ökonomischen, sondern auch nach politischen Nützlichkeitskriterien.

Anschließend daran muss die heutige Linke darüber nachzudenken, welche Forderungen mehrheitsfähig sind oder wie sie Forderungen mehrheitsfähig machen kann. Die Migrationsdebatte wurde zwar häufig abstrakt geführt, den Ausschlag gab aber meist die Praxis:

Nein und Ja der englischen Gewerkschaften

Die englische Delegation verweigerte 1907 übrigens demonstrativ die Abstimmung. Bis in die 1970er richteten sich viele englische Gewerkschaften gegen Einwanderung. Nach den großen Textilarbeiter*innenstreiks indischer Arbeiterinnen Anfang der 70er änderten die meisten Gewerkschaften jedoch ihre Position. Nun wollten sie Migrant*innen selber gewerkschaftlich organisieren. Die Arbeiter*innen sollten so schwerer gegeneinander auszugespielen sein. Die Gewerkschaften wollten in ihrem eigenen Interesse natürlich auch verhindern, dass sich die Inder*innen eigene Gewerkschaften gründen. Antirassistische Arbeit gehört seit den 70ern in den meisten englischen Gewerkschaften zu den Basics, denn langfristig profitiert nur die Kapitalseite von der Spaltung der Arbeiter*innenschaft.

Janis Ehling beschäftigt sich viel mit der Geschichte der Linken und ist Mitglied im Parteivorstand der LINKEN

 

[1]     Friedrich Engels (1844): Die Lage der arbeitenden Klassen in England. Die irische Einwanderung. In: MEW 2: 320/32

[2]     Friedrich Engels (1887): Einwanderung in die USA. In: MEW 21: 253f).

[3]     Marcel van der Linden (2017): workers of the world. Eine Globalgeschichte der Arbeit. S.260/ 296ff.

[4]     Wladimir I. Lenin (1907): Der internationale Sozialistenkongreß in Stuttgart. In: LW 13: 71

[5]     Wladimir I. Lenin (1913): Kapitalismus und Arbeitsmigration. In: LW 19: 447ff.

Links:

  1. https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/1405.am-tiefpunkt.html