Die Klasse verlässt die Fabrik

Toni Negri

Einen der entscheidenden Momente der beiden «roten Jahre» 1968/69 bilden, auch wenn nicht so häufig daran erinnert wird, die Ereignisse am Corso Traiano in Turin. Dort, vor den Werkstoren von FIAT, wird am 3. Juli 1969 während eines von den Gewerkschaftsverbänden organisierten Streiks, der sich gegen unzumutbare Wohnverhältnisse, gegen Mietsteigerungen und Zwangsräumungen richtete, der Demonstrationszug von Polizei und Carabinieri ohne Vorwarnung angegriffen. Die Antwort der Arbeiterinnen und Arbeiter kommt prompt: Sie leisten Widerstand, die Revolte erfasst alle proletarischen Stadtviertel, Barrikaden werden errichtet, in stundenlangen Auseinandersetzungen drängen die dort Wohnenden die Polizeikräfte zurück und schaffen sie sich Straße um Straße vom Hals.

Autunno caldo, Italien 1969

Häuser, Viertel, die Stadt. Der Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter, der die Tore der Fabrik hinter sich lässt und sich über das Territorium der Stadt und der Metropolregion ausbreitet: für uns seit den frühen 1970er Jahren Anlass und Motiv, danach zu fragen, was außerhalb der Fabriken geschehen könnte. Und nicht zuletzt danach, was passierte, als die Gegenoffensive der Unternehmensseite begann, die Strukturen der industriellen Produktion zu reorganisieren. Mit der großen Krise von 1973 – die eine Energie- und Währungskrise, vor allem aber eine des kapitalistischen Kommandos war – kam es erstmals zu Anläufen, die Produktionsprozesse zu dezentralisieren, die in den großen Fabriken zusammengefasste industrielle Fertigung zu restrukturieren und die Produktion ins Territorium und in die Gesellschaft auszubreiten.

Die Transformation des «Massenarbeiters» zum «gesellschaftlichen Arbeiter» wird innerhalb dessen, was sich als operaistische Methode bestimmt, bereits früh wahrgenommen. Tatsächlich war die Kontroverse um die «Fabrikborniertheit» einer der ersten polemischen Momente in den Untersuchungen des Operaismus. Viele durchaus fähige und aufrichtige Genossinnen und Genossen betrachteten den Kampf in der Fabrik nicht nur als wichtig, sondern als alles entscheidend. Häufig bezog sich eine solche Position auf die Gewerkschaften, wo diese einer Art «Arbeiterkorporativismus» anhingen. Uns schien es hingegen eine Abwendung von der Politik. Eine Art Klassenkampf ohne Politik. Unsere Polemik verband sich mit zwei Elementen: zum einen mit dem Kampf gegen strategische Fehlentscheidungen der Gewerkschaften (also gegen die verschiedenen gewerkschaftlichen «Kompromisse»), zum zweiten, und im Verlauf der 1970er Jahre immer stärker, mit Untersuchungen der neuen Formen kapitalistischer Restrukturierungspolitik, die darauf abzielte «industrialisierte Regionen» oder vielmehr neue, lokalisierte Produktionszusammenhänge herauszubilden. Vor diesem Hintergrund erschien es uns klar, dass es notwendig war, den Kampf aus der Fabrik herauszutragen, ihn aufs Territorium auszuweiten. Der Klassenkampf sollte unmittelbar gesellschaftlich werden. Auch andere Formen von Initiativen, etwa die Taktik der fliegenden Streikposten oder der proletarischen Selbstverteidigung in der Metropolregion, haben hier ihren Ursprung.

Ein zweiter wichtiger Punkt ist, dass wir die Gender-Grenzen des Konzepts der Arbeiterklasse angegriffen haben. Tatsächlich waren es die Genossinnen von Potere Operaio, die bereits Anfang der 1970er Jahre die ersten «Lohn für Hausarbeit»-Komitees gründeten. Und so eine fundamentale, feministische Front des Klassenkampfes eröffneten. Eine solche Position implizierte offenkundig, die Beziehung von Produktion und Reproduktion zu überdenken, was von den «Puristen» des Klassenkampfs immer abgelehnt worden war. Das heißt, endlich den Anteil von Frauen, der häuslichen, fürsorglichen und reproduktiven Arbeit an der gesellschaftlichen Produktion insgesamt anzuerkennen. Damit verbunden ist die Entwicklung einer neuen Vorstellung von «Lohn», die nicht mehr nur die für die Produktion von Waren notwendige Arbeit im Blick hat, wie sie in der Fabrik durch individuelle oder kollektive Arbeitskraft verrichtet wird, sondern die Klasse als Ensemble von Frauen und Männern betrachtet, als Akteurin der gesellschaftlichen Reproduktion in ihrer Gesamtheit. Damit geht eine Erweiterung des Klassenkampfes einher, der zum Kampf um Welfare wird: Es ist ein wichtiger Schritt, insofern die Frauen – Gender – zu einem wesentlichen subjektiven Faktor in der Definition des proletarischen Klassenkampfs werden.

