Fata Morgana „Kommunitarismus“

Die Gegenüberstellung von Kosmopolitismus und Kommunitarismus in der linken Strategiediskussion ist falsch

Jörg Schindler

In letzter Zeit wird immer mal wieder vorgeschlagen neben der traditionellen Rechts-Links-Unterscheidung des politischen Spektrums eine weitere — von dieser Achse unabhängige — Unterscheidung vorzunehmen, nämlich einerseits kosmopolitische, andererseits kommunitaristische Auffassungen. Davon ausgehend wird zuweilen dafür plädiert, dass sich die politische Linke sich einer links-kommunitaristischen Option zuwenden solle, da für diese WählerInnen in der Bundesrepublik ein politisches Angebot fehle. Tatsächlich würde lediglich die AfD (rechts-)kommunitaristische Positionen in der Bevölkerung artikulieren, während weite Teile der Bevölkerung aufgrund ihrer links-kommunitaristischen Einstellung nicht mehr wählen gehe würden und zudem die SPD diese WählerInnen nicht mehr vertrete.

Weder die Analyse noch Schlussfolgerung hält jedoch nach meiner Auffassung einer Überprüfung in der Praxis stand.

Regulierung als Konflikt

Zunächst fällt auf, dass solche Darstellungen meist ohne jegliche empirische Unterfütterung auskommen. Dabei ist selbstverständlich nicht zu bestreiten, dass in der Bevölkerung ein scharfer gesellschaftlicher Konflikt geführt wird: Dieser kreist darum, ob eine Regulierung politischer Prozesse a) überhaupt noch möglich ist und b) eher auf regionaler oder nationaler Ebene oder eben auf übernationaler Ebene erfolgen kann. Ebenfalls unstrittig ist, dass in diesem Konflikt auch die dahinter liegende eigene Interessenlage eine enorme Rolle spielt: Bevölkerungsgruppen, die eines sozialstaatlichen Schutzes oder eines auch für ihre berufliche und familiäre Situation notwendigen sozialen Nahraums im Alltag stärker bedürfen, sich also durch dynamische Veränderungsprozesse in der Gesellschaft gefährdet sehen, werden eher auf eine Regulierung politischer Prozesse auf regionaler oder nationaler Ebene Wert legen. Demgegenüber werden wiederum Bevölkerungsgruppen, die nationalstaatlicher Schutzmechanismen weniger bedürfen oder sogar bei ihrem eigenen beruflichen oder alltäglichen Leben als hinderlich empfinden, diese Regelungen tendenziell ablehnen oder jedenfalls für verzichtbar halten. So weit, so banal.

Lets talk about kommunitaristische Solidarität

Der Kommunitarismus: Verheißung oder Trugbild?

Es greift jedoch gerade zu kurz, daraus zu schließen, dass kommunitaristische Positionen, die „die Bedeutung lokaler oder nationaler Demokratie und Solidarität hervor(heben)” (Andreas Nölke), auch tatsächlich solidarischer oder fortschrittlicher seien. Andreas Nölke merkt im Debattenheft 8/2018 der Sozialistischen Linken — am Rande und verschämt — an, dass eine solche Solidarität, „aber gerade gegenüber Migranten nicht grenzenlos sein kann, um einen funktionierenden Sozialstaat aufrecht erhalten zu können”. Das lässt durchaus aufhorchen: Offenbar ist die kommunitaristische Solidarität also doch nicht an die räumliche Nähe, sondern an die Herkunft gebunden. Das ist dann durchaus ein bemerkenswerter Bruch. Nähme man nämlich das Kommunitarismus-Argument ernst, würden kommunitaristisch handelnde Menschen hier keinen Unterschied machen. Und in der Tat: Wir erlebten 2015 sowohl kommunitaristisches als auch kosmopolitisches Handeln: Die Flüchtlingshilfe-Engagierten handelten durchaus im besten Sinne des Wortes kommunitaristisch, halfen unmittelbar Angekommenen, in ihren lokalen Orten bei der Unterbringung, in Sprachkursen usw..., ohne Verweis auf „große weltpolitische Zusammenhänge”, sondern aus einem spontanen Akt der Nahraum-Solidarität. Demgegenüber fanden wir 2015 im schlechten Sinne „kosmopolitisch” argumentierende und handelnde Subjekte vor, die sich darum sorgten, dass wir nicht die ganze Welt aufnehmen könnten, die Geflüchteten lieber „ihr Land wieder aufbauen sollten” oder die Flüchtlingsaufnahme doch letztendlich nur geopolitischer neoliberaler brain drain sei, ganz davon abgesehen, dass sich die Gruppe der Syrien-Experten in der Bundesrepublik samt dem Wissen um Verfolgungslage und Medienmanipulation zwischen „gut” und „böse” in diesem Konflikt spontan kosmopolitisch interessiert vervielfachte.

