04.10.2018

Gesetzt wir hätten als Menschen produziert

Eine Absage an die Stimmensammlungsbewegung

Kevin Rittberger

Die Stimmensammlungsbewegung, auf die zuletzt auch der Dramaturg Bernd Stegemann aufsprang, hat mit Solidarität nichts am Hut. Zunächst seine wesentlichen Behauptungen: Da sich die Deutschen hierzulande im Konkurrenzkampf mit den Zugewanderten und Geflüchteten befänden, seien sie nicht zur Solidarität fähig, sondern beanspruchen zu Recht, Priorität zu genießen. Es stellt sich so eine natürliche Hackordnung her, die durch Volk und Raum gegeben ist. Die Angst vor den Fremden seitens der Eingeborenen gelte es zu verstehen – und einzusammeln — statt diese von den linksliberalen Kulturburgen der Metropolen aus abzukanzeln. Wer dies nicht erkenne und weiterhin dem Kosmopolitismus, der Bewegungsfreiheit, der politischen Korrektheit oder gar queerer Repräsentationskritik anhänge, sei ein schön-doofer Wasserträger der fortwährend mahlenden Mühlen des neoliberalen Spätkapitalismus. Dabei blitzt so etwas wie eine nationale Sorgegemeinschaft auf, die soziale Errungenschaften durch Abschottung vor den Nicht-Dazugehörigen für die Autochthonen wiederzugewinnen verspricht.

Wie geht das? Solidarität im Kapitalismus ...

Was haben wir gemeinsam? — Solidarität und Kapitalismus

Der Begriff der Solidarität ist historisch aus dem Gedanken des Internationalismus, sprich: der gemeinsamen Sache der Arbeiter*innen aller Länder entstanden, nachzulesen etwa im „Kommunistischen Manifest“ von Karl Marx oder konkreter in Marx’ Brief an Abraham Lincoln anlässlich der Befreiung ehemals versklavter Menschen. Der Satz des frühen Marx: „Gesetzt wir hätten als Menschen produziert: Unsere Produktionen wären ebenso viele Spiegel, woraus unser Wesen sich entgegen leuchtete“, war auf alle Menschen bezogen und wirkt noch heute, wenn die Linke für das Gemeinsame eintritt, für Commons, solidarische Ökonomien und Ernährungssouveränität. Auch theoretisch wurde diese Annahme in notwendig-erweiterter feministischer (etwa Frigga Haug), ökofeministischer (etwa Maria Mies) und wissenschaftskritisch-feministischer (etwa Donna Haraway) Perspektive reformuliert. Gesucht ist eine nachhaltige Produktionsweise in den Ruinen und Korridoren einer alternativlosen, verheerenden Ökonomie. Es gibt keine kulturelle Identität, wohl aber Ressourcen, die gemeinsam genutzt werden können. Auch inzwischen klassische Studien wie „Caliban und die Hexe“ von Silvia Federici haben gezeigt, dass der Siegeszug des Kapitalismus seit rund fünfhundert Jahren an die Mehrfachprivilegierten des globalen Nordens geknüpft war. Intersektionale Bündnisse auch und gerade über die Grenzen hinweg, sind die zwingende Reaktion. Die Ausgebeuteten, Beherrschten und Diskriminierten verweigern sich einer kollektiven Identitätsbildung. Jede Erzählung des 21. Jahrhunderts, die wieder um die Trias Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit kreist, ist reaktionär, wenn sie historisch-gemachte Ungerechtigkeiten des globalen Kapitalismus außer Acht lässt und lediglich auf nationaler Ebene etwas an den gegenwärtigen Symptomen herumzudoktern verspricht. Linke, die sich dergestalt internationalistisch solidarisch verstehen, widerstehen der „Refundamentalisierung“ (Patrick Eiden-Offe) und vertreten einen offenen Klassenbegriff, der Rassismus und Sexismus als weitere Herrschaftsknoten adressiert. Emanzipatorische Erfolge sind auch partikular zu würdigen und nicht, sollte der Sozialstaat von den jeweils Regierenden weiter abgebaut werden, als Weichspülen von Herrschaftstechniken diskreditiert werden. 

