Das Trüffelschwein und die Produzentendemokratie

Tom Strohschneider

Wer heutzutage auf schnellen Beifall aus ist, braucht nicht viel mehr zu machen, als die Behauptung zu wiederholen, die Linken würden sich schon lange nicht mehr wirklich für die Arbeiterklasse interessieren, das sei der Grund ihrer aktuellen Schwäche. Die ganze Debatte ist nicht eben arm an Schlagworten, das geht beim »progressiven Neoliberalismus« los und hört bei der »Neuen Klassenpolitik« noch nicht auf.

Ein Trüffelschwein an der Hand, erschwert leichten Beifall.

Wirklich arm scheint die Debatte nur an Geschichtsbewusstsein zu sein. Dabei muss man nicht einmal lange suchen, um zu erfahren, dass es früher auch schon Leute gab, die sich für Linke hielten - und die ganz ähnliche Probleme diskutierten. Das sogar mit fruchtbareren Ergebnissen.

Zum Beispiel vor zehn Jahren in der ersten Ausgabe des »prager frühling«. Da wurde vom Standpunkt der »allgemeinen proletarischen Emanzipation« denkend die Frage aufgeworfen, was eigentlich der Hinderungsgrund dafür ist, dass die »für ein demokratisch-sozialistisches Projekt gebrauchten Arbeiterinnen und Arbeiter und Angestellten« nicht mehr gut erreicht würden.

Da wurde von links die Frage gestellt, ob »man selber mit seinem Agieren dazu beigetragen« habe, »dass der Neoliberalismus solch einen Siegeszug starten konnte«. Da wurden Sätze formuliert, die man heute, nach Jahren der rechtspopulistischen Radikalisierung, nicht mehr so sagen würde: »Bisher hat linke Politik mir zu viel mit Verzicht und Gutmenschentum, dagegen noch zu wenig mit Attraktivität im Alltag ohne Verrenkungen zu tun.«

Und da wurde auf eine Weise über linke Wirtschaftspolitik gesprochen, die über den Ruf nach »mehr Sozialleistungen« und »mehr öffentlichen Investitionen« auf eine Weise hinausging, die immer noch aktuell ist.

Man muss sich das nicht alles zu eigen machen, und doch passt an dieser Stelle ein ausgeborgter Begriff - der vom »linken Trüffelschwein«. So bezeichnete Georg Fülberth einmal den Kommunistischen Bund, die erfolgreichste, weil am wenigsten typische K-Gruppe. Später nahm ein Buch über den KB den Begriff auf. Beim Aufspüren von politischen Themen eine gute Nase hat auch der »prager frühling« bewiesen, das soll hier anhand der Wirtschaftspolitik gezeigt werden.

Zum Beispiel 2012. Da machte sich eine Ausgabe über das »Autoritäre Krisenregime« in Europa her und es ging um Fragen wie die der Regulierung des Bankensektors und der Staatsschulden. Die damals formulierte Kritik am »autoritären Wettbewerbsetatismus als Krisenbearbeitungsstrategie« ist heute sogar über die Linke hinaus so etwas wie Common sense. Der damals noch drohenden, heute wirkenden »Logik des Fiskalpakts« wurden Vorschläge gegenübergestellt: ein europäischer Mindestlohn etwa, eine Börsenumsatzsteuer und eine Politik des europäischen Schuldenschnitts. »Geheuchelte Europafreundlichkeit des Wortes, aggressiver nationaler Sozialchauvinismus der Tat«, so lautete damals mit Blick auf die EU eine weitere Kritik.

Und wer sich die Begründung der »Prager-Frühling«-Vorschläge für eine europäische Grundsicherung anschaut, wird auch an ganz aktuelle Debatten erinnert: »Das Beharren vieler Linker, die nationalen Sicherungssysteme beizubehalten, (ist) ökonomisch blind und politisch borniert«, es gehe, so schon damals der Ruf, darum, »Sozialstaatlichkeit in den Kontext der EU-Integration zu setzen«.

Die eigentlichen Trüffel aber, so kann man im Rückblick von zehn Jahren sagen, waren jene, in denen über den Status quo noch ein paar Meter weiter hinausgedacht wurde. Nicht, dass ein Kurswechsel hin zu einer solidarischen EU eine einfache Übung wäre. Oder eine Runderneuerung sozialstaatlicher und Wirtschaftspolitiken in der Bundesrepublik.

