„Wir machen linke Politik für alle“

Wo und wie die LINKE Mehrheiten gewinnt

Sebastian Schlüsselburg und Katalin Gennburg sitzen im Berliner Abgeordnetenhaus. Sie haben ihre Wahlkreise direkt gewonnnen. Sebastian erzielte 32,8% in Berlin-Lichtenberg, Katalin 26,4% in Alt-Treptow. Prager Frühling fragt, wie das geklappt hat und wie die LINKE auch in Zukunft erfolgreich sein kann.

Prager Frühling: Also, erzählt erstmal mal was über Eure Wahlkreise Lichtenberg und Alt-Treptow. Wo liegen die? Wer wohnt da so? Was ist die politische Gemengegelage?

Sebastian Schlüsselburg: Mein Wahlkreis liegt in Berlin-Lichtenberg und umfasst Teile des Fennpfuhls sowie die Kieze nördlich und südlich der Frankfurter Allee. Städtebaulich ist es ein Mix aus DDR-Großsiedlungen, Altbauten sowie einigen kleineren Gebieten mit Einfamilien- bzw. Reihenhäusern. Seit einigen Jahren entstehen auch wieder Mehrfamilienhäuser. Entsprechend bunt ist auch die Wählerschaft: einerseits alteingesessene Bürger_innen mit DDR-Hintergrund, anderseits zunehmend mittlere Mittelschicht sowie Student_innen und junge Familien vor allem im Altbau. Bei der Wahl 2016 habe ich den Wahlkreis für DIE LINKE zurückgewonnen und 2017 bei der Bundestagswahl wurde der Wahlkreis mit weitem Abstand von der LINKEN geholt, beide Male mit leichtem Vorsprung der Kandidierenden vor der Partei. Bei den Europawahlen waren CDU, SPD, AfD und Grüne im Wahlkreis in der Großsiedlung ungefähr auf einer Höhe bei um die 15 Prozent, während DIE LINKE zwischen 20 und 31 Prozent lag. Lediglich im weitgehend durchgentrifizierten Altbaugebiet nördlich der Frankfurter Allee einschließlich der dortigen Siedlungsgebiete lagen die Grünen erstmals 3 bis 8 Prozent vor der LINKEN.

Katalin Gennburg: Mein Abgeordnetenhauswahlkreis liegt in Gregors Gysis Bundestagswahlkreis in Berlin-Treptow, dem wasserreichsten und grünsten Bezirk der Hauptstadt. Er verläuft da, wo früher die Mauer stand, an der Grenze zu Neukölln, Kreuzberg und Friedrichshain, wo heute berlinweit die höchsten Mietsteigerungen von bis 22% verzeichnet werden. Ich selbst lebe in Plänterwald. Das ist der Ortsteil mit dem einzigen Kulturpark der DDR, dem Sowjetischen Ehrenmal, dem Treptower Park und endlos vielen Kleingartenkolonien entlang des alten Mauerstreifens. Hier leben viele noch im Erstbezug der Plattenbauten und früher war hier eine Hochburg der PDS. Neueinwohner und Alteingesessene stehen sich gegenüber und wir spüren hier die Verdrängungseffekte aus Kreuzberg und Neukölln. Die PDS hatte 2001 noch 41,2% geholt und den Wahlkreis seit 2006 an die SPD verloren. Mit dem Untergang der Piratenpartei gab es hier aber 11% Wähler*innenpotenzial zu verteilen und darum habe ich aktiv gekämpft und schließlich mit 26,4% und 666 Stimmen Vorsprung das Mandat nach zehn Jahren wieder für Die LINKE zurückgeholt.  

Prager Frühling: Was habt ihr gemacht, um die Wahlkreise direkt zu gewinnen?