Der Blick von oben auf die „Schwachen“

Wer behauptet, Menschen am unteren Ende der Gesellschaft seien nicht zur Solidarität fähig, hat wohl kaum Erfahrungen mit Menschen gemacht, die von den Protagonisten der Stimmensammlungsbewegung als „Näherin in Bangladesh“ und „Müllwerker in Deutschland“ für ein zweifelhaftes Weltbild in Geiselhaft genommen werden. Auch sind hier die realen Zahlen – hier fünf Millionen AfD-Wähler*innen, dort acht Millionen in der Flüchtlingshilfe – gegen ein irrationales Bauchgefühl vertauscht. Gerade Menschen, die Flucht am eigenen Leib erfahren haben oder sich innerfamiliär daran erinnern und wissen wie schwer es ist, die Existenz als Neuankömmling zu bestreiten, verhalten sich durchweg solidarischer als bspw. ihr hortende Deutsche mit Statusverlustangst. Dazu gibt es auch seriöse Studien, etwa die der Schweizer Politikwissenschaftlerin Silja Häusermann, die keinen bedeutenden Zulauf von Prekarisierten, Arbeitslosen und Armen bei den Rechten sieht, sehr wohl aber einen Zusammenhang zwischen der Angst vor dem Verlust symbolischer Privilegien bei Mittelständischen und Kleinbürgerlichen (v.a. ältere, weiße Männer). Hier bieten die Ideologien der Ungleichheit einen vermeintlichen Halt. Die Sammlungsbewegung leistet keine entschiedene Abgrenzung gegenüber rechten Bewegungen. Ganz im Gegenteil wird durch wiederholtes „Verstehen der Sorgen des Volkes“ eine Anbiederung an deren Positionen und die Übernahme ihrer falschen Deutungsmuster (Deutsche vs. Ausländer, „links-grün versifft“ vs. gesunder Menschenverstand, Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt und um Sozialleistungen, Merkels „Einladung“ an die Welt nach Deutschland zu kommen, die Rede vom „Staatsversagen“ etc.) bewusst in Kauf genommen.

Im besten Falle ist das eine Strategie, die einmal eingesammelte Stimmen wieder solidaritätsfähig machen möchte. Ganz im Gegenteil zur rechten Metapolitik konnte die Stimmensammlungsbewegung aber bisher keine Treffer landen. In Sachen sozialer Frage hat der „Flügel“ der AfD längst aufgeholt, flankiert vom Institut für Staatspolitik (maßgeblich der Sezession-Redakteur und Querfrontler Benedikt Kaiser), das den inzwischen Sozial-Nationalen zusehends einen roten Anstrich verpasst, um den Linken „ihr Kronjuwel abzujagen“ (Götz Kubitschek). Und auch die SPD erinnert sich noch sehr gut an die „Fremdarbeiter“-Rede Oskar Lafontaines von 2005. Von Lafontaine & Co lässt sie sich gewiss nicht verjüngen. Aber warum wird eine Bevölkerung, die sich nach der Krise von 2011 mehrheitlich kapitalismuskritisch äußerte und seit 2015 schutzsuchenden Geflüchteten gegenüber empathisch und mehrheitlich hilfsbereit zeigte, eigentlich nun mit Argwohn abgestraft?

Aufgabe der Linken: Back to reality

Es ist nun Aufgabe der Linken, diesen unsolidarischen Tendenzen nicht auf dem Leim zu gehen. Diese Aufgabe ist keine leichte, weil der Pragmatismus einer national eingefärbten Sozialdemokratie, real-existierende Ressentiments bedient. Diese nähren sich vom Zeitgeist und lassen sich nicht wegdiskutieren. Bedient der Stimmensammler die irrationale Massenpsychologie ohne Brüche, ist die Verbindung zur Kritik der politischen Ökonomie gekappt. Der alte und neue Ressentiments schürende Appell ist selbst anfällig für die Altright-Wahrheitsschreibung eines Twitterpräsidenten, den zu bekämpfen sie vorgibt.

