Die Fußballphilosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert …

Neun Thesen der *prager-frühling-Redaktion zu Ballbesitzverhältnissen

Redaktion *prager frühling

 Der Rasen ist Spielfeld und Ersatzspielfeld

Fußball sei das Ballett des Proletariats, meint Simon Critchley (mit einem nur ganz leichten Anflug von Ironie[1]). Doch anders als beim klassischen Bühnentanz ist der Rasensport Austragungsort gesellschaftlicher Kämpfe. Im Stadion wird nicht nur jede Menge Bier konsumiert. Hier wird wie in der Tanzkunst Geschlecht hergestellt, Klasse verhandelt, Selbstzurichtung eingeübt, aber anders als im Ausdruckstanz auch staatliche Repression erprobt, große Politik und das ganz große Geschäft gemacht. Es findet aber eben auch immer das jeweilige Gegenteil statt. In der  Kurve wird Solidarität gelebt, Emanzipation erprobt, Zugehörigkeit hergestellt, Protest geübt, die Verhältnisse zum Tanzen gebracht und auch mal ein Nazihool verdroschen.

Fußball ist also gesellschaftliches Spielfeld und gesellschaftliches Ersatzspielfeld (Timm Beichelt) auf dem außersportliche Konflikte ausgetragen werden. Wer als Linke König*in Fußball versucht allein in die Richtung der herzwärmenden Narrative des stolzen Arbeitersports, der Erzählungen von Underdogs und solidarischer Gleichheit der 11 Freund*innen bzw. der 11 roten Sportsgenoss*innen aufzulösen versucht, macht sich an eigenen, linken Mythen besoffen. (Genauso wie die verwandte Herangehensweise den Fußballkultur auf seinen fußstreng riechenden Machismo und den völkischen Traditionsbestand gerade des deutschen Verbandsfußballs zu reduzieren.)

Gerade all seiner Widersprüchlichkeit wegen, lohnt es sich im und um Fußball zu kämpfen und es ist erfreulich, dass die verständliche jahrelange Fan-Abstinenz der Linken (in Deutschland) schon vor einigen Jahren ein Ende gefunden hat.

Es lebe der Fußballoperaismus

Erstarken linker Fanpolitik hat Fußball attraktiver gemacht, aber auch Gegenkräfte aktiviert.

Der noch viel zu häufig gesagte Satz von CDU-Fußballfunktionären: „Politik hat im Fußball nichts verloren” war aus oben genannten Gründen schon immer fern ab jeder Realität und selbst hochgradig ideologisch. Wer sagt, er möchte keine Kampagnen gegen Rassismus, Sexismus oder Homophobie im Stadion, will weiterhin ungestört gegen gesellschaftliche Minderheiten hetzen. Denn diese Kampagnen finden statt, weil Rassismus, Sexismus und Homophobie – also Politik - in den Stadien anzutreffen waren.

Es ist dem modernen Gegenpressing linker, alternativer, migrantischen Fußballaktiven sowie den aktiven Frauenfußballerinnen zu verdanken, dass die frühere rechte und männerbündelnde Hegemonie, die es gerade in den 1980-1990er Jahren gab gebrochen wurde. Frauenfußballverbot beim DFB, Borussenfront und BFC-Hools kennen viele nur noch als gruselige Geschichten dunkler Jahrzehnte des letzten Jahrhunderts. Stadien sind wieder zu politisch umkämpften Orten einerseits und zur Ersatzheymat ganz unterschiedlicher Menschen geworden sind.

Dass sich die großen Bundesligavereine mal mit mehr und mal mit weniger Verve und unterschiedlichen Anteil an Lippenbekenntnis an solchen Kampagnen beteiligen, ist den vielen Basisaktiven, den Ultras und den linken Fans zu verdanken. (s. dazu unser Gespräch mit Adam Bednarski und Luise Neuhaus Wartenberg.[2]) Die brutale Kommerzialisierung, die Polizierung und Überwachung der Stadien sind Reaktion auf diese Auseinandersetzungen.

Nicht nur in Italien, wo bei FIAT in Turin und Melfi die Bänder stillstanden, weil die Arbeiter*innen gegen die Bezahlung der Ablösesumme für Christiano Ronaldo bei Juventus aus der Firmenkasse streikten[3], finden klassenbewusste Kämpfe statt. Der arabische Frühling, wie auch die Aufstände auf dem Taksimplatz in Istanbul zogen einen beträchtlichen Teil ihrer Stärke und Organisationsmacht aus den Fanstrukturen der lokalen Fußballszene. Die Auseinandersetzungen um Stehplätze und die Spieltage der Bundesliga sind auch im Bundesligafußball solche Kämpfe im Kleinen.

