04.11.2019

Martin Dannecker: Fortwährende Eingriffe

Bodo Niendel

Martin Dannecker war bis 2005 als Professor für Sexualwissenschaften und Vizedirektor des Instituts für Sexualwissenschaften in Frankfurt tätig. Er gilt als Urgestein der westdeutschen Schwulenbewegung. Fast schon ikonisch ist das Foto von der ersten deutschen Schwulendemonstration in Münster 1972, auf dem Dannecker ein Pappschild mit dem Slogan „Brüder & Schwestern warm oder nicht. Kapitalismus bekämpfen ist unsere Pflicht!“ trägt.  Dannecker war der schwul-lesbischen Bewegung stets solidarisch aber immer auch kritisch verbunden. Der auf einem von Rosa von Praunheim und ihm verfassten Drehbuch beruhende Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt“ war einer der Auslöser für die Entstehung der westdeutschen Schwulenbewegung. Danneckers Publikationen griffen in wissenschaftliche Debatte ein und haben maßgeblich zum Verständnis und der Etablierung schwuler und queerer Lebensweisen beigetragen. Dannecker wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, so 2010 mit dem Zivilcouragepreis des Berliner CSD, die Laudatio hielt Gregor Gysi. Etwas weniger bekannt ist Danneckers Engagement als HIV- und Aidsaktivist.

Das Buch „Fortwährende Eingriffe. Aufsätze, Vorträge und Reden zu HIV und AIDS aus vier Jahrzehnten“ gibt einen Überblick über sein politisches und sein intellektuelles Engagement in diesem Bereich. 1985 wandte er sich in einem offenen Brief gegen seinen einstigen Mitstreiter Rosa von Praunheim. Dieser hatte Schwule im Angesicht von Aids dazu aufgefordert, ihre Sexualität nicht mehr zu praktizieren. In scharfen Worten kritisierte Dannecker „Wie jede Identifikation wirkt die Identifikation mit dem Aggressor entlastend. Zu bekommen ist diese Entlastung jedoch nur um den Preis der Unterwerfung.“ Er führt weiter aus, dass die „stärkere Akzentuierung des Triebes unter Homosexuellen keineswegs gleichbedeutend mit einer unmäßigen Triebhaftigkeit (ist). Sie scheint mir jedoch eine der Wurzeln für den geheimen Neid, ja Hass auf Homosexuelle zu sein.“ Man erkennt hier schon den starken Bezug auf Siegmund Freud. Die mahnende Figur der Identifikation mit dem Aggressor durchzieht Danneckers Schriften und dies ist seine mahnende Kritik an einer nur auf Bürgerrechte fokussierten Politik.

Paradoxien von HIV/Aids

Dannecker sah Entwicklungen voraus, so als er 1986 schrieb: „Zu den Paradoxien (…) wird es gehören, dass Aids die Integration der Homosexuellen in die Gesellschaft voranbringen wird.“ Zugleich gab Dannecker zu bedenken, dass sich mit Aids auch die Sexualität der Schwulen verändern werde. „Umerziehungsprogramme“, die nicht zuletzt von schwulen Organisationen selbst propagiert werden würden, veränderten die schwule Sexualität und stünden einer sexuellen Liberalisierung konträr gegenüber. Damit richtete er sich nicht gegen „Safer Sex“, sondern gegen einen damit einhergehenden „antisexuellen Diskurs.“ Wenn auch nicht gewollt, so würden auch die Aidshilfen diesem Diskurs Vorschub leisten. Dannecker gibt zu bedenken, dass man Sexualität nicht auf Rationalität reduzieren könne. Gerade das Irrationale sei Teil der Sexualität. „Safer Sex“ und die damit verbundene Moral, sei nichts weiter als eine Idealvorstellung, „an deren Einlösung die Menschen immer wieder scheitern werden.“

Gerade schwule Männer veränderten ihr Sexualverhalten im Angesicht von Aids gravierend und dennoch starben in der schwulen Community zu Ende der 1980er Jahre, bedingt durch die lange Latenzzeit des Virus, besonders viele Menschen. Aids hatte zu dieser Zeit eine „monströse Präsenz“ für schwule Männer. Auch für Martin Dannecker persönlich, er verlor seinen langjährigen Gefährten zu Beginn der 1990er Jahre. Dannecker hoffte (1991) auf einen bald kommenden Impfstoff gegen HIV und verband damit die fast schon religiöse Hoffnung, dass danach Homosexuelle wieder frei auf ihre Sexualität blicken könnten und dieser neue Möglichkeiten abgewinnen könnten.