Wenn eine Sammlungsbewegung allein auf heimische Bürger*innen mit niedrigem Einkommen festgelegt ist, so müsste sich doch wenigstens die Frage stellen, ob den Prekarisierten und Armen vor der Willkommenskultur von 2015 Ressourcen zur Verfügung gestellt wurden, die ihnen jetzt durch Geflüchtete streitig gemacht werden. Doch nicht einmal so weit reicht das Verständnis zurück. Und warum macht sich die Sammlungsbewegung nicht einfach das Fazit des Gutachtens des Paritätischen Wohlfahrtsverbands zu eigen, der auch zu massiven sozialen Investitionen rät und dazu, Hartz-IV-Satz und Mindestlohn massiv zu erhöhen, jedoch ohne ein phantasmagorisch-homogenes Volk von der Bevölkerung hier lebender Menschen über Othering-Methoden abzuspalten? Stegemanns Kassandrarufe besagen, dass die Willkommenskultur dem Volk vom oben aufoktroyiert sei und dieses "seinen Lebensraum teilen solle. Die Folgen seien nicht nur eine Belastung der sozialen Sicherungssysteme, rasant zunehmende Wohnungsknappheit und Lohndumping, sondern auch ein sprunghaftes Anwachsen von Fremdenfeindlichkeit" („Das Gespenst des Populismus“). Nicht nur banalisiert und verharmlost er damit die Ursachen und die Existenz von Rassismus. Wer die rechtsextreme Mobilisierung wie bspw. in Chemnitz als bloßen Reflex auf die der Merkel-Regierung moderiert, erinnert an die alte Behauptung der Lösung des  Hauptwiderspruchs – und letzteren will ein Stimmensammler gar nicht lösen.

Zurück zum deutschen Stadttheater? Der Kampf um die Ästhetik auf der Bühne

Dazu passt, dass Bernd Stegemann das deutsche, bürgerliche Stadttheater gegen den Einfluss von repräsentationskritischen Performer_innen und der postmodernen Ästhetik einer internationalen Szene verschließen will. Indem Stegemann u.a. gegen Diversität, Zensur durch politische Korrektheit und Authentizitätseffekte des Dokumentartheaters polemisiert, ist er von den Angriffen der AfD gegen „Regenbogen-Trallala“ und „Vielfaltsideologie“ nicht weit entfernt. Während neurechte Zornpolitik eben noch gebändigten, subkutanen Rassismus weiterhin stur zu Tage fördert, legitimiert die ökonomistisch verkürzte Moralismuskritik des Dramaturgen den Rollback im Theater. Das transkulturelle Ineinanderwachsen von Einheimischen und Neuankömmlingen, von Repräsentation und Performerism, von Verletzlichkeit und Politics of Care, kann in Stegemanns reaktionärer Ästhetik nur als Präsenzeffekt im „Säurebad der Kontingenz“ gelesen werden. In Stegemanns Büchern wie „Kritik des Theaters“ (2013) und „Das Gespenst des Populismus“ (2017) gerinnt der ästhetische zusehends zum politischen Rollback. Der Grund der furiosen Abrechnung gegenüber einer Verqueerung des Theaters scheint einzig und allein darin zu liegen, die Überschneidungen, die Klasse, Geschlecht und Ethnizität in ihren jeweiligen emanzipatorischen Kämpfen nebeneinander und miteinander, synchron und diachron, produzieren, nicht dialektisch auflösen zu können. In einer verdrehten Lesart von Luc Boltanski und Eve Chiapello (und deren Klassiker „Der neue Geist des Kapitalismus“ von 1999) und Didier Eribon („Rückkehr nach Reims“ von 2009) werden kritische Künstler_innen und Initiator_innen emanzipatorischer Politik gleichsam zu Komplizen des „progressiven Neoliberalismus“ (Nancy Fraser) herabgewürdigt.

