„Jeden Sonntag ein vernünftiger Satz“

Lindenstraße — über ein tragisches Schicksal

Ramona Lenz
Diese Lindenstraße bleibt. Bis zur nächsten Umbenennung. Die Lindenstraße in Berlin.

Es ist das tragische Schicksal der „Lindenstraße“, dass viele, die zu recht oder unrecht intellektuell und politisch etwas auf sich halten, die Geringschätzung – oder schlimmer noch: die komplette Ignoranz– als Distinktionsgewinn für sich verbuchen. Wer sich in bestimmten Milieus als Lindenstraßenfan outet, erntet nicht selten Irritation und Kommentare wie: „Was? Du schaust die Lindenstraße? Hat meine Oma auch immer geguckt.“ Damit ist sicher nicht unbedingt etwas gegen die jeweils konkrete Oma gesagt. Das geoutete Gegenüber muss sich jedoch in der Regel neu taxieren und in die symbolische Nähe von Omas im Allgemeinen – im Sinne von altbacken und langweilig, aber harmlos und gutmütig – rücken lassen. Da ist ja auch durchaus was dran: Auf den ersten Blick wirken sie extrem uncool und bieder, die Beimers und Dagdelens und Zenkers und all die anderen Familien, die die Kontinuität der Serie seit Jahrzehnten garantieren und die die Zuschauerinnen und Zuschauer an den Fernsehbildschirmen Sonntag für Sonntag zur selben Zeit in schönster fordistischer Manier fit machen für die kommende Arbeitswoche. (Die Verschiebung der Sendezeit von 18:40 Uhr auf 18:50 Uhr und die Möglichkeit, verpasste Folgen zu jeder Tages- und Nachtzeit in der Mediathek zu schauen, hat daran nur wenig geändert. Dass die Lindenstraße inzwischen mehrwöchige Sommerpausen einlegt allerdings schon.)

Wer daraus schließt, dass sich Einschalten für Linke nicht lohnt oder ziemt, irrt aus mindestens drei Gründen:

  • Sie arbeiten in einer Konditorei, betreiben ein Restaurant, einen Friseursalon, eine Kfz-Werkstatt, einem Internet-Start-up, einen Bioladen oder eine Shisha-Bar, verdienen ihr Geld als Arzthelferin, Sozialarbeiter, Polizistin, Taxifahrer, Biologin, Journalist, Immobilienmaklerin, Fitnesstrainer oder schlafen auf einer Parkbank. Sie schließen Freundschaften oder sind zutiefst verfeindet; sie heiraten aus Liebe oder um Geflüchteten ein Bleiberecht zu verschaffen; sie werden versehentlich schwanger oder wünschen sich vergeblich Kinder; sie leben in Wohngemeinschaften oder mit Familienangehörigen; sie ziehen um, werden krank, lieben, mögen, hassen, trennen, verletzen und hintergehen sich. Das Kleinbürgerliche ist omnipräsent, aber nie ungebrochen. Einzig die spießig anmutenden Mietshauskulissen, die in Köln-Bocklemünd stehen, aber einen Straßenzug in München darstellen sollen, sind über die Jahrzehnte weitgehend unbeschädigt geblieben. Einigen wir uns meinetwegen trotzdem darauf, dass sie bieder und langweilig sind, die Nachbarinnen und Nachbarn aus der Lindenstraße. Und von mir aus auch die Zuschauerinnen und Zuschauer. Na und? Wer nicht! Wer sich diese oder ähnliche Eigenschaften nicht selbst schon eingestanden hat und wer nicht getröstet und gestärkt daraus hervorgegangen ist, dass auch die Coolsten entsprechende Züge aufweisen, hat nicht gelebt.
  • Es ist nicht nur der Trost im Alltäglichen und Gewöhnlichen, im Durchschnitt und in der Mittelmäßigkeit, den die Lindenstraße verlässlich bietet. Keineswegs im Widerspruch dazu ist die Serie offen für jeden denkbaren menschlichen Abgrund, in den man gerne mal verstohlen blickt, bevor man sich maximal dreißig Minuten später wieder der Zubereitung des Abendessens und den eigenen Abgründen widmet. In der Lindenstraße leben nicht wenige, die sich wegen versuchter oder gelungener Tötungsdelikte schuldig gemacht haben (von den zahlreichen anderen Verbrechen ganz zu schweigen). Eine ähnlich hohe Dichte an Mörder_innen, Totschläger_innen und Opferangehörigen in einer Straße dürfte außerhalb von Caracas oder Tijuana eher selten sein. Anders als in Städten wie diesen können in der Lindenstraße die meisten früher oder später ganz unauffällig ihr mehr oder weniger kleinbürgerliches Leben wieder aufnehmen. Von dem bisschen Vergangenheit lässt sich in der Lindenstraße niemand so schnell ihr oder sein Alltagsglück verderben. Wenn es sich dramaturgisch ergibt, kann man ja auch Jahre später nochmal auf vergangene Verbrechen zurückkommen. Langweilig geht anders!
  • „An jedem Sonntag wenigstens einen vernünftigen Satz im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu hinterlassen“, hat sich der Erfinder und langjährige Produzent Hans W. Geißendörfer vorgenommen für die Serie, die seit 1985 wöchentlich in der ARD ausgestrahlt wird. Ich möchte ihm hiermit bescheinigen: Sie haben Ihr Ziel erreicht! Geißendörfer, der als „Alt-68er“ gilt, glaubt fest an die aufklärerische Wirkung des Fernsehens und nimmt den Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ernst, „einen Beitrag zur individuellen und öffentlichen Meinungsbildung“ und so „zu einem funktionierenden demokratischen Gemeinwesen“ zu leisten. Auch wer sich längst in post-aufklärerischen und post-demokratischen Zeiten wähnt und es lächerlich findet, dass in der öffentlich-rechtlichen Lindenstraße ausnahmslos alle ihren eigenen beigefarbenen Stoffbeutel mitbringen, wenn sie beim Bäcker einkaufen, kann das unerschrockene Thematisieren gesellschaftlicher Tabus in der Serie nicht leugnen. Die „Lindenstraße“ scheute sich so gut wie nie (man weiß natürlich nicht, was es dann letztlich doch nicht in die Serie geschafft hat), Themen aufzugreifen, die tabuisiert oder zumindest sehr umstritten waren: In den ersten Jahrzehnten machte die Serie mit dem berühmten ersten Fernsehkuss zweier schwuler Männer und Themen wie Umweltverschmutzung, Arbeitslosigkeit, Rechtsextremismus und AIDS von sich reden. In den letzten Jahren thematisierte sie neben vielem anderen Islamophobie, sexualisierte Gewalt, Cannabis-Anbau, Transsexualität oder die Illegalisierung von Flüchtlingen.

