30.10.2018

Gesetzt wir hätten als Menschen produziert

Eine Absage an Bernd Stegemanns Stimmensammlungsbewegung

Kevin Rittberger
Kevin Rittberger

Die Stimmensammlungsbewegung „Aufstehen“, zu deren Initiatoren der Berliner Dramaturg Bernd Stegemann gehört, hat mit Solidarität wenig am Hut. Zunächst zum wesentlichen Gründungsmotiv, das die Initiative von allen anderen Bewegungen und Parteien der Linken unterscheidet: Da sich die Deutschen hierzulande im Konkurrenzkampf mit den Zugewanderten und Geflüchteten befänden, seien sie nicht zur Solidarität fähig, sondern beanspruchten zu Recht, Priorität zu genießen. Die Angst vor den Fremden seitens der Eingeborenen gelte es zu verstehen – und einzusammeln - und nicht von den linksliberalen Metropolen aus abzukanzeln. Wer dies nicht erkenne und weiterhin Kosmopolitismus, Bewegungsfreiheit, politischer Korrektheit oder gar queerer Repräsentationskritik anhänge, sei ein schön-doofer Wasserträger der fortwährend mahlenden Mühlen des neoliberalen Spätkapitalismus.

Was haben wir gemeinsam? Solidarität und Kapitalismus

Der Begriff der Solidarität ist historisch aus dem Gedanken des Internationalismus, sprich: der gemeinsamen Sache der Arbeiter_innen aller Länder entstanden. Nachzulesen ist dies etwa im „Kommunistischen Manifest“ von Karl Marx oder konkreter in Marx’ Brief an Abraham Lincoln anlässlich der Befreiung ehemals versklavter Menschen. Der Satz des frühen Marx „Gesetzt wir hätten als Menschen produziert: Unsere Produktionen wären ebenso viele Spiegel, woraus unser Wesen sich entgegen leuchtete“ war durchaus auf alle Menschen bezogen und wirkt noch heute, wenn die Linke für das Gemeinsame eintritt, für die Commons, die solidarischen Ökonomie und gegen das Wachstumsdiktum. Auch theoretisch wurde diese Annahme in notwendig-erweiterter feministischer (etwa Frigga Haug), ökofeministischer (etwa Maria Mies) und wissenschaftskritisch-feministischer (etwa Donna Haraway) Perspektive reformuliert. Gesucht ist eine nachhaltige Produktionsweise in den Ruinen und Korridoren einer alternativlosen, verheerenden Ökonomie. Es gibt keine kulturelle Identität, wohl aber Ressourcen, die gemeinsam genutzt werden können. Auch inzwischen klassische Studien wie „Caliban und die Hexe“ von Silvia Federici haben gezeigt, dass der Siegeszug des Kapitalismus seit rund fünfhundert Jahren an die Mehrfachprivilegierten des globalen Nordens geknüpft war. Weiße Lohnarbeit war an unentgeltliche weibliche Reproduktionsarbeit sowie die Arbeit versklavter Menschen geknüpft. Und dieses (Re-)Produktions- und Herrschaftsverhältnis hat sich im Zeitalter der neoliberalen Globalisierung über den gesamten Globus verteilt. Intersektionale Bündnisse auch und gerade über die Grenzen hinweg, sind die zwingende Reaktion. Die Ausgebeuteten, Beherrschten und Diskriminierten widerstehen aber einer kollektiven Identitätsbildung. Jede Erzählung des 21. Jahrhunderts ist reaktionär, wenn sie historisch-gemachte Ungerechtigkeiten des globalen Kapitalismus außer Acht lässt und lediglich auf nationaler Ebene etwas an den gegenwärtigen Symptomen herumzudoktern verspricht. Rassismus und Sexismus sind kein „kulturelles Theater“ (Mark Lilla) oder  „Fragen der Symbol- und Anerkennungspolitik“ eines „Lagers“, für das „jede Frage nach sozialer Politik Hochverrat an seinem Auftrag ist“, wie Bernd Stegemann dies im Tagesspiegel vom 16.10. verlautbaren ließ. Linke Identitätspolitik ist als Klassenpolitik im selben Maße prozessual zu denken, als auch die Arbeiterklasse des 19. Jahrhunderts Klassenunterschiede nicht zu zementieren, sondern aufzulösen suchte. Linke vertreten einen offenen Klassenbegriff, der Rassismus und Sexismus als weitere Herrschaftsknoten adressiert, welche nicht von der sozialen Frage loszulösen sind. Da es durchaus Richtiges im Falschen gibt: Emanzipatorische Erfolge sind auch partikular zu würdigen, wenn die Zugangs- und Aufstiegschancen in einer offenen Gesellschaft pluraler werden und nicht als Weichspülen von Herrschaftstechniken zu diskreditieren, wenn die jeweils Regierenden den Sozialstaat weiter abbauen.