Flucht und restriktive Migrationspolitik

Flüchtlinge sind, so stellen Experten wie der ehemalige Leiter der Clearing-Stelle der Charité, Prof. Malek Bajbouj, fest, oftmals mehrfachtraumatisiert. Damit ein geflüchteter Mensch, der auf den oft jahrelangen Reisen Traumata erworben hat, zur Ruhe kommen kann, vergeht Zeit. Eine Menschenrechte und Mitmenschlichkeit achtende Politik wird geflüchtete Menschen nicht aus Verständnis vor xenophoben Reflexen in Rückführungslager schaffen lassen, wo sie dem Blick der Einheimischen und den Selbstorganisationkräften der Zivilbevölkerung in Sachen Rechtshilfe, Übersetzung, Antragstellung, Ausbildung u.a. entzogen sind. Ein schutzsuchender Mensch mit Fluchterfahrung braucht Hilfe und keine Stigmatisierung. In Deutschland sind die Voraussetzungen hierfür wesentlich besser als in anderen europäischen Ländern. Wer sich einen Überblick über die grausame, menschenunwürdige Situation in den Lagern in Libyen verschafft hat, wird vorsichtig damit sein, von „Erfolgen“ in der Bekämpfung von Fluchtursachen zu sprechen, welche die rechte Ministerriege aus Seehofer, Kickl und Salvini regelmäßig verkündet. Einen Hotspot in Libyen oder im Tschad zu errichten, ein Abkommen mit dem illiberalen, türkischen Autokraten zu verhandeln, deutsche Sicherheitstechnologien in afrikanischen Ländern zum Einsatz zu bringen, Waffenexporte durchwinken, der europäischen Leitstelle für Seenotrettung in Rom durchgehen zu lassen, die Koordination von Notrufe aussendenden Schiffen in sichere Häfen zu verweigern, obwohl das internationale Seerecht die Rettung von Schiffbrüchigen sowie Non-Refoulement vorgibt, hat mit Ursachenbekämpfung indes wenig zu tun. An dieser Stelle die volkssouveräne Grenzsicherung einzufordern - und hier eifert die Sammlungsbewegung den Rechtspopulisten nach -, bedeutet die Mär von den Push- und Pullfaktoren nachzubeten und vor dem Höchststand der Todesopfer im Mittelmeer seit der endgültigen Kriminalisierung der Seenotrettung die Augen zu verschließen. 

Und zuletzt zur Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt: Es gibt nicht die geringsten Indizien, dass die Stimmensammler_innen den bereits vor dem Sommer 2015 bestehenden, herrschenden und verheerenden Ausbeutungszuständen, allein auf dem innereuropäischen Binnenmarkt bspw. in Sachen Leiharbeit ursächlich den Kampf ansagen. Nichts anderes wäre aber Sache linker Politik. Dass die Tomatenernte in Apulien und Almeria, die Weinernte an der Mosel, die Errichtung von Shoppingmalls in Berlin, die Arbeit in der Logistik der Fulfillment Center bei Amazon nicht ohne Billiglöhner_innen auskommen, die selbstverständlich auch schon vor jeder Krise aus ganz Europa saisonal angekarrt wurden, ist ein Missstand, der von dergestalt agierenden Stimmensammlern nicht behoben werden wird - da es sich nämlich um Verelendungszustände im real-existierenden Kapitalismus (in Zeiten des unaufhaltsamen Klimawandels) handelt, die sich nicht durch eine restriktive Migrationspolitik beseitigen lassen.

Kevin Rittberger arbeitet als Autor, Regisseur, Kurator und Journalist. Seine Theaterarbeiten waren unter anderem am Schauspiel Frankfurt, Theater Basel, Düsseldorfer Schauspielhaus, Schauspielhaus Wien und am Maxim Gorki Theater zu sehen. 2011 war er für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert. Zuletzt inszenierte er am Theater Basel die Uraufführung seines Stückes „Revolution in St. Tropez. Stück für die linke Hand“ - über die Anarchistin Emma Goldman. Für das Bayerische Staatsschauspiel schreibt er im Moment an einer Neubearbeitung von „Prometheus“.