Kommunitarismus als formales Kriterium

Aber auch in weiteren Politikfeldern, die als Anknüpfungspunkt für einen angeblichen Gegensatz zwischen kommunitaristischen und kosmopolitischen Positionen benannt werden, trifft dies bei näherer Betrachtung nicht zu: Keineswegs war die Zustimmung zu TTIP in urbaneren, jüngeren Milieus aus Universitätsstädten größer als in Kleinstädten und unter bedrohten Schichten des Niedriglohns. Man darf - im Gegenteil - sogar annehmen, dass gerade kritisch-solidarische Mittelschichten, also jene, die angeblich „kosmopolitisch” orientiert sein müssten, die Basis einer TTIP-kritischen Position in der Bevölkerung bildeten; jedenfalls dann, wenn man sich die TeilnehmerInnen der Demos anschaut. Und auch anhand eines etwas älteren Beispiels mag man die Unstimmigkeit der Unterscheidung erkennen: Die Gründung von attac. Auch hier waren es keineswegs die Schichten, die üblicherweise als „kommunitaristisch” beschrieben werden, die damals die Etablierung dieses anti-neoliberalen Netzwerks in der bundesdeutschen Öffentlichkeit bewirkt haben, sondern Menschen beider angeblichen Strömungen in der Gesellschaft. Sie einte ein Unbehagen an der neoliberalen Ausrichtung der Finanzmärkte und des Welthandels. Es handelte sich um eine solidarische Haltung, die sich sowohl aus tatsächlich kommunitaristischer Überzeugung speisen konnte (die damaligen so genannten „Deglobalisierer”) als auch aus ehrlicher „kosmopolitischer” Überzeugung, nämlich der Erkenntnis, dass in Zeiten des entfesselten Neoliberalismus auch die Gegenbewegung übernational organisiert und handlungsfähig sein muss. Sie muss zudem die internationalen Zusammenhänge in eine anti-neoliberale Strategie und damit ein Spektrum sozialdemokratischer, sozialistischer, linker grüner oder auch undogmatisch-linker Ausrichtungen, einbeziehen. Auch damals wurde über Möglichkeiten und Ebenen anti-neoliberaler Regulierung als radikale Reformpolitik kontrovers diskutiert. Aber es waren immer beide Auffassungen, „kommunitaristische” wie „kosmopolitische”, präsent und aktiv. Und beide Positionen durften mit Recht das Ticket „links” beanspruchen.

Diese realen Unstimmigkeiten der Unterscheidung lassen nun seinen analytischen Mangel in den Blick rücken: Es handelt sich bei der angeblichen Differenz zwischen „kommunitaristischen” und „kosmopolitischen” Einstellungen um ein lediglich formales Kriterium. Dieses ist - ähnlich wie etwa die Extremismustheorie nur formal zwischen „gemäßigten” und „extremen” politischen Auffassungen, nicht aber nach materiellen Inhalten unterscheiden kann - untauglich für eine erfolgreiche linke Strategie. Denn bei Lichte betrachtet, benötigt die politische Linke eben beides: den „kommunitaristischen” Gedanken, dass Solidarität und die Zurückdrängung von Herrschaftsverhältnissen immer auch eine praktisch werdende konkrete Maßnahme im sozialen Nahraum ist, sei es beim Kampf gegen eine Mieterhöhung im Kiez, die gute Versorgung im Alter und bei Pflegebedürftigkeit, das autonome Seminar der Fachschaftsinitiative einer Universität oder solidarische Betriebsratsarbeit. Und den „kosmopolitischen” Gedanken, dass jedes gesellschaftskritische Engagement immer auch den Zusammenhang über den sozialen Nahraum herstellen muss, weil jeder „kommunitaristische” Gedanke anderenfalls zur bloß karitativen oder sogar egoistisch-bornierten Selbsthilfe mutieren kann. Eine solche Aufspaltung beider notwendiger Vorstellungen für eine solidarische Regulierung in „Kommunitaristen” und „Kosmopoliten” ist dann ein Hemmschuh für solidarisches, milieuübergreifendes Handeln, das aber notwendig ist. Schlimmstenfalls ist es eine Denunziation, und zwar in beide Richtungen: Wer will sich schon gern als Gehilfe des „no-border-Neoliberalismus” bezeichnen lassen, wer umgekehrt als latent fremdenfeindlicher Provinz-Hinterwäldler? Eine solche formale Unterscheidung schwächt die Linke.

