Wiedervorlage: Die Politik der „Gewerkschaftlichen Orientierung“

Harald Weinberg

Zur Einordnung der Politik der „gewerkschaftlichen Orientierung“ und der Entwicklung des SHB ist ein historischer Rückblick sinnvoll: 1959 vollzog die SPD mit dem „Godesberger Programm“ eine grundlegende Neuausrichtung, nämlich weg von einer – zumindest dem eigenen Selbstverständnis nach – sozialistischen Arbeiterpartei hin zu einer „linken Volkspartei“. Hintergrund hierfür war u.a. die 1953 vom Soziologen Helmut Schelsky geprägte Beschreibung der sich entwickelnden Sozialstruktur der BRD als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“, in der die traditionelle Klassenzugehörigkeit keine Rolle mehr spielen würde. Gleichzeitig vollzog die SPD mit dem „Godesberger Programm“ einige wesentliche Revisionen von bisherigen Grundpositionen: Es gab nun eine grundsätzliche Anerkennung der Landesverteidigung und somit der Wiederbewaffnung; man bekannte sich zur Westbindung und auch zur sozialen Marktwirtschaft mit dem von Karl Schiller geprägten Satz: „Wettbewerb soweit wie möglich Planung soweit nötig!“

Das Programm wurde schlussendlich mit großer Mehrheit verabschiedet. Im Vorfeld gab es jedoch heftige Auseinandersetzungen und sogar zwei Alternativentwürfe von Wolfgang Abendroth und Peter von Oertzen. Abendroth gehörte zu den Förderern des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS), der zu dieser Zeit noch die Studierendenorganisation der SPD war. Die SDS-Mehrheit unterstützte die Position Abendroths in der Programmdebatte.

Nach der Godesberger Wende kam es zwischen der SPD-Führung und der SDS-Mehrheit zu einer zunehmenden Entfremdung und Konfrontation. 1961 fasste die SPD-Spitze schließlich einen Unvereinbarkeitsbeschluss, der SDS-Mitglieder und Unterstützer wie Wolfgang Abendroth aus der Partei ausschloss. Schon ein Jahr zuvor wurde ein neuer parteibraver Studierendenverband gegen den SDS in Stellung gebracht, nämlich der Sozialdemokratische Hochschulbund (SHB). Dieser bewegte sich zunächst auch völlig auf der Linie des Godesberger Programms.

Marxistische Renaissance und StaMoKap

Im Zuge der 68er Studentenbewegung mit seiner Renaissance marxistischer Theorieaneignung entwickelte sich auch der SHB immer weiter nach links. Dabei gehörte der SHB mehrheitlich eher zu den „Traditionalisten“ und wendete sich zunehmend der Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus“ — umgangssprachlich SMK oder StaMoKap — zu. 1972 eskalierte der schwelende Streit mit der SPD an der Namensfrage; es kam zur Aberkennung der Bezeichnung „Sozialdemokratisch“. Seitdem hieß der SHB nun „Sozialistischer Hochschulbund“. Bald darauf wurden die ersten Juso-Hochschulgruppen gegründet, die dem SHB an den Hochschulen Konkurrenz machen sollten. Ein Unvereinbarkeitsbeschluss wurde im Parteivorstand mehrmals erwogen, aber letztlich nicht umgesetzt.

Die SMK-Theorie hatte als historische Kapitalismusanalyse in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts eine weite Verbreitung und einen großen Einfluss auf die sozialistische und die kommunistische Linke der BRD. Ihr Einfluss reichte aber bis weit in die Sozialdemokratie hinein.

