Das Schweigen zu Prag 1968 rächt sich heute in Visegrád

Die Niederschlagung des Prager Frühling und seine Folgen für Europas Linke

Luciana Castellina

Die Kommunistin Luciana Castellina erlebte die Schockwellen der Niederschlagung des Prager Frühling in Italien. Die Redakteurin und Autorin der linken italienischen Tageszeitung „Il manifesto“ beschäftigen die Folgen für die europäische Linke bis heute.

Der fünfzigste Jahrestag des Prager Augusts, in dem Moskauer Panzer die Stadt besetzen und den Versuch eines besseren Sozialismus abrupt beendeten, ist anders als die vorangegangenen. Er ist schlimmer … und er zwingt zu einer schmerzvollen Reflexion.

Seit 1968 fordert an jedem 21. August diese verdammte Geschichte unsere Aufmerksamkeit. Meine Gefühle sind in jedem Jahr andere. Das erste Mal, als ich noch nicht erinnerte, sondern in Echtzeit kommentierte, traf das Ereignis meine GenossInnen und mich wie eine Kanonenkugel: grausam und überraschend. Für uns Kommunisten, die Dubčeks Experiment mit Hoffnung erfüllte und die nie daran geglaubt hatten, dass Moskau zu solch einer Tat fähig wäre, war es ein Drama.

Die Gegenseite begrüßte das Geschehen mit kaum verhohlener Befriedigung. Jene AntikommunistInnen stellten den sowjetischen Angriff fälschlich als gegen liberale Politiker gerichtet dar und nicht — wie es tatsächlich war — als Angriff auf eine kommunistische Regierung. Das Prager Kabinett bestand schließlich aus Kommunisten, die für ihren außerordentlichen Parteitag Zuflucht in einer Fabrik (der ČKD-Fabrik im Prager Vorort Vysočany) suchen und von Streiktposten geschützt werden mussten.

Die Reaktion auf den Versuch eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz: Okkupation.

Prag —von allen verlassen …

Ein Jahr später, im August 1969, war es die von GenossInnen und mir neugegründete Zeitung „Il Manifesto“, die konstatierte: „Prag wird alleingelassen.“ Die kommunistischen Parteien, welche die sowjetische Invasion kritisiert hatten, sprachen nicht länger darüber. Jene, die sich lautstark gegen die Kommunisten stellten, wandten sich auch gegen jene Kommunisten, die gerade Opfer des sowjetischen Angriffs geworden waren. Sie alle hatten aufgehört sich für den Putsch in Prag zu interessieren — die „Normalisierung“ hatte gewonnen. Niemand hatte mehr die Absicht die Ruhe, welche die Koexistenz der beiden Supermächten mit sich brachte, zu stören. Eine Ruhe, die auf der globalen Konservierung des Status quo gründete, selbst dort wo die heilige Wut der postkolonialen Befreiungsbewegungen kochte.

Ein Jahr nach dem dramatischen August begannen alle, einer nach dem anderen, die Beziehungen mit dem neuen Regime in Prag unter Gustáv Husák wieder aufzunehmen. Ganz so, als sei nichts geschehen. Ich erinnere mich noch, wie ein wichtiger Funktionär der italienischen Sozialisten den ersten Freundschaftsbesuch in der Tschechoslowakischen Republik absolvierte. Die Kommunistische Partei war so anständig noch ein paar Monate länger zu warten.

Selbst die Studierendenbewegung der 1968er schwieg. Nicht, weil sie die sowjetische Invasion befürwortete, sondern weil die Mehrheit dachte, dies sei nicht ihre Angelegenheit. Sie sahen es als eine Auseinandersetzung innerhalb des Traditionskommunismus. In den 1970er Jahren gab es schließlich nur noch wenige, die an den wahren Charakter des Prager Frühlings erinnerten und der Opfer der Aggression des Warschauer Pakts— die tschechoslowakischen KommunistInnen — gedachte. Nur Il Manifesto veröffentlichte die im Untergrund erarbeiteten Thesen des Sonderparteitags der Tschechoslowakischen Kommunistischen Partei. Übermittelt wurde sie von den Protagonisten selbst. Nur auf unseren Zeitungsseiten konnte Jiry Pelikan, ein tschechischer Genosse im römischen Exil, seine Stimme erheben. Alle anderen beschwiegen das Drama von Prag.

Es war das Il-Manifesto-Editorial vom August 1969 unter dem Titel „Prag bleibt allein“, das für den unseres Ausschluss aus der italienischen Kommunistischen Partei (PCI) das Fass zum Überlaufen brachte. Wir waren der Meinung, dass die Position der PCI – „Es handelt sich bei der Prager Angelegenheit um einen Fehler der Sowjetunion“ nicht ausreichte. Was dort geschehen war, hatte gezeigt, dass das sowjetische System nicht reformierbar war. So wie in Ungarn 1956 gab es keine Hoffnung mehr auf einen Wandel.