Katalin: Wir sind hier praktisch ohne Chance angetreten, ich rechnete mit einer kleinen, vielleicht fünfprozentigen Chance das Mandat zu holen. Nachdem mit Corbyn und Sanders zwei führende Sozialdemokraten einen aktivierenden Wahlkampf gemacht hatten und auch in der LINKEN mehr und mehr Haustürwahlkämpfe organisiert wurden, wollte ich es einfach ausprobieren. Wir waren zunächst zu zweit, mein Freund und ich und holten uns alle möglichen Freunde ran, die mit uns ein offenes Wahlkampfteam bildeten. Wir trafen uns in unserer Küche und strukturierten ab Januar 2016 den Vorwahlkampf und den Wahlkampf. Berlin befand sich damals auf dem Höhepunkt der Mobilisierung für Mietenproteste. Überall gründeten sich Mieterinitiativen und Anwohnerproteste. Dann plötzlich sollte das kommerzielle Massenfestival Lollapalooza im Treptower Park, dem gerade frisch sanierten Gartendenkmal rings um das Sowjetische Ehrenmal stattfinden. Ich und viele andere war empört. Wir schrieben sofort Flugblätter und verteilten diese überall hier in Plänterwald und riefen zum Protest auf. Das passte prima zu meinem Wahlslogan „Mietenwahnsinn stoppen, Stadtgrün schützen!“ und wir organisierten monatelang Anwohnertreffen, eine Protestinitiative, Demos und zusätzlich noch den „normalen“ Wahlkampf mit Plakaten, Infoständen und Auftritten – mit einem Wahlkampfbudget von 1000,-€. Der Bekannte meiner Freundin Lena Kreck lieh mir einen alten Wohnwagen und mit dem zockelte ich durch den Wahlkreis und bot mobile Sprechstunden an. Das war der Einstieg in eine gut vernetzte Wahlkreisarbeit und ich lernte viele Genoss*innen, allerhand Bürger*innen und alle mögliche Kiezinstitutionen kennen, mit denen ich bis heute arbeite.

Sebastian: Der Wahlkreis wurde durch kontinuierliche Arbeit in den fünf Jahren vor der Wahl gewonnen, auch ohne Mandat. Dabei zeichnete sich die Arbeit durch klare linke Positionierungen in wichtigen Themen und die Ansprechbarkeit für alle aus. Es gab keine Hierarchie der Interessen. Ich war und bin genauso für den Rentner da, dem der Bus vor der Tür fehlt wie für Studierende, die sich Gedanken über ein Bedingungsloses Grundeinkommen machen. Ich kümmere mich um Eltern, die keinen Kita-Platz bekommen und genauso wie um kleine Gewerbetreibende, die Probleme mit dem Amt haben. Im Wahlkampf habe ich zudem klar Position gegen den Ausbau der Stadtautobahn A100 gezogen. Unser Slogan „Bezahlbares Wohnen statt A100“ hat einen Nerv getroffen, weil er den Kampf für eine lebenswerte und bezahlbare Stadt greifbar gemacht hat.  

Prager Frühling: Wie sieht eure Wahlkreisarbeit zwischenzeitlich aus?  

Sebastian: Wichtig ist es vor allem kontinuierlich im Wahlkreis persönlich präsent zu sein. Darum sind neben der Unterhaltung eines Wahlkreisbüros regelmäßig wiederkehrende Veranstaltungen wichtig. Ich biete z.B. eine monatliche Mietrechtsberatung an oder bringe einmal im Jahr in jedem Kiez die Anwohnerinnen und Anwohner mit der Polizei und dem Bürgermeister zusammen, um über Ordnung und Sicherheit zu sprechen. Ein Highlight war die Diskussion mit Katja Kipping und Michael Müller zur Frage, welches Grundeinkommensmodell besser ist. Darüber hinaus versuchen wir regelmäßig mit eigenen Infos in die Briefkästen zu kommen. Das betrifft zum Beispiel meine Jahresbilanzen oder mein Hausaufgabenheft zum Schulstart, in dem meine Wähler mir Hausaufgaben mitgeben können.