Fußball ist Opium des Volkes …

Bei aller in der ersten These geäußerten Kritik auch an linken Fußballmythen: Es braucht linke Erzählungen über Fußball. Denn Fußballberichterstattung gerinnt zu Alltagsideologie. Durch kaum etwas lässt sich die „Jeder-ist-seines-eigenen-Glückes-Schmied”-Ideologie des Neoliberalismus effektiver aneignen, als durch regelmäßigen Fußballkonsum. Im Fußball entdeckt der moderne Arbeiter sich selbst. Er muss im Team spielen, aber auch durch individuelle Kreativität auffallen. Nur wer gute Leistungen bringt, soll aufgestellt werden, weil sonst die eigene Mannschaft verliert. Da kann keine Rücksicht auf Formschwächen genommen werden. Es gilt nur das vermeintliche Leistungsprinzip. Dass dieses “Leistungsprinzip” im Fußball oftmals genauso ausgehebelt ist, wie im realen Leben, schwant dem Fan zwar, wenn der Stürmer mit Millionengage aus aussichtsreicher Position das Tor nicht trifft, aber letztlich rechtfertigt er das absurde Salär des Balltreters wie den sechsstelligen Gehaltsscheck seines Bosses. So ist er eben, der Markt. Dagegen kann man nichts machen. Und wer “oben” mitspielen will, muss die Gesetze des Marktes befolgen. Ist es marktgerecht, wenn Neuer, Müller, Reus und Co Millionen verdienen, ist es auch gerecht, wenn der Chef eines DAX-Konzerns mehr als das 100fache eines seiner Durchschnittsbeschäftigten erhält. Und weil es markgerecht ist, dass der älter gewordene ehemalige Fußballgott keinen Vertrag mehr bekommt, ist es auch nur gerecht, wenn der etwas langsamere Kollege nach der Probezeit nicht übernommen wird. Man muss halt die besten aufstellen, um in die Champions League zu kommen.

… sorgen wir für guten Stoff

Statt dieses Fußballopiums braucht es andere Erzählungen, die als bewusstseinserweiternde Substanzen dienen können. Diese sollten nicht in der einfachen und falschen Konsumkritik im Sinne der guten Kleinen und der bösen Großen steckenbleiben. (Vgl. dazu auch das Interview mit Dietrich Schulze-Marmeling[4])

St. Pauli, der Rote Stern, die spannenden linken Ultragruppen bei RB, die Schickeria der Bayern – sie alle haben emanzipatorische Einfluss über den eigenen Verein entwickelt oder mit kritischer Fußballgeschichte die Ignoranz der Verbandsführung offengelegt. Das Sprechen über Fußballspielphilosophien kann das Denken befördern. Dabei ist letztlich gleichgültig, ob der autoritäre, körperbetonte und an „Führungsspielern“ orientierte oder der egalitäre, systemische und kreative Potentiale freisetzende Fußball „wirklich“ im politischen Sinne besser ist oder ob dies „nur“ eine „ästhetische“ Frage ist. (Für uns als emanzipatorische Linke gilt natürlich, dass das schöne Leben sich auch im egalitären und kreativen, im schönen Spiel, zeigen muss. Welchen Fußball wir daher bevorzugen, ist für uns keine Frage.)

Aber die Diskussion für den italienischen Catenaccio (“Türriegel”), das spanische Tiki-Taka (ballbesitzorientiertes Kurzpasspiel) oder das von Jürgen Klopp zur Perfektion getriebene Pressing- und Umschaltspiel erlaubt immer auch eine zunächst spielerische Aushandlung und Infragestellung hegemonialer Normen.

