Bloß keinen Quatsch

Tom Strohschneider

 

Ach, »Prager Frühling«. Was soll man sagen zum Geburtstag einer Zehnjährigen, die schon so viel weiß? »Du bist aber groß geworden«, lächeln bei solchen Gelegenheiten die Tanten mit fragendem Gesicht, wohl wissend, dass die naheliegende Antwort aufs Glatteis führt: Ja, was denn sonst? Immer kommt dann auch ein Onkel, der mit belehrender Miene vom »Ernst des Lebens« spricht, welcher nun bald die Freiheit Deines Kindseins ablösen werde. Aber muss das denn so sein?

Als wir Dich vor zehn Jahren zum ersten Mal sahen, dachten wir kurz über den Namen nach, den Dir Deine Eltern gaben: Werden andere Dich deshalb ärgern, nicht verstehend, dass darin eine Hoffnung aufbewahrt ist? Darauf, dass es nicht immer Winter bleiben muss, auch wenn bisher noch jeder dieser Frühlinge seine Schwalben erfrieren ließ? Du sprachst seit Deinem ersten Atemzug von den Blumen, die in den Köpfen und Herzen blühen sollten, und wolltest von den Gesetzmäßigkeiten, falschen Wahrheiten und bürokratischen Einübungen nichts wissen, außer zum Zwecke der Kritik. Man konnte Dich deshalb für altklug halten, aber ist das nicht viel besser als neudumm?

Wir haben von Dir Wörter gelernt, die wir selbst noch nicht kannten. »Paradoxiemanagement« zum Beispiel. Und als Du das erste Mal von Sammlungsbewegung redetest, war damit noch etwas ganz anderes gemeint als heuer in den Schlagzeilen, die Deinen Geburtstag begleiten. Dein Spielplatz hatte nie Grenzen, die irgendwer zu sichern hatte. Deine Murmeln rollten nie in nur eine Richtung, vor allem nicht zurück. Und wenn es einmal Streit um die Sandkuchenform gab, dann, weil es Dir Spaß machte, denn Du wusstest schon ziemlich früh, dass ohne Spaß auch keine Erkenntnis wächst.

Du konntest »BRD« auf eine Weise sagen, in der man ein Augenzwinkern spürte, nicht diese Verbitterung: Bee-Ärr-Dee. Du hast Dich mit Sachen beschäftigt und es war Dir egal, ob diese nun gerade »taktisch« zu Deinen sonstigen Angelegenheiten passten. Es ging Dir eben um die Sachen, nicht um die Taktik. Als man Dir zu Deinem fünften Geburtstag das Papier wegnahm, hast du nicht gequengelt, sondern einfach weitergemacht. Und immer so fortan.

Was also soll man sagen zum Geburtstag einer Zehnjährigen, die schon so viel weiß? Vielleicht das: Lass Dich nicht davon beeindrucken, dass ein paar Deiner Eltern jetzt andere Jobs haben als damals, Jobs, die manche Leute für bedeutender halten mögen. Mach Dir nichts daraus, dass die Zeiten in diesen zehn Jahren schwieriger geworden sind, die Antworten drängender, die Fragen noch komplizierter. »Freiheit und Sozialismus«, das waren Deine ersten Worte. Bleib dabei. Bleib neugierig. Hör nie auf ungeduldig zu sein: »Sind wir schon da?« Und vor allem, lass Dir von irgendwelchen Gratulanten bloß keinen Quatsch zum Geburtstag erzählen.

Tom Strohschneider macht auch was mit Medien, schreibt u.a. für die ökonomiekritische Zeitung »OXI« und findet, dass Eduard Bernstein ganz zu Unrecht aus dem linken Kosmos verbannt wurde.