Katalin: Ich kümmere mich von der kaputten Bank über die drohende Schließung der Einkaufhalle bis zum Protest gegen den Autobahnweiterbau und um alles was sonst so los ist. Menschen schildern mir ihre Probleme und ich mache daraus schriftliche Anfragen, selten auch Anträge und Briefe an die Bürgermeister und Senator*innen unserer Stadt.

Ich mache Wahlkreistage, wo ich Akteure im Wahlkreis besuche. Das reicht von der Archenhold Sternwarte bis zur Wasserschutzpolizei, von der Mieterinitiative bis hin zum Kleingartenverein. Inzwischen gibt es auch wieder jüngere Genoss*innen, die sich hier organisieren. Die Parteiarbeit blüht wieder auf, was mich auch beflügelt. Wir organisieren Sprechstunden und Mietrechtsberatungen, machen monatlich eine Veranstaltung zu aktuellen Themen, einmal im Jahr mache ich gemeinsam mit meiner Mama die Kräuterwanderung durch die Kleingartenanlagen und immer im Januar findet der Presseclub mit Journalist*innen statt. Wir flyern regelmäßig zu aktuellen Themen, machen Infostände und sammeln fleißig Unterschriften für Volksbegehren. Ich denke was nicht zu unterschätzen ist: Ich wohne in meinem Wahlkreis, Menschen treffen mich im Alltag und manchmal sprechen Nachbarn mich auf meinem Balkon an.

Prager Frühling: In der LINKEN wird ja seit geraumer Zeit viel über „Milieus“ und „Lebensstile“ spekuliert, in wie fern hilft Euch das in Eurer alltäglichen Praxis?

Sebastian: Diese Diskussion geht an der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen und damit der politischen Arbeit im Wahlkreis vorbei. Im Alltag gibt es große Schnittmengen der Interessen zwischen allen Milieus, z.B. an guter Infrastruktur, einem funktionierenden ÖPNV, bezahlbaren Wohnraum, guten Schulen. Die Leute wollen das Probleme gelöst werden und sich ihr Leben im Alltag verbessert. Erfahrungsgemäß ist es den Menschen ansonsten wichtig, dass man sie als Individuen mit ihren Anliegen ernst nimmt und mit ihnen ehrlich und authentisch ins Gespräch kommt. Wer versucht uns als Partei in diesen Fragen eine Entscheidung aufzuzwingen und unsere Wähler gegeneinander ausspielt, springt zu kurz. Wir machen linke Politik für alle.

Katalin: Ich bin so viele gleichzeitig. Ich liebe Chiapudding und trinke Hafermilch, war auch mal alleinerziehend, bin in der Platte in Sachsen-Anhalt mit Arbeitslosengeld großgeworden und wollte mal Künstlerin werden. Und dann höre ich so oft „Du bist so ne typische Berlinerin“ und ich sage dann: Genau, so ne typische Zugezogene.

Den Protest gegen das Kommerzfestival habe ich als Antikapitalistin und linke Stadt- und Raumforscherin mit Herz organisiert. Da ging es nicht um Milieus oder Zielgruppenanalyse, ich habe gemeinsam mit den Anwohner*innen gegen den Ausverkauf der Stadt im konkreten Einzelfall gekämpft. Dagegen, dass diese Stadt immer mehr zum Ballermann verkommt und immer mehr Kieze an AirBnb verloren gehen, dagegen, dass Schichtarbeiter nicht schlafen können, weil ringsum nur noch Hostels mit Partytouristen sind. Das war zuerst linke Analyse und Kritik und dann praktisches Campaigning. Übrigens wurden wir alle zu „Spaßverderbern“ und kleinhirnigen Langweilern erklärt und auch meine DJ-Freunde haben meine Kritik fast nicht geteilt. Wenn ich mir im Anschluss daran dann auch noch von Leuten aus der Partei irgend eine aufgezogene Milieudebatte geben muss, kann ich nur noch lachen. Ganz ehrlich: Die Widersprüche sind viel zu groß und lebendig als dass wir sie lustlos in so kleine Schubladen sortieren könnten.