Normalisierung

Mein persönlicher Prager Frühling

Thies Gleiss

Ich war 1968 ein knapp vierzehnjähriger Gymnasiast, der das große Glück hatte, dass seine persönliche politische Menschwerdung mit dem grandiosen, die ganze Welt umfassenden gesellschaftlichen Aufbruch von 1968 zusammenfiel. Pubertät und Kampf um Individualität einerseits und kollektive Rebellion einer ganzen Generation andererseits – eine bessere Kombination gibt es nicht.

Als in der Nacht zum 21. August 1968 die Panzer und Soldaten mehrerer Vertragsstaaten des Warschauer Paktes das eigene Mitgliedsland ČSR überfielen, die Regierung absetzten beziehungsweise unter Hausarrest stellten und alle großen Städte und Kommunikationszentren besetzten, da waren mein Zwillingsbruder und ich in einer Konfirmandenfreizeit der evangelischen Kirche zur  Vorbereitung auf die Konfirmation.  Unser junger, schon von den ersten Wellen der Radikalisierung und Liberalisierung an den Hochschulen berührter, Pastor erlaubte (oder verlangte von?) uns, jeden Tag, eine eigene kleine Predigt zu halten. Ich war am Tag des Einmarsches in die ČSR dran und hielt nach Beratung mit meinem Bruder einen flammenden Appell gegen den Kommunismus, der mit den Drohungen gegen die Prager Regierung und jetzt mit dem militärischen Überfall sein wahres Gesicht zeigen würde. Ich habe den Text noch heute und wenn ich ihn lese, dann glaube ich, dass die Antikommunist*innen von heute, stolz wären, wenn sie so die Köpfe der Jugend vernebeln könnten, wie es damals uns geschah.

Damit konnte man den Pastor erfreuen: Mit Antikommunistische Predikten bei der Konfirmandenfreizeit.

In der ČSR, wo, wie Walter Ulbricht, der Oberindianer der DDR, sagte, „einige Leute eine Freiheit einführen (wollten), wie es sie noch nie gab, eine Demokratie, die es noch nirgends gab und nirgends gibt“, begann nach dem 21. August die Phase, die in zynischer, aber auch irgendwie ehrlicher Weise „Normalisierung“ genannt wurde. Die Führer der kommunistischen Partei, die mit bescheidenen Reformen einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ schaffen wollten, wurden entmachtet, die jungen Intellektuellen, Studierende und Aktivist*innen in den großen Betrieben, die noch mehr wollten, die in einer wilden Zeit des Debattierens und Infragestellens eine komplett neue Form der sozialistischen Selbstverwaltung forderten, die Betriebe und Universitäten besetzten und das „Mehr“ an Demokratie buchstäblich ausprobierten, sie wurden in die Knäste gesteckt, misshandelt oder aus dem Land vertrieben.

Nach einem Jahr, bis August 1969, waren der Aufbruch und der Widerstand in der Bevölkerung gebrochen. Die Herrschaft der alten Nomenklatura,  der sich selbst ermächtigenden und reproduzierenden Bürokratie in Staat und Partei, war wieder hergestellt. Die ČSR nahm in der Reihe der „sowjetischen Bruderstaaten“ wieder die Rolle des besonders braven und konservativen Musterbruders ein.

Für mich geriet die Normalisierung viel schneller. Nur eine Woche nach meiner antikommunistischen Predigt war ich gewandelt. Das, was in der ČSR und dem „Ostblock“ herrschte, war gar kein Sozialismus oder gar Kommunismus., kam wie eine Erweckung zu mir. Es war ein Zerrbild. Wenn sich angesichts von Vietnamkrieg, Ausbeutung der „Dritten Welt“ und dumpfen Verschweigens der faschistischen Verbrechen die uns eingetrichterte Freiheit des Westens“ als große Lüge herausstellte, so war auch der Sozialismus im angeblichen „realen Sozialismus“  eine große Lüge. Die wilden endsechziger und die debattierfreudigen siebziger Jahre fanden meinen persönlichen Startschuss mit dem Einmarsch in die ČSR. Die Hamburger Schüler*innenbewegung, in der ich mich fortan bewegte, teilte sich bald in zwei Lager: Die DDR, ČSR und die anderen missglückten Arbeiterstaaten verteidigenden Leute und auf der anderen Seite meine Freund*innen, die einen wahren, prinzipienfesten Sozialismus verteidigten. Schöner noch gefiel mir das Etikett, was die Gemeinschafts- und Politiklehrer mir und meinesgleichen verliehen: Edelkommunisten.

Schon bevor ich eine erste Zeile vom großen Kritiker des Stalinismus, Leo Trotzki, gelesen hatte, kam auch der Vorwurf, wir seien Trotzkist*innen. Auch ein Ehrentitel, und später erfuhr ich, dass Trotzki an genau dem 21. August, 28 Jahre früher, einem Mordanschlag der Stalinisten in seinem mexikanischen Exil erlag.

„Sozialismus ja – Stalinismus nein“ – so lauteten die Plakate, die uns Freund*innen aus der ČSR mitbrachten. Oder auch „Lenin erwache – die Stalinisten spielen verrückt.“

Auf einem dieser Plakate wurde auch Rosa Luxemburg zitiert („Was will der Spartakusbund?“) – Worte, die mir bis heute Richtschnur sind: „Das Wesen der sozialistischen Gesellschaft besteht darin, dass die große arbeitende Masse aufhört, eine regierte Masse zu sein, vielmehr das ganze politische und wirtschaftliche Leben selbst lebt und in bewusster freier Selbstbestimmung lenkt.“

 

Thies Gleiss ist Mitglied des ADFC und im Parteivorstand von DIE LINKE. Sein erster Beitrag für den *prager frühling erschien schon vor gut zehn Jahren in unserem Blog.