Der Blick von oben auf die „Schwachen“

Wer behauptet, Menschen am unteren Ende der Gesellschaft seien nicht zur Solidarität fähig, hat wohl kaum Erfahrungen mit denjenigen Menschen gemacht, die von den Protagonisten der Stimmensammlungsbewegung als „Näherin in Bangladesh“ und „Müllwerker in Deutschland“ für ein zweifelhaftes Weltbild in Geiselhaft genommen werden. Auch sind hier die realen Zahlen – hier fünf Millionen AfD-Wähler_innen, dort acht Millionen in der Flüchtlingshilfe – gegen ein irrationales Bauchgefühl vertauscht. Gerade Menschen, die Flucht am eigenen Leib erfahren haben oder sich innerfamiliär daran erinnern und wissen, wie schwer es ist, die Existenz als Neuankömmling zu bestreiten, verhalten sich durchaus solidarisch. Seriöse Studien, etwa die der Schweizer Politikwissenschaftlerin Silja Häusermann, sehen keinen bedeutenden Zulauf von Prekarisierten, Arbeitslosen und Armen bei den Rechten, sehr wohl aber einen Zusammenhang zwischen der Angst vor dem Verlust symbolischer Privilegien bei Mittelständischen und Kleinbürgerlichen (v.a. ältere, weiße Männer). Hier bieten die Ideologien der Ungleichheit einen vermeintlichen Halt. Die Sammlungsbewegung leistet keine entschiedene Abgrenzung gegenüber rechten Bewegungen. Ganz im Gegenteil wird eine Anbiederung an deren Positionen und die Übernahme ihrer falschen Deutungsmuster (Deutsche vs. Ausländer, „links-grün versifft“ vs. gesunder Menschenverstand, Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt und um Sozialleistungen, Merkels „Einladung“ an die Welt nach Deutschland zu kommen, die Rede vom „Staatsversagen“ etc.) bewusst in Kauf genommen.

Im besten Falle ist das eine Strategie, die einmal eingesammelte Stimmen wieder solidaritätsfähig machen möchte. Ganz im Gegenteil zur rechten Metapolitik konnte die Stimmensammlungsbewegung aber bisher keine Treffer landen. In Sachen sozialer Frage hat der „Flügel“ der AfD längst aufgeholt, flankiert vom Institut für Staatspolitik, welches der „Mosaik-Rechten“ zusehends einen roten Anstrich verpasst, um den Linken „ihr Kronjuwel abzujagen“ (Götz Kubitschek). Warum überhaupt wird eine Bevölkerung, die sich nach der Krise von 2011 mehrheitlich kapitalismuskritisch äußerte und seit 2015 schutzsuchenden Geflüchteten gegenüber empathisch und mehrheitlich hilfsbereit zeigte, eigentlich nur mit Argwohn abgestraft?