Auch wenn es mit Einführung von Privatfernsehen und Internet viel schwerer geworden ist, Tabus zu brechen, ist die Art und Weise der Thematisierung gesellschaftlich umstrittener Themen in der Lindenstraße nicht zuletzt dadurch ebenso einmalig wie überzeugend geblieben, als dass die erzählte Zeit in der Serie und die erlebte Zeit der Zuschauerinnen und Zuschauer fast – aber eben auch nur fast – identisch sind. Eine spektakuläre Jubiläumsfolge wurde mal live gedreht und gezeigt. Ansonsten verlässt man sich aber nicht wie bei anderen TV-Formaten auf den letztlich billigen Echtzeit-Effekt, sondern will aktuell sein und zugleich gute Geschichten erzählen. Dass die meisten Folgen erst kurz vor dem Sendetermin fertig gestellt werden, erlaubt es, eine gute Erzählung zu entwickeln und gleichzeitig aktuelle Ereignisse – zum Beispiel die Hochrechnung von Wahlergebnissen – in die Handlung zu integrieren.

Man muss die „Lindenstraße“ für all das nicht lieben, aber wem erst jetzt mit Netflix und Amazon Prime auffällt, dass Serien nicht unbedingt minderwertiger, blöder und spießiger sind als Spielfilme, der hat was verpasst. Weder „Games of Thrones“ noch „Breaking Bad“ werden jemals eine so beachtliche Zahl ernsthaft ironiebegabter Menschen mobilisieren, die alle zur Verfügung stehenden demokratischen Mittel nutzen, um der Forderung nach Fortsetzung ihrer Lieblingsserie Geltung zu verschaffen. Als Ende 2018 bekannt wurde, dass die Serie nach 2020 nicht mehr fortgesetzt werden soll, hat das nicht nur einige Schauspielerinnen und Schauspieler aus der Bahn geworfen, sondern auch viele treue Zuschauerinnen und Zuschauer. Als in Fragen demokratischer Mitbestimmung geschulte Lindenstraßenfans finden sie sich damit jedoch nicht ohne Weiteres ab. Schnell wurde eine Petition zum Erhalt der Serie aufgesetzt und eine Demo organsiert.

Andreas Sartorius von der Initiative „Lindenstraße muss bleiben“ vermutet, dass „politische Motive“ bei der Absetzung eine Rolle spielen, schließlich habe die „Lindenstraße“ immer „sehr progressiv gesellschaftlich relevante Themen aufgegriffen“. Auch Geißendörfer, der schon öfter um den Fortbestand der Serie bangen musste, zeigte sich empört. Die „Lindenstraße“ stehe für „politisches und soziales Engagement, für Meinungsfreiheit, Demokratie, gleiche Rechte für alle und Integration". Das sei in Zeiten von Rechtsruck und Ausländerfeindlichkeit wichtiger denn je. So ist es. Wer vermag schon stichhaltig auszuschließen, dass die „Lindenstraße“ demokratiefördernd ist und rassistischen und sexistischen Ressentiments entgegenwirkt? (Wenn es um Klassismus geht, scheint mir die Sache allerdings nochmal komplizierter.)

Wenn wir in Zeiten wie diesen glauben, wir könnten auf eine Errungenschaft wie die „Lindenstraße“ verzichten, ist das vielleicht nicht unmittelbar demokratiegefährdend und doch geben wir nicht mehr und nicht weniger als ein Kulturgut auf, das sich nicht einfach ersetzen lässt. Für einen wie Georg Seeßlen mag die Serie vielleicht nur eine „mediale Lebensabschnittspartnerin“ gewesen sein. Doch ihr Ende wird auch ihn nicht kalt lassen. Denn er weiß: „Wir brauchen die „Lindenstraße“, sonst hätten wir gar kein Gewissen mehr.“

Ramona Lenz ist Kulturanthropologin und in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international[1] für das Thema Migration zuständig. In drei Folgen der Serie hatte sie eine Statistinnenrolle. 

Links:

  1. https://www.medico.de/