Der hohe Preis der verspäteten Einsicht

Mehr als zehn Jahre später gestand PCI-Chef Enrico Berlinguer ein, dass wir Recht hatten. Die Partei erklärte unter seiner Führung, dass die Oktoberrevolution ihre Richtung verloren habe und brach die Beziehungen mit der KPdSU ab. Der Preis dieser Verspätung war hoch. Als sich die Welt Ende der 1960er Jahre nach links bewegte und die Kräfteverhältnisse sich ein für alle Mal zu ändern schienen, lautete die Kritik am sowjetischen System: „Wir wollen einen anderen Sozialismus.“

Als die konservative Gegenoffensive von Thatcher und Reagan in den 1980er Jahren begonnen hatte, lautete die Kritik am Sowjetsozialismus: „Ein demokratischer Sozialismus ist nicht möglich. Die Oktoberrevolution hätte besser gar nicht stattgefunden.“ Nicht verwunderlich, dass in diesen Jahren die Erinnerung daran, was war, Stück um Stück schwand. Dubček geriet in Vergessenheit und der Protest gegen das Husák-Regime wurde immer bürgerlicher und liberaler. In den Jahren nach dem mutigen Kampf um die Charta 77 folgten Enttäuschung und die Aufgabe des Besten, was die reiche kommunistische Tradition der tschechoslowakischen Republik zu bieten hatte.

Da schon vor der Samtenen Revolution von 1989 die Hoffnung auf einen „guten Kommunismus“ tot war, wandelte sich auch der Charakter des Protests. Er wurde zu einem Kampf für die Transformation des eigenen Landes, die es dem Westen so ähnlich wie nur möglich machen sollte.

Schmerzhafte Rückkehr

Ende der 1990er Jahre wurde dieses Ziel erreicht. In dieser Zeit besuchte ich das erste Mal nach dem August 1968 Prag.Mein Herz bedrückte es die Stadt so zu sehen, desorientiert, ihrer Seele und Magie beraubt. Der Wenzelsplatz, einstige politische Agora war von den Logos von Coca-Cola, Prada und Yves-Saint-Laurent verschandelt. Ein „Non-Stop-Casino“ reihte sich an das andere. Magie und Geheimnis der Stadt waren verschwunden. Im jüdischen Viertel des Rabbi Löw hingen die Abgase einer endlosen Schlange Touristenbusse.

Es war schmerzhaft: Prag bedeutet für meine Generation von Kommunisten die unvergessliche Erinnerung an die ersten Weltfestspiele der Jugend von 1947. Der Krieg war gerade vorbei und die Stadt war gefüllt mit jungen Leuten und voll der Hoffnung und des Glücks. Obwohl ich vor 1968 so oft in Prag war, hatte ich dort keine Freunde mehr, die ich hätte anrufen können. Alle, die an der Seite Dubčeks und später in der Bewegung Charta 77 kämpften, waren eingeknickt oder hatten das Land verlassen. Wo waren also meine GenossInnen, wo waren die KommunistInnen?

Die Regierungen der folgenden Jahre versuchten Organisationen, die sich weiter kommunistisch nannten, zu verbieten. Nicht wenige, die Teil des Husák-Establishments waren, tarnten sich. Einige wurden als Teil der Kompradorenbourgeoisie, welche die EU überall in Osteuropa heranzüchtete, reich. Brüssels einzige Bedingung an sie war, dass sie ohne Widerspruch alles akzeptierten, was in der EU in letzten vierzig Jahren entschieden worden war.

Der derzeitige tschechische Ministerpräsident Andrej Babiš ist einer von ihnen. Der einstige Parteigänger Husáks ist heute Milliardär und Rechtspopulist. Unterstützt wird er von jenen, die sich selbst Sozialdemokraten nennen. Sie tun es widerwillig zwar, um Schlimmeres durch jene, zu verhindern, die heute den Namen „Kommunisten“ übernommen haben. Auf diese Weise ist die heutige Prager Regierung zu einem der Hauptprotagonisten der Visegrád-Staaten geworden.

Das ist der Grund, warum der 50. Geburtstag des Prager Augusts viel schmerzhafter ist als die bisherigen. Wenn man sieht, wohin der Prozess geführt hat, kommt man nicht umhin daran zu denken, dass die Einsamkeit Prags im Jahr 1968 die Monster von heute mit hervorgebracht hat. Hätten die Dinge anders kommen können? Geschichte wird nicht aus „wenns“ gemacht, aber wir können mit Recht behaupten: Hätte ein relevanter Teil der Linken anders auf das Geschehen in der Tschechoslowakischen Republik reagiert, würden wir uns nicht in der heutigen Realität von Visegrád wiederfinden. Das wäre nicht nur für die postsozialistischen Gesellschaften gut gewesen, sondern auch für die westeuropäische Linke.

Luciana Castellina trat 1947 in die kommunistische Partei Italiens ein. Sie wurde mit der Il Manifesto-Gruppe aus der Partei ausgeschlossen. 1984 kehrte Sie in die PCI zurück. Castellina hat als Redakeurin und Journalistin gearbeitet und war Abgeordnete auf lokaler und regionaler Ebene. In den 1990er Jahren war Sie Mitglied des Europaparlaments.

Übersetzung aus dem Englischen: Stefan Gerbing