Etwas Neues entsteht direkt aus der