Den Unterschied zu einer bloßen Politik der (sozialdemokratischen) Status-quo-Verwaltung macht ein utopischer Überschuss, macht die Aussicht darauf, schon heute Pfade anzulegen, die auch über das Bestehende hinausweisen (und die nicht den falschen Traum vom revolutionären Bruch wiederholen, der mit einem Schlag den Weg ins sozialistische Shangri-la öffnet).

Im »prager frühling« sind dabei ältere Ideen (etwa zur Wirtschaftsdemokratie) mit neueren Ansatzpunkten (etwa zu wissens-commonistischen Lösungsvarianten der sozialen und ökonomischen Folgen beschleunigter technologischer Umwälzung der Produktionsweise) verknüpft worden. Bisweilen mag dabei zum Beispiel die Wissensproduktion überschätzt, die Rolle der »klassischen Erwerbsarbeit« und Produktion unterschätzt worden sein. Eine Pointe im »prager frühling« aber war stets, an Marx orientierte Kapitalismuskritik mit gesellschaftspolitischen Perspektiven zu verbinden, die auf die neue Realität sich nicht nur einlassen, sondern auch Lust darauf haben: die Suche nach den Produktionsformen der neuen Gesellschaft, die sich im Schoß der Alten schon entwickeln. Trüffelschwein eben.

Linke stoßen dabei unweigerlich auf ein Problem: das der demokratischen Planung. Im kritischen Rückblick betrachtet scheint diese Alternative keine zu sein, und doch bleibt die vielleicht entscheidende Herausforderung, wie »die volkswirtschaftliche Produktionsweise und die betriebswirtschaftlichen Methoden einer demokratischen Steuerung unterstellt werden« können. Dem »Leitbild des demokratischen Sozialstaates« hat man beim »prager frühling« deshalb gern das des »demokratischen Produktionsstaates« zur Seite gestellt.

Es geht hier um die Frage, »wie das Soziale attraktiv produziert wird« - wenn man so will eine der entscheidenden Blindstellen einer nur auf sozialpolitische Integration ausgerichteten Politik, die ihre Ressourcen aus Umverteilung bezieht. Daran, dass kapitalistisch produziert wird, ändert diese Perspektive nichts, mehr noch: Weil sie von den Ressourcen der Umverteilung abhängig ist, neigt sie dazu, auch die »falsche Produktionsweise« zu verlängern.

Es gibt in einem Redaktionsgespräch der ersten Ausgabe vom Magazin »prager frühling« den schönen Einwand: »Ob das Ding attraktiver wird, wenn man es Produktionsstaat nennt, weiß ich nicht«, der aber den kniffligen Punkt noch einmal betont, nämlich »die Zusammenhänge zwischen den Politikfeldern besser herausarbeiten« zu müssen: »Eine egalitäre Verteilungspolitik reicht nicht aus, es muss demokratisch produziert werden.« Dazu sind Vorschläge in die Debatte geworfen worden, die auch aus anderen, aus älteren linken Denkräumen bekannt sind, die aber, und das ist das Entscheidende, immer wieder aktualisiert werden müssen.

Wie regionale Wirtschaftsräte mit Kompetenzen und öffentlichen Geldern ausgestattet werden könnten, wie dort wirtschaftliche Rahmenplanung stattfinden soll, wer daran auf welche Weise beteiligt wird - das sind Fragen, zu denen das Gros der sich neu nennenden Klassenpolitik noch einmal durchstoßen muss. Auch die 2009 von der Redaktion formulierten Vorschläge für einen »Infrastruktursozialismus«, der »elementare gesellschaftliche Aufgaben wie Kommunikation, Mobilität, Kultur, Bildung und Gesundheit der Warenförmigkeit« entzieht, aber trotzdem, nein: gerade darauf aus ist, »das Leben für die Menschen angenehmer« zu machen, soll an dieser Stelle als Beispiel genannt sein.

Hier, am Schnittpunkt von linken Politiken der Umverteilung und linken Erzählungen von der anderen Gesellschaft, wird es ja erst richtig spannend. Oder, um es mit den Worten des »prager frühling« zu sagen: »Ansonsten geht die Perspektive eines Emanzipationsprojekts, das über den ›Schutzschirm für Menschen‹ und mehr Geld fürs Soziale hinausgeht, flöten.«