Monopolkapitalismus im Endstadion

Neben den auch Kämpfen um Hegemonie, braucht es auch eine materialistische Analyse des Gegenwartsfußball und seines Elends. Dem kommerzialisierten Fußballkapitalismus wohnt eine systemische Tendenz zur Monopolbildung inne - was für seine Funktionsweise ausgesprochen dysfunktional ist. Die durch Wettbewerb erzeugte Notwendigkeit zur „schöpferischen Zerstörung“ (Schumpeter) verebbt im Monopolkapitalismus. Die Folgen sind mangelnde Innovation, Extraprofite auf Kosten der Allgemeinheit und unangreifbare Konzerne, weil ihre Marktmacht dazu führt, dass sie jedem aufstrebenden Wettbewerber klein halten, aufkaufen oder durch Dumpingpreise vernichten können. Eine Praxis, die dem interessierten Fußballfan durchaus bekannt vorkommen dürfte: Der FC Bayern München nutzte seine ökonomische Vormachtstellung in Deutschland seit Jahrzehnten stets durch gezieltes Wegkaufen der besten Spieler und Trainer von der unmittelbaren Konkurrenz. In der “Wirtschaft” wurden zur Verhinderung der negativen Folgen dieser Tendenz gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts Anti-Trust-Gesetze oder das Kartellrecht eingeführt, um eine marktbeherrschende Stellungen einzelner Unternehmen zu be- oder verhindern. In der europäischen Fußball-Unterhaltungsindustrie sucht man eine solche Weitsicht vergebens. Die Folge sind Dauermeisterschaften und Langweile in nahezu allen europäischen Spitzenligen. Und selbst in der Champions League wird der Kreis der potentiellen Gewinnerteams immer überschaubarer.

In diesem spätkapitalistischen Fußballelend werden die Fans zwar immer nur als Konsumenten gedacht. Doch faktisch sind sie die Co-Produzenten, deren Affektivität und Kreativität ausgebeutet wird um das Fußballspektakel am Leben zu erhalten. Denn bekannter Maßen kann es keinen Fußball ohne Fanpublikum geben. (Was sich im übrigen darin äußert, dass sogenannte „Geisterspiele“, also der Ausschluss des Publikums, vom DFB als Strafe verhängt werden kann. Hier findet eine immer wieder aufs Neue stattfindende Akkumulation der affektiven Arbeit von Fans statt.

Ruinöser Rasenstalinismus

Transferstalinismus. Der BFC-Kader von 1979. Von da bis 1989 gewann die Mannschaft die DDR-Oberliga.

Der Stalinismus kannte zwar keinen Markt, aber auch seine Fußballökonomie hat das Spiel gründlich ruiniert. In der DDR wurden auf Anweisung eines greisen aber übermächtigen Geheimdienstchefs die besten Spieler über Jahre zu seinem Lieblingsverein versetzt. Das Ergebnis waren zehn Meisterschaften in Folge für Dynamo Berlin. Eine Langweile, die selbst der Monopolkapitalismus noch nicht herstellen konnte. Denn zehn nationale Meisterschaften in Folge haben bisher weder Bayern München, noch Real Madrid oder Juventus Turin gewonnen.

Demokratischer Transfersozialismus

Die Lösung ist in einem demokratischen Sozialismus auf dem Transfermarkt zu suchen.

Ausgerechnet im Musterland des Kapitalismus, den USA, funktioniert dieser immerhin nach einem Modell linksozialdemokratisch regulierter Marktwirtschaft. Dort wurde zur Regulierung des Footballs ein für ihre Verhältnisse nahezu linkskeynesianisches Regelwerk ersonnen. Der schlechteste Verein der Profiliga NFL darf den besten Spieler der Nachwuchsliga verpflichten, der zweit schlechteste den zweitbesten usw. Die Folge: Die Spielstärken der Mannschaften entwickeln sich nicht aufgrund unterschiedlicher wirtschaftlicher Möglichkeiten auseinander, sondern werden Jahr für Jahr wieder etwas ausgeglichen. Das Ergebnis ist einvergleichsweise ausgeglichener Wettbewerb.

Das Problem dieses Ansatzes der amerikanischen geschlossenen Ligen ist zwar dem deregulierte Spielermarkt europäischer Provenienzüberlegen. Nachteil bleibt, dass die Vereine die Spieler und nicht die Spieler den Verein auswählen. Ein Modell für einen demokratischen Transfersozialismus muss also noch entwickelt werden.

Die Fußballphilosophen haben die Welt nur verschiedenen Interpretiert. Es kömmt aber darauf an sie zu verändern.