Aus der Fabrik auf die Plätze

Der dritte Punkt, der sich letztlich erst später wirklich zeigt, doch bereits in den 1970er Jahren in ersten Untersuchungen von Kollektiven im IT-Bereich zutage tritt, betrifft die «kognitive» Transformation der Produktionsweise. Das heißt, die zunehmende Bedeutung, die im Hinblick auf die Bestimmung der Klasse der immateriellen, kognitiven Arbeit zukommt, Formen von Arbeit also, die sich nicht in den Begriff der Fabrikarbeit einschnüren oder aus einer auf «Fabrik» beschränkten Perspektive begreifen lassen.

Schließlich ist auch auf die enorme Bedeutung hinzuweisen, die der Migration zukommt. Ihre Rolle war ebenfalls Gegenstand zahlreicher Untersuchungen, von den ersten über die multinationale Zusammensetzung der Arbeiterklasse (so etwa in dem 1974 von Alessandro Serafini herausgegebenen Band L’operaio multinazionale in Europa) bis zu jenen über wiederkehrende Formen unfreier Arbeit, das sogenannte salariat bridé (Yann Moulier Boutang). Dabei ging es auch darum, die marxistische These historischer «Stadien» (von der asiatischen Produktionsweise und der Sklavenhaltergesellschaft bis zum Kapitalismus) zu überwinden und hervorzuheben, dass die Sklaverei der Plantagenökonomie ebenso bereits industriell war wie die Landwirtschaft heute kognitiv ist. Die Migration findet sich immer schon in den industriellen Arbeitszyklus eingegliedert, und der extraktive Charakter des Kapitals bedient sich der Mobilität von Menschen ebenso wie der von Waren. Unser Ausgangspunkt waren dabei die Migrationsbewegungen im europäischen Raum, die verschiedenen Welle italienischer, spanischer, jugoslawischer und griechischer, marokkanischer, algerischer und tunesischer «Gastarbeiter», die zu Protagonistinnen und Protagonisten langer und harter Klassenkämpfe überall in Mitteleuropa wurden, und ebenso die Politiken der Anwerbung, Rückführung und Abschottung – der «Steuerung von Migrationsströmen», wie es heute heißt – die auf jene Arbeiterinnen und Arbeiter abgestellt waren.

Unsere Bestimmung des operaio sociale, der gesellschaftlichen Arbeitskraft, sollte nicht nur «inklusiver» als die Kategorie «Fabrikarbeiter» sein, sondern eine neue Klassenfigur ansprechen, die alle Unterschiede und gleichzeitig die Verbindungen der verschiedenen aufgezeigten Elemente in sich vereinen würde. Die grundlegende Gesellschaftlichkeit dieser Figur lässt ein enormes Spektrum unterschiedlicher Aktionsformen zu, wie es sich im Laufe der Jahre auch zeigte, von Lohnkämpfen bis zu solchen um ein Einkommen, vom Arbeitskampf innerhalb der Fabrik bis zum sozialen Streik. Die Zentralität der Fabrik wird abgelöst durch die der Plätze. Dennoch bleibt operaio sociale so gesehen noch eine unzureichende Bestimmung, schließlich geht es nicht darum, eine Einheit vorzustellen, sondern ein Ensemble von Differenzen, ein Kollektiv von Singularitäten. Vor allem aber ging und geht es darum, die Vorstellung einer «Hegemonie der Arbeiterklasse» loszuwerden. Denn was wir sehen, ist eine Klasse von mestizierten und kognitiven Arbeiterinnen und Arbeitern, für die das Problem darin besteht, auf allen Ebenen, auf denen sie sich bewegt, Gegenmacht zu entwickeln. Für die politische Arbeit ergibt sich daraus die Notwendigkeit herauszufinden, was das «Kommune» all dieser verschiedenen Singularisierungen der Klasse wäre. Ein «Programm des Kommunen» wäre dementsprechend ein Dispositiv, das dazu dient, all die Unterschiede zusammen und gemeinsam in Bewegung zu bringen. Zur Klasse werden zu lassen, ihre Grundlagen innerhalb der Produktionsweise zurückzugewinnen, die reifen Formen gesellschaftlicher Kooperation zu erkennen, die sich in der heutigen Produktionsweise entwickeln. Und sie gegen das kapitalistische Kommando zu wenden. Das sind die Aufgaben einer «Klassenpolitik» heute.

Aufgezeichnet von Beppe Caccia – März 2018

Aus dem Italienischen von Thomas Atzert