Irritationen vermeiden, Gemeinsamkeiten schaffen

Deshalb hat das angebliche „enorme Potenzial” für eine solche Linke auch in der Praxis den Test nicht bestanden: So verloren etwa die SP der Niederlande — die immer wieder als Vorbild einer linkskommunitaristischen Strategie benannt werden ֫— bei den Kommunalwahlen ca. 30 bis 50% ihrer Stimmen, vor allem an die Konkurrenten von GroenLinks und an die Konservativen. Hintergrund dieser negativen Entwicklung war hier wiederum die Flüchtlingspolitik, und zwar dahingehend, dass die SP offensiv vermieden hatte, den Zusammenhang zwischen Sozialpolitik und Migrationspolitik aufklärerisch zu bearbeiten, insbesondere nicht mit einer humanen Migrationspolitik verbunden werden wollte. Dies führte zum einen zur Entfremdung zwischen in diesem Bereich aktiver Basis und Wählerschaft, die dann zu den linksliberalen Grünen abwanderten; zum anderen aber konnten weder andere Wählergruppen gewonnen werden, und auch in migrantischen oder städtisch geprägten Wählercommunities führte diese“kommunitaristische” - Strategie zu einem Desaster. Das Beispiel soll hier ausdrücklich auch nicht als Argument für eine umgekehrte Strategie dienen: Selbstverständlich ist auch ein schlichter Bezug auf die „kosmopolitischen” städtischen Milieus kein Weg, sondern es muss darum gehen, die gemeinsamen materiellen Interessenlagen sowohl von „kommunitaristischen” wie „kosmopolitischen” Milieus an einer anti-neoliberalen Regulierung des Kapitalismus, sei es regional, national oder auch auf europäischer/internationaler Ebene, herauszufiltern und dann in Beziehung zu setzen. Deshalb ist dann auch das Kriterium selbst das Problem. Die Kommunitarismus-Doktrin ist nämlich ideologisch, indem sie voraussetzt, was sie angeblich „beweisen” will: Dass es „Linken dagegen um die pragmatische Einsicht” ginge, „dass derzeit Sozialstaat und Demokratie am besten auf der nationalen Ebene zu verteidigen sind und die Vorstellung, das ließe sich global und ohne Grenzen organisieren”, falsch sei. Wenn dem so wäre, bräuchte es tatsächlich nur noch genügend „Kommunitaristen” weltweit. Die Praxis ist aber auch hier bereits seit längerer Zeit eine andere: Wir erinnern uns nur zu gut an die die Umformung des keynesianischen Wohlfahrtsstaates zum nationalen Wettbewerbsstaat, der hohen Zeit der nationalen Standortkonkurrenz in den 1990er Jahren, insbesondere im Rahmen der EU-Osterweiterung. Gerade die Schere der nationalen Standards strafen alle Behauptungen Lügen, man könne ausschließlich „Sozialstaat und Demokratie am besten auf nationaler Ebene verteidigen”; vielmehr fällt gerade diese Zeit zusammen mit einer enormen Schwächung der Gewerkschaften und auch der sozialdemokratischen Strategie des Dritten Wegs und der Bündnisse für Arbeit - und mit der Gründung des anti-neoliberalen Bündnisses attac. Dass auch heute Migration, internationale Handelsbeziehungen und Vermögensumverteilung, gar eine solidarische Neuordnung der Produktionsbeziehungen insgesamt nicht „kommunitaristisch” oder „kosmopolitisch”, sondern nur in einem Mix aus regionaler, nationaler und internationaler kooperativ-solidarischer Regulation möglich sind, war damals eine Erkenntnis des globalisierungskritischen Netzwerks. Dahinter sollte die Linke von heute nicht zurückfallen.

Bei dem Beitrag handelt es sich um einen leicht überarbeiten Text aus „realistisch & radikal 8/2018“.