Vancouver verändert alles

Auf der Weltaidskonferenz in Vancouver 1996 wurde die Kombinationstherapie, eine neue Zusammensetzung von Wirkstoffen, die den HI-Virus in Schach halten, vorgestellt. HIV/Aids wurde so  zu einer behandelbaren Krankheit, mit einer durchaus hohen Lebenserwartung. Doch Aids hatte die schwule Community auch zusammengeschweißt, sie hatte für sich und andere Hilfesysteme aufgebaut, die in ihrem emanzipatorischen Charakter über sich selbst hinauswiesen, wie Dannecker betont.  Die Möglichkeiten der Kombinationstherapie und das Verschwinden der direkten Todesdrohung bezeichnete Dannecker als „neues Aids.“ Er prägte damit in Vorträgen und Artikeln einen Begriff, der Zugleich zu einem Umdenken aufrief. Wieder einmal trug er eine solidarische Kritik an die Selbsthilfen aber auch an die Ärzteschafft heran. Er rief dazu auf, den Bedeutungswandel von Aids in die Arbeit mit HIV-Positiven und die Prävention einzubeziehen, statt weiterhin auf Ängste, die mit dem „alten Aids“ verbunden waren, zu beziehen. Schwule Männer reagierten schnell auf das „neue Aids.“  Der Wunsch auf Sexualität ohne Kondom wurde in die Tat umgesetzt. Die Todesdrohung war verschwunden und dies hatte Folgen. Die Lust ließ sich nicht mehr mit den alten Ängsten – auf die die Präventionsbotschaften setzten – unterdrücken. Dabei schreckte Dannecker auch nicht vor drastischen Worten zurück. „Ihre humane Orientierung büßt die Prävention ein, wenn sie zu einer Diktatur der Gesundheit und damit einhergehender normativer Vorstellungen von einer angemessenen sexuellen Lebensführung wird“, so Dannecker 2005 zum Weltaidstag in der Frankfurter Paulskirche. Dannecker drückte damit insbesondere seine Kritik an der Ärzteschaft aus, die aus Danneckers Perspektive stets versuche, schwule Sexualität einzuhegen.

Trauer und Selbsthilfe

Seine Rede zum Wandel der Trauerarbeit der Selbst- und Aidshilfen aus dem Jahr 2012 ist sehr persönlich und dabei so berührend, dass man sie eigentlich nur als Ganzes zitieren darf. Trotzdem ein Satz, der seine tiefe Verbundenheit zur Aids- und Selbsthilfe ausdrückt und ihre Bedeutung in Hinblick auf die öffentliche Trauer über die HIV Verstorbenen unterstreicht. Diese Form der Trauer vermittele: „Man kann ein richtiges Leben gelebt haben und trotzdem an Aids sterben.“ Ein vortreffliches Lob, denn was kann eine Selbsthilfe im öffentlichen Bewusstsein mehr erreichen?

Zur Prä-Expositions-Prophylaxe - also der Einnahme von HIV-Medikamenten durch HIV-Negative, um keine HIV-Infektion zu bekommen – schreibt er eine solidarische Kritik, die zugleich freudianisch eine Gesellschaftskritik formuliert: „Denn auch in den Reihen der Gruppen, die von den Aids-Hilfen repräsentiert werden, gab und gibt es Widerstände gegen diejenigen, die scheinbar bedenkenlos herumficken oder sich neuerdings ihr kondomloses Ficken durch die Krankenkassen bezahlen lassen wollen. Es gibt also eine nicht stillzulegende Tendenz des Ausschlusses der angeblich Hemmungslosen aus den eigenen Reihen. Zurückzuführen sind die dieser Tendenz inhärenten Aggressionen auf den Sexualneid derjenigen, die sich wegen der mit der Sexualität verknüpften Infektionsrisiken beständig einschränken, auf diejenigen, denen diese Risiken angeblich gleichgültig sind.“ Dieses längere Zitat vermittelt aus meiner Sicht, wie tiefschürfend, reflektierend und gesellschaftskritisch sein Blick auf Aids, die Bedeutung für die Gesellschaft und auf schwule Lebensweisen ist. Danneckers Eingriffe zeigen einen Intellektuellen in Bewegung. Wer Aids – in seiner gesellschaftlichen Bedeutung als Metapher und Realität – verstehen will, kommt an diesem Buch nicht vorbei.

Bodo Niendel, Referent für Queerpolitik der Bundestagsfraktion DIE LINKE.

Martin Dannecker: Fortwährende Eingriffe: Aufsätze, Vorträge und Reden aus vier Jahrzehnten zu Aids und HIV, Berlin 2019.[1] Eine Onlinefassung gibt es auf der Seite der Aidshilfe[2]. 

Links:

  1. https://www.maennerschwarm.de/index.php/12-titel/750-fortwaehrende-eingriffe
  2. https://www.aidshilfe.de/shop/pdf/10470