Aufgabe der Linken: Back to reality

Es ist nun Aufgabe der Linken, diesen unsolidarischen Tendenzen nicht auf dem Leim zu gehen. Warum macht sich die Sammlungsbewegung nicht einfach das Fazit des Gutachtens des Paritätischen Wohlfahrtsverbands zu eigen, der auch zu massiven sozialen Investitionen rät und dazu, Hartz-IV-Satz und Mindestlohn massiv zu erhöhen, jedoch ohne ein phantasmagorisch-homogenes Volk von der Bevölkerung hier lebender Menschen über Othering-Methoden abzuspalten? Stegemanns Kassandrarufe besagen, dass die Willkommenskultur dem Volk von oben aufoktroyiert sei und dieses "seinen Lebensraum teilen soll. Die Folgen sind nicht nur eine Belastung der sozialen Sicherungssysteme, rasant zunehmende Wohnungsknappheit und Lohndumping, sondern auch ein sprunghaftes Anwachsen von Fremdenfeindlichkeit" (Bernd Stegemann, „Das Gespenst des Populismus“, S. 119). Nicht nur banalisiert und verharmlost er damit die Ursachen und die Existenz von Rassismus. Wer die rechtsextreme Mobilisierung und sich manifestierende Zornpolitik wie bspw. in Chemnitz als bloßen Reflex auf die Merkel-Regierung anmoderiert, erinnert nur an die alte Behauptung, dass Nebenwidersprüche erst nach Lösung des Hauptwiderspruchs an der Reihe seien – und letzteren will ein Stimmensammler ja gar nicht lösen. Viel mehr noch spielt Stegemanns Verstehertum der Täter-Opfer-Umkehrung in die Hände, einer beliebten rhetorischen Figur rechter Metapolitik, die gewalttätige oder gewaltaffine Menschen als Opfer des Systems entschuldigt. Doch wer sich in die Sorgen der „Wutbürger“ hineinversetzt, wendet sich auch von den Sorgen der Leute ab, gegen die diese Wut gerichtet ist und welche von der bürgerlichen Gesellschaft ohnehin abgewertet werden.

Zurück zum deutschen Stadttheater? Der Kampf um die Ästhetik auf der Bühne

Dazu passt, dass Bernd Stegemann das deutsche, bürgerliche Stadttheater gegen den Einfluss von repräsentationskritischen Performer_innen und der postmodernen Ästhetik einer internationalen Szene verschließen will. Er polemisiert u.a. gegen Diversität, „Zensur“ durch politische Korrektheit und Authentizitätseffekte des Dokumentartheaters. Das transkulturelle Ineinanderwachsen von Einheimischen und Neuankömmlingen, von Repräsentation und Performerism, von Verletzlichkeit und Politics of Care, kann in Stegemanns reaktionärer Ästhetik nur als Präsenzeffekt im „Säurebad der Kontingenz“ (Bernd Stegemann, „Kritik des Theaters“, S. 10) gelesen werden. In Stegemanns Büchern wie „Kritik des Theaters“ (2013) und „Das Gespenst des Populismus“ (2017) gerinnt der ästhetische zum politischen Rollback. Der Grund der furiosen Abrechnung gegenüber einer Verqueerung des Theaters scheint einzig und allein darin zu liegen, die Überschneidungen, die Klasse, Geschlecht und Ethnizität in ihren jeweiligen emanzipatorischen Kämpfen nebeneinander und miteinander, synchron und diachron, produzieren, nicht dialektisch auflösen zu können. In einer verdrehten Lesart von Luc Boltanski und Eve Chiapello (und deren Klassiker „Der neue Geist des Kapitalismus“ von 1999) und Didier Eribon („Rückkehr nach Reims“ von 2009) werden kritische Künstler_innen und Initiator_innen emanzipatorischer Politik gleichsam zu Komplizen des „progressiven Neoliberalismus“ (Nancy Fraser) herabgewürdigt. Dabei haben weder Geflüchtete, noch Künstler_innen oder die queerfeministische Bewegung Hartz IV erfunden. Am wenigsten aber ist für die Kunst gewonnen, wenn sie sich mit Stegemanns Klassenbegriff des deutschen, kleinen Mannes dem global um sich greifenden Illiberalismus andient.  

Flucht und restriktive Migrationspolitik

Flüchtlinge sind nach oft jahrelangen Reisen, so stellen Experten wie der ehemalige Leiter der Clearing-Stelle der Charité, Prof. Malek Bajbouj, fest, nicht selten mehrfachtraumatisiert. Eine Menschenrechte und Mitmenschlichkeit achtende Politik wird geflüchtete Menschen nicht aus Verständnis vor xenophoben Reflexen in Rückführungslager schaffen lassen, wo sie dem Blick der Einheimischen und den Selbstorganisationkräften der Zivilbevölkerung in Sachen Rechtshilfe, Übersetzung, Antragstellung, Ausbildung u.a. entzogen sind. Ein schutzsuchender Mensch mit Fluchterfahrung braucht Hilfe und keine Stigmatisierung. In Deutschland sind die Voraussetzungen hierfür wesentlich besser als in anderen europäischen Ländern. Wer sich einen Überblick über die grausame, menschenunwürdige Situation in den Lagern in Libyen verschafft hat, wird vorsichtig damit sein, von „Erfolgen“ in der Bekämpfung von Fluchtursachen zu sprechen, welche die rechte Ministerriege aus Seehofer, Kickl und Salvini regelmäßig verkündet. Einen Hotspot in Libyen oder im Tschad zu errichten, ein Abkommen mit dem illiberalen, türkischen Autokraten zu verhandeln, deutsche Sicherheitstechnologien in afrikanischen Ländern zum Einsatz zu bringen, Waffenexporte durchwinken, der europäischen Leitstelle für Seenotrettung in Rom durchgehen zu lassen, die Koordination von Notrufe aussendenden Schiffen in sichere Häfen zu verweigern, obwohl das internationale Seerecht die Rettung von Schiffbrüchigen sowie Non-Refoulement vorgibt, hat mit Ursachenbekämpfung indes wenig zu tun. An dieser Stelle die volkssouveräne Grenzsicherung einzufordern - und hier eifert die Sammlungsbewegung den Rechtspopulisten nach -, bedeutet die Mär von den Push- und Pullfaktoren nachzubeten und vor dem Höchststand der Todesopfer im Mittelmeer seit der endgültigen Kriminalisierung der Seenotrettung die Augen zu verschließen. 

Und zuletzt zur Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt: Dass die Stimmensammler_innen den bereits vor dem Sommer 2015 bestehenden, herrschenden und verheerenden Ausbeutungszuständen, allein auf dem innereuropäischen Binnenmarkt bspw. in Sachen Leiharbeit ursächlich den Kampf ansagen, ist fraglich. Nichts anderes wäre aber Sache linker Politik, die sich nicht damit begnügen kann, einst selbstverständliche, sozialdemokratische Standards wieder einzufordern. Dass die Tomatenernte in Apulien und Almeria, die Weinernte an der Mosel, die Errichtung von Shoppingmalls in Berlin, die Arbeit in der Logistik der Fulfillment Center bei Amazon nicht ohne Billiglöhner_innen auskommen, die selbstverständlich schon vor jeder Krise auch aus ganz Europa saisonal angekarrt wurden, ist ein Missstand, der von im Spagat zwischen restriktiver Migrationspolitik, Jobsicherheit und mehr Sozialstaat agierenden Stimmensammler_innen nicht behoben werden wird - da es sich nämlich um Verelendungszustände im real-existierenden Kapitalismus in Zeiten des unaufhaltsamen Klimawandels handelt. Die Bündnisse und Streiks migrantischer Ernethelfer_innen in Südeuropa, die Arbeit von La Via Campesina, als Organisation von Landarbeiter_innen und Landlosen weltweit, Amworkers, ein erster transnationaler Zusammenschluss von Amazon-Beschäftigten in Polen und nicht zuletzt auch der „Herbst der Solidarität“ mit #unteilbar, #welcomeunited, #ausgehetzt, #hambibleibt, #seebruecke, #noPAG, #endegelände haben in Sachen Solidarität hingegen wichtige Grundsteine gelegt.


Kevin Rittberger arbeitet als Autor, Regisseur, Kurator und Journalist. Seine Theaterarbeiten waren unter anderem am Schauspiel Frankfurt, Theater Basel, Düsseldorfer Schauspielhaus, Schauspielhaus Wien und am Maxim Gorki Theater zu sehen. 2011 war er für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert. Zuletzt inszenierte er am Theater Basel die Uraufführung seines Stückes „Revolution in St. Tropez. Stück für die linke Hand“ - über die Anarchistin Emma Goldman.