Als „Frühling“ noch Hoffnung bedeutete

Andrea Ypsilanti

Vor 50 Jahren öffneten sich die Fenster. In Prag, Paris, Berlin, unter unterschiedlichsten Bedingungen und Anlässen wehte der Hauch eines „Sozialismus mit menschlichen Antlitz“.

Die Jahreszeiten waren noch klare Ansagen; Frühling und Sommer für Hoffnung, Herbst und Winter für Eiszeit,  Stagnation und Resignation.

50 Jahre später lösen die Jahreszeiten eher Unbehagen aus. Nicht erst seit dem Hochsommer 2018 gibt es eine Ahnung, wie bedrohlich der Klimawandel werden kann. In der Antarktis schmelzen Eisberge, aber nicht wegen der Hoffnung auf ein politisches Tauwetter oder Entspannung.

Die Welt ist im rasanten Wandel — ökologisch, sozial, kulturell und politisch.

Die neoliberale Weltrevolution und ihre Vorbilder

Der sogenannte „reale Sozialismus“, der am 12. August 1968 im Hochsommer mit Panzern den Prager Frühling platt walzte, ist Geschichte. An seine Stelle ist der neoliberale Kapitalismus getreten, der die nächste-digitale-Revolution bereits entfesselt und selbst nicht weiß, wohin die Reise führt.

Die neoliberale „Weltrevolution“ der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hat erreicht, wovon die Linke immer nur träumte. Sie ist trotz aller Krisen noch hegemonial. Die Vorbilder heißen heute nicht mehr Dubček, Che Guevara, Marx, Engels oder Lenin. Junge Menschen sind entzückt (nicht alle!) von den Musks, Zuckerbergs oder Bezos, die mit ihren Oligopolen Milliarden Dollars anhäufen. Emanzipation bedeutet heute Geld und Verfügung, nicht mehr Sinnlichkeit und Solidarität.

Die europäische Linke ist in der Krise, sozialdemokratische Parteien pulverisiert, sozialistische oder (reform)kommunistische Kräfte an kaum einer Regierung beteiligt. Rechtspopulismus, Rassismus  und Extremismus breiten sich aus, beanspruchen die Opposition gegen die Globalisierung zu verkörpern und spielen das Nationale gegen das „Fremde“ aus. Mit der bekannten Brutalität. Der horizontale Klassenkampf ist ihr Metier; die schon unten sind werden gegeneinander ausgespielt. Die noch nicht „abgestürzt“ sind, werden demagogisch verängstigt.

Wenn die Nacht am tiefsten ist …

Bleiben wir aber noch einen Moment im Bild des Frühlings. „Es ist vorbei, bye, bye Juni-Mond“, sang Rio Reiser, der frühere Sänger der legendären „Ton Steine Scherben“. So fühlt es sich wohl aktuell auch für die gesellschaftliche und politische Linke. Aber es gibt da noch einen anderen Song auf dem letzten Album der „Scherben“: „Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten“. Diese hoffnungsvolle Weisheit sollten wir ernst nehmen. Wenn der nächste Tag gut werden soll, müssen wir analysieren, wo wir stehen und was getan werden muss.

„Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann.“ Dieses Zitat von Antonio Gramsci beschreibt die heutige Situation treffend. Die multiplen Krisen des neoliberalen Kapitalismus sind offensichtlich. Gleichzeitig entsteht jedoch auch das Neue in unzähligen Projekten in den Nischen dieses „alten“ Systems. Es sind überwiegend  Projekte der Solidarität und geben eine Vorahnung auf das „gute Leben“.

Das Neue ist  jedoch noch nicht  umfassend sichtbar. Es entfaltet noch keine Faszination. Um hegemonial zu werden, braucht es eine gemeinsame Idee dessen, was sich entwickeln soll oder kann. Es ist die Zeit des Interregnums, die es auszuhalten  und zu nutzen gilt.

Um die vielen guten Ansätze, Projekte  und Ideen zusammen zu bringen, braucht es einen Crossover-Diskurs zwischen den vielen Akteur*innen der gesellschaftlichen Linken. Dafür arbeitet das Institut Solidarische Moderne, der Prager Frühling und andere Institutionen.

„Fragend schreiten wir voran“, schrieb das Institut Solidarische Moderne 2010 in seinem Gründungsmanifest. Das gilt immer noch.

Deshalb sollten wir uns trauen, im Sinne einer gemeinsamen Idee, wieder über demokratischen Sozialismus zu sprechen und zu streiten. Ihn als tatsächliche Alternative auf die Tagesordnung zu setzen.

In meinem Buch „Und morgen regieren wir uns selbst … “ habe ich den Ansatz eines freiheitlichen, libertären und emanzipativen Sozialismus in der Denktradition des Schriftstellers und Philosophen Albert Camus auf die Diskursbühne gestellt. Nicht ohne Grund.

Mut zu Utopie und Widerständigkeit

Das letzte Jahrhundert hat eindrucksvoll bewiesen, dass ein orthodoxer und autoritärer Sozialismus geradezu zwangsläufig die gleichen nihilistischen Methoden wie der Kapitalismus hervorbringt. Jeder neue Ansatz eines Sozialismus muss sich deshalb fragen, wie er diese Tendenzen verhindert. Wie er die „Freiheit des Andersdenkenden“ schützt und respektiert. Wie die Macht der Bewegung von unten gedacht werden kann, welche ihre Alltagspraxen sein könnten.

Ein Sozialismus auf der Höhe der Zeit, der die Menschen wieder erreichen könnte, bedarf neben der kritischen Analyse auch des „in Möglichkeit Seienden“ (Ernst Bloch). Er müsste Hoffnung machen und nicht verbittert und ängstlich daherkommen, trotz aller berechtigten Wut auf die herrschenden Verhältnisse.

Dazu braucht es vor allem Mut zur Utopie und zur Widerständigkeit. Aber was gibt es denn zu verlieren?

Andrea Ypsilanti steht für den Mut zu einem wirklichen Kurswechsel. Ihre Geschichte ist jedoch auch eine Geschichte all der Steine, die wirklicher Veränderung in den Weg gelegt werden. Zusammen mit Hermann Scheer, Sven Giegold und Katja Kipping gründete sie das Institut Solidarische Moderne. 2018 erschien ihr Buch: Und morgen regieren wir uns selbst … : Eine Streitschrift.