14.12.2018

»Es war klar, dass es irgendwann explodiert«

Interview mit Geoffroy de Lagasnerie über die Bewegung der „gilets jaunes“

prager frühling: Die Bewegung der „Gelbwesten“ hat sich in den letzten Tagen stark ausgeweitet. Kannst du uns kurz darstellen, wie sich dies vollzogen hat?

Geoffroy de Lagasnerie: Vor einigen Wochen habe ich mit Didier Eribon diskutiert und  wir haben uns gefragt, wieso die Leute gelbe Warnwesten tragen. Wieso dieses Symbol? Didier antwortete: Die Warnweste zieht man sich an, wenn man auf der Autobahn in Gefahr ist und nicht von anderen Autos gefährdet werden will.  Man trägt sie auch, wenn man im Dunklen steht und gesehen werden will.  Man bringt zum Ausdruck: Ich will nicht sterben, ich bin da, helft mir.

Die Gelbwestenbewegung, das ist der Aufstand aller, die von den politischen, medialen, gewerkschaftlichen Systemen strukturell ausgeschlossen wurden, und deren Stimme nicht gehört wird. Es ist eine Bewegung, die keine Grenzen aufweist und auch keine präzisen Ziele geltend macht. Sie bringt den Unmut und die Wut zum Ausdruck  und greift auf die Wohngebiete, die Schulen, die Universitäten über und bezieht neue Gruppen von Schüler_innen bis hin zu den Eisenbahner_innen mit ein. Der Protest der Gelbwesten ist dynamisch und gibt seine Energie an andere soziale Gruppen weiter.

prager frühling: Wieso tritt die Bewegung so radikal und wütend auf?

Geoffroy de Lagasnerie: Man kann die Bewegung nur verstehen, wenn man sie in Beziehung zu anderen Bewegungen setzt, die sich seit der Wahl von Macron gebildet haben: Die Bewegungen der Student_innen, der Krankenpfleger_innen, der Eisenbahner_innen, der Angestellten. Die Gelbwesten sind Effekt des Scheiterns all dieser Bewegungen. Seit der Wahl von Macron gab es viele Proteste,  aber sie sind alle an Macrons Unnachgiebigkeit gescheitert. Die Lebensbedingungen haben sich weiter verschlechtert und es war klar, dass es irgendwann explodiert. Genau das ist eingetreten. Ich würde es so sagen: Radikalität und Wut gehen von Macron aus, der seine autoritäre und inegalitäre, gewaltsame und technokratische Politik verfolgt.  Auf diese Gewalt zu reagieren, auch deutlich, das ist für mich nicht radikal. Das ist das Minimum. Eine wichtige Einsicht, die ich mir merke, besteht darin, dass erst a-legale Aktionen (die Beschädigung von Gegenständen) die Regierung zum Einknicken gebracht haben. Das zeigt auch die Ineffektivität der traditionellen Protestformen. Damit will ich nicht sagen, dass die Gelbwesten gewaltsam sind. Die Gewalt ist eine Eigenschaft der Herrschenden oder des Staates und ich würde das alles eher als „autodéfense populaire“ (populare Selbstverteidigung) bezeichnen. Dass die autodéfense eine effektive Form der Opposition ist, sollte eine Lektion für das Durchdenken der Demokratie unter den heutigen Bedingungen sein.

prager frühling: Wie reagieren die Medien bisher und was hältst von den Reaktionen Macrons?

Die Macht wird immer vom Aufstand heimgesucht: durch die Angst vor dem Aufstand. Die Regierenden betrachten die soziale Welt immer als Ort eines potentiellen Chaos.  Macron hat gedacht, dass eine soziale Dynamik ihn tragen könne. Seine Reaktion sollte man nicht in den kleinteiligen ökonomischem Maßnahmen suchen, sondern in dem Polizeiarsenal, das bei der Demonstration am 8.12. zum Einsatz kam: 2000 Leute wurden präventiv festgehalten — etwa 5% der Demonstranten. Die Mehrzahl wollte einfach nur an der Demonstration teilnehmen. Das ist einfach unglaublich und wenn sowas in Russland passiert, würde man zu Recht von einer antidemokratischen, autoritären Macht sprechen. Man muss auch hinzufügen, dass dutzende Demonstrant*innen und Journalist*innen durch Hartgummigeschosse der Polizei verletzt wurden. Einige haben dabei sogar ihr Augenlicht verloren. Das sagt uns etwas über die Wahrheit der Macht in unserer Gegenwart. Sie wird nicht ausgeübt, weil sie legitim ist, sondern um das Gewaltmonopol aufrechtzuerhalten. In dieser Reaktion tritt das antidemokratische Unbewusste der Regierung Macron zutage.

prager frühling: Welche Rolle spielen bisher die etablierten politischen Kräfte in der Bewegung?

Geoffroy de Lagasnerie: Es findet ein sehr intensiver Kampf zwischen der Rechten und der Linken darüber statt, was die Bewegung bedeutet. So wie die Bewegung entstanden ist, außerhalb der politischen Apparate, war die Bewegung zunächst politisch unbestimmt. Sie hätte sich nach rechts oder links wenden können. Und es gab dann einen starken Kampf diese Bewegung in eine linke Bewegung  für soziale Gerechtigkeit zu transformieren und nicht in eine potentiell faschistische Bewegung gegen den Sozialstaat und die Migranten, wie es die extreme Rechte wollte. Die gute Nachricht ist, dass die Linke diesen Kampf gewonnen hat. Es ist das erste Mal seit 30 Jahren, dass die Linke einen kulturellen Kampf gewonnen hat. Als wir am ersten Dezember auf die Straße gegangen sind und uns die gelben Westen angezogen haben, haben wir auch dafür gekämpft sie als progressive Kraft zu besetzen.

prager frühling: Was ist die Perspektive der Bewegung in den nächsten Wochen?

 Geoffroy de Lagasnerie: Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht. Macrons Repression war stark und hat einen entmutigenden Effekt. Meiner Meinung nach wird sich die Bewegung nur vergrößern, wenn sie sich ihren unerwarteten, innovativen, a-legalen Charakter erhält und sich nicht in die traditionellen Protestformen (Sprecher, klassische Demos) auflöst.

prager frühling: Vielen Dank für das Gespräch.

Geoffroy de Lagasnerie (geboren 1981[1]) ist ein französischer[2] Philosoph[3] und Soziologe[4]. Im September 2015 veröffentlichte de Lagasnerie wiederum zusammen mit Édouard Louis ein „Manifest für eine intellektuelle und politische Gegenoffensive“ in der Zeitung Le Monde, das sich gegen den neuen Rechtsruck in Frankreich und Europa wendete. Jüngste Veröffentlichung: Verurteilen. Der strafende Staat und die Soziologie. Suhrkamp, Berlin 2017.

Links:

  1. https://de.wikipedia.org/wiki/1981
  2. https://de.wikipedia.org/wiki/Frankreich
  3. https://de.wikipedia.org/wiki/Philosoph
  4. https://de.wikipedia.org/wiki/Soziologe