Wir haben gesehen: Kapitalismus ist für den Fußball fast genauso zerstörerisch wie autoritär gelenkte Zentralverwaltungswirtschaft. Wir akzeptieren eine gewisse Berechtigung von demokratisch regulierten Märkten im Verhältnis der Vereine und der Vereine zu den Spieler*innen. Aber: wir brauchen klare Regeln, die die Monopolisierung des Fußballs stoppen, den Menschenhandel mit kickenden Jugendlichen verbieten und die irrsinnigen Einkommen begrenzen. Ökonomisch gesehen sind wir also Fußballkeynesianer*innen. Hierfür haben wir einige Vorschläge als Smasher für jede Betriebsfeier und jedes Stammtischgespräch:

 

  • Frauen und Männerfußball sind von gestern ...

Die Bundesligavereine sind Großkonzerne. So lange diese in Frauen- und Männerfußball-Sparten geteilt sind, wird es das krasseste Gender-Pay-Gap auf alle Zeiten geben und weiterhin kein Männerfußballer sein Coming-Out wagen. Schluß damit. Geschlechterseggregation darf es nur noch im Freizeitfußball geben. Dort sind Frauenmannschaften auch Räume des Empowerments und des Schutzes. Im Spitzensport wird die Trennung aufgehoben, in der Übergangszeit sorgt eine Männerobergrenze von maximal 5 aus 11 Spielenden für eine Beschleunigung des Systemwechsels.

  • Wohnortprinzip für Nationalmannschaften

Nationalmannschaften sind ein Relikt. Das Gleichheitsversprechen - hier könnten auch einmal die Staaten des globalen Südens einen Stich machen, wird ohnehin nie eingelöst. Noch nie hat ein afrikanisches oder ein asiatisches Land die WM gewonnen, obwohl es an talentierten Spielern nicht mangelt. Wenn dies so ist, kann man auch gleich das Wohnortprinzip einführen und das überholte Abstammungsprinzip aus dem Fußball verbannen.

  • Einheitslohn für Berufsfußballer*innen

Ohnehin verdienen die Starfußballer nicht unerheblich an Werbedeals und PR-Verträgen. Der Fußball selbst ist Mannschaftssport. Die Ablösesummen und die Verträge spiegeln dies nicht wieder. Wir fordern Tarifverträge für die Bundesliga, Einheitslohn für die Balltreter*innen und eine faire Gehaltsstruktur im Verein: Kein Fußballer darf mehr als das 20zigfache des Platzwarts bekommen - oder zumindest hart besteuert, die Hälfte der Tickets im Stadion nicht mehr als 20 Euro kosten dürfen.

  • Doping kontrollieren.

Der Umgang mit leistungsfördernden Substanzen muss unter strenger ärztlicher Kontrolle erfolgen. Wenn man Doping nicht unterbinden kann, weil die Aussicht auf Millioneneinkommen die Bereitschaft weckt, sich selbst nachhaltig durch die Einnahme leistungsförderndere Substanzen zu gefährden, dann muss die Einnahme eben unter strenger ärztlicher Kontrolle erfolgen.

  • Fußball ist ein öffentliches Gut

Weil das so ist, gehört er auch ins öffentlich-rechtliche Fernsehen genauso wie eine kompetente Sportberichterstattung.

  • Fußball demokratisieren

Die mehrfach in Korruptionsskandale verwickelte FIFA wollen wir in die UNO eingliedern. Das ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Korruptionsbekämpfung naheliegend, sondern auch unter dem Gesichtspunkt der Demokratisierung. Fußball ist Volkssport Nr. 1 in der Welt. Daher ist es nur konsequent sein Regelwerk einem obskuren Verein zu entziehen. Die UNO ist die einzige weltweite Organisation, die legitim zwischenstaatliche Regelwerke erarbeiten kann. Außerdem verhindert die Anbindung an die UNO, dass Staaten gezwungen werden, auf Steuereinnahmen zu verzichten, nur um ein internationales Fußballtunier ausrichten zu können.

  • Die Männerbastion schleifen

Fußballkultur ist an vielen Stellen so maskulinistisch wie das Militär. Deshalb 50 Prozent Frauenquote für Fußballmanagement und Sportjournalismus.

Fußball ist „praxis“[1]

Deshalb raus auf den Platz. Jetzt.

 

[1] Dazu auch der Beitrag von Simon Critchley in dieser Ausgabe.

Links:

  1. https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/1467.fußball-und-sozialismus.html
  2. https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/1465.früher-war-mehr-punkrock.html
  3. https://perspektive-online.net/2018/07/fiat-arbeiterinnen-kuendigen-streik-an-ronaldos-abloesesumme-ist-zu-hoch/
  4. https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/1457.man-müsste-franz-beckenbauer-aus-dem-dfb-ausschließen.html