Staatsmonopolistischer Kapitalismus war in dieser Analyse die Bezeichnung für eine bestimmte historische Phase des (Spät-)Kapitalismus, die im Kern durch zwei besondere ökonomische und politische Merkmale gekennzeichnet ist:[1]

Erstens: Zunehmende Kapitalkonzentration und die Dominanz von oligopolistischen oder monopolistischen Strukturen wie multinationale Konzerne und multinationales Finanzkapital in nahezu allen wichtigen Branchen.
Zweitens: Eine wechselseitige Durchdringung der staatlichen mit diesen monopolistischen Strukturen im Sinne von Beeinflussung (Lobbyismus) und letztlich sogar Indienstnahme staatlich-politischer Regulierung und Deregulierung um die Verwertungs- und Profitmöglichkeiten der Monopole zu verbessern.

Dabei interpretierte die SMK-Theorie diese Entwicklungen als einen Vergesellschaftungsprozess, der aus dem Grundwiderspruch des Kapitalismus resultiere, nämlich gesellschaftliche Produktion unter dem Diktat des privaten Eigentums an Produktionsmitteln zu sein. Die staatliche Einflussnahme sei notwendig, um diesen Grundwiderspruch einzuhegen, böte aber gleichzeitig dadurch die Chance eines „Hinüberwachsens“ des Staatsmonopolistischen Kapitalismus in eine sozialistische Gesellschaft, so vor allem vertreten bei der marxistischen Linken in der SPD, beispielsweise in den „Herforder Thesen[1]“.

Die politische und strategische Konsequenz aus der SMK-Theorie war die Ausrichtung auf die Schaffung eines antimonopolistischen Bündnisses der lohnabhängigen Klasse mit anderen sozialen Schichten und gesellschaftlichen Gruppierungen auf der Basis eines gemeinsamen Interesses gegenüber dem staatsmonopolistischen Blocks. In den aktuellen Debatten begegnet einem das als „Mitte-Unten-Bündnis“.

Veränderte Klassenlage der Intelligenz

An den Hochschulen fand diese strategische und politische Ausrichtung ihre Entsprechung in einer Politik der „Gewerkschaftlichen Orientierung“, wie sie von SHB, MSB Spartakus und Teilen der Juso-Hochschulgruppen vertreten wurde. Hintergrund war die Annahme einer veränderten Klassenlage der Intelligenz infolge der Wissenschaftlich-Technischen Revolution, mit der Wissenschaft eine unmittelbare Produktivkraft geworden sei. Die These lautete, dass sich damit eine objektive Grundlage für ein Bündnis zwischen Arbeiterklasse und Intelligenz ergäbe. Tatsächlich kam es im Rahmen der Bildungsreformen und im Zuge der Wissenschaftlich-Technischen Revolution zu einer deutlichen Öffnung der Hochschulen und Universitäten für weitere Kreise der Bevölkerung. Die Ordinarien-Universität wurde dabei umgebaut und demokratisiert. Der „Muff von tausend Jahren unter den Talaren“ wurde ausgelüftet, neue experimentelle Hochschultypen, wie die Gesamthochschulen, entstanden. Es handelte sich dabei um eine restriktive Entfesselung. Im Interesse der Kapitalverwertung wurde eine allgemeine Höherqualifizierung gestrebt, aber gleichzeitig der gesamte Herrschaftsrahmen nicht in Frage gestellt. In der Folge wurde Hochschulausbildung zu einem Massenphänomen. Die Perspektive nach der Ausbildung war nun aber vielfach, dass die Akademiker zum Verkauf ihrer – wenngleich besonders qualifizierten – Arbeitskraft gezwungen waren, sich also eine akademischen Lohnarbeit herausgebildet hat. Dies böte – bei allen Unterschieden, die blieben – die objektive Möglichkeit, diese Gruppen und Schichten in den Kampf der Arbeiterbewegung um Emanzipation und Partizipation einzubeziehen.

Politik der „Gewerkschaftlichen Orientierung“

Im Kern ging es der Politik der „Gewerkschaftlichen Orientierung“ um drei Ziele:

  1. Die Orientierung der Studierenden auf die Gewerkschaften als ihre Interessens- und Kampforganisationen während und nach ihrer Ausbildung. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft öffnete sich daher in den 1970er Jahren und nahm Studierende als Mitglieder auf.
     
  2. Unmittelbare Einbeziehung der Studierenden in Kämpfe zur Verbesserung ihrer Studienbedingungen und ihrer sozialen Lage (BaföG, Miete, Mensa) im Rahmen der Organe der verfassten Studentenschaft (Fachschaftsräte, AStA, VDS).
     
  3. Kämpfe um emanzipatorischen Ziele und Inhalte der Hochschulausbildung und –forschung im Rahmen beispielsweise von Aktionen gegen die Militarisierung der Hochschulen oder in konkreten Berufungsverfahren unter der Parole „Marx an die Uni!“.

In den 70er und 80er Jahren erzielten die genannten Verbände mit dieser Politik der „Gewerkschaftlichen Orientierung“ beträchtliche Erfolge bei Wahlen zu Studentenparlamenten und stellten in der Hochzeit mehr als die Hälfte aller Allgemeinen Studenten Ausschüsse (AStA). Es kam zu mehreren bundesweiten Streikaktionen und Demonstrationen für eine Bafög-Novelle und gegen das Hochschul-Rahmengesetz, an denen sich bis zu 30.000 Studierende beteiligten.

Eingebettet waren diese Kämpfe auch in Auseinandersetzungen an der Hochschule und in den Gewerkschaften um wissenschaftliche Studien zu den Folgen von Rationalisierungs- und Automatisierungsprozessen in der industriellen Produktion und im Dienstleistungssektor. Zu nennen wäre hier die Studie, die als ein Standardwerk der Industriesoziologie gilt und am Soziologischen Forschungsinstitut (SOFI) in Göttingen entstand: „Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein[2]“ von Kern/Schumann. Oder auch die umfangreichen theoretischen und empirischen Untersuchungen der „Projektgruppe Automation und Qualifikation[3]“ unter der Leitung von Frigga Haug[4]. Diese Studien zeugten nicht nur von einer damals noch lebhaften engen Verzahnung von Gewerkschaften und einer Wissenschaft, die sich im brechtschen Sinne verpflichtet fühlte, die Mühsal der menschlichen Existenz zu erleichtern, sondern sie wurden auch breit und weit über die Hochschulen hinaus rezipiert und diskutiert. Dieser Aspekt sei hier erwähnt, weil man in der aktuellen Debatte um die Auswirkungen der Digitalisierung hier anknüpfen könnte und sollte.

Auch die in den 1970er und 80er Jahren entwickelte „Kritische Psychologie“ wurde innerhalb der linken Kreise breit diskutiert und gab der Politik der „Gewerkschaftlichen Orientierung“ noch einmal neue Impulse. Dabei ging es um die Entwicklung einer materialistisch fundierten Subjektwissenschaft, die nach den wesentlichen subjektiven Voraussetzungen für die Entstehung aber auch für die Blockierung einer gesellschaftsverändernden Handlungsfähigkeit fragt. Die grundlegenden Arbeiten stammten von Klaus Holzkamp und Ute Osterkamp[5].

In den späten 1980er Jahren hatte sich die Politik der „Gewerkschaftlichen Orientierung“ an den Hochschulen erschöpft und war durch eine inhaltliche Verflachung gekennzeichnet. Ein gewerkschaftliche Kampfformen nur noch simulierender Aktionismus und ein gewisses Desinteresse an den Inhalten und Zielen des Wissenschaftsbetriebs sprach immer weniger Studierende an. Mit dem Epochenbruch 1989-91 gerieten auch die Verbände SHB und MSB Spartakus, die die Politik der „Gewerkschaftlichen Orientierung“ in der Hauptsache vertraten, in eine existenzielle Krise und lösten sich schließlich auf. An den Hochschulen setzte sich der Formierungsprozess einer Unterordnung unter und Ausrichtung an den Verwertungsinteressen des Kapitals nunmehr ungebremst fort und hält eigentlich bis heute an. Sozialstrukturanalysen und Fragen nach der Klassenlage der Intelligenz finden kaum mehr statt, obwohl die gängigsten Studienabschlüsse, Bachelor (Geselle) und Master (Meister) auf eine relativ ungebrochene Tendenz in Richtung akademische Lohnarbeit hinzudeuten scheinen.

Zentrale Fragestellungen bleiben aktuell

Auch wenn manch StaMoKapler die Kapitalismuskritik wie dieser Ex-Bürgermeister individuell überwunden hat, einige zentrale Fragen stellen sich nach wie vor ...

Die Rahmenbedingungen haben sich seit den 1980er Jahren beträchtlich verändert, vor allem natürlich durch den Epochenbruch 1989-91 und der seither ungezügelten Entwicklung des Finanzmarktkapitalismus. Im Einzelnen sind folgende Veränderungen zu berücksichtigen, die eine Modifikation oder Revision der SMK-Theorie nach sich ziehen müssten:

Es gibt ein neues und neu zu bestimmendes Verhältnis von Monopolen zum Staat: Monopole mit ihrer ursprünglich nationalen Basis sind über „ihre“ Nationalstaaten hinausgewachsen und spielen nun im globalen Kapitalismus die Nationalstaaten, zum Beispiel in der Besteuerung, gegeneinander aus. Die Finanzsphäre als eigenständige virtuelle Anlagesphäre wurde zunehmend gegenüber der Realwirtschaft dominant und entzieht sich trotz der schweren Finanzmarktkrise 2008 immer noch erfolgreich allen Regulierungsversuchen.

Das Staatsverständnis der SMK-Theorie war recht holzschnittartig. Durch die Einbeziehung der Theorien von Gramsci, Poulantzas, Bourdieu, Joachim Hirsch und anderen ist das marxistische Staatsverständnis deutlich erweitert und differenziert worden.

Aber einige zentrale Fragen bleiben aus der SMK-Theorie bestehen: Gibt es eine objektive Grundlage, auf der eine gemeinsame politische Aktion gegen den herrschenden Block möglich ist? Und wenn das bestimmbar ist, wie gelangen wir von der Möglichkeit an sich zur Ermöglichung für sich? Und welche Rolle kommt dabei der LINKEN zu? Wäre es nicht ihre Aufgabe, als moderne Klassenpartei der verbindende und orientierende Katalysator zu sein, um diesen Formierungsprozess zu ermöglichen?

Harald Weinberg war von 1980 bis 1986 Mitglied im Sozialistischen Hochschulbund (SHB) und ab 1984 dessen Bundesvorsitzender. Heute ist er linker MdB[6] und beschäftig sich schwerpunktmäßig mit Gesundheitspolitik.

[1] Die nachfolgende Darstellung ist verkürzt und wird der Komplexität der SMK-Theorie nicht gerecht. Und auch der teilweise berechtigten Kritik an der SMK-Theorie kann hier kein Raum gegeben werden, da dies den Rahmen dieses Artikels sprengen würde.

Links:

  1. https://www.prager-fruehling-magazin.de/kontext/controllers/document.php/53.d/2/73d984.pdf
  2. http://www.suhrkamp.de/buecher/industriearbeit_und_arbeiterbewusstsein-horst_kern_28149.html
  3. https://portal.dnb.de/opac.htm?method=simpleSearch&query=Projektgruppe+Automation+und+Qualifikation
  4. https://www.prager-fruehling-magazin.de/kontext/controllers/search.php?and=Frigga+Haug&scope=all&mode=0&s0_d=00&s0_m=00&s0_y=0000&s1_d=00&s1_m=00&s1_y=0000&sort=0&search=Suche
  5. https://portal.dnb.de/opac.htm?method=simpleSearch&query=Holzkamp+Osterkamp&cqlMode=false&sortOrderIndex=jhr_asc
  6. http://www.harald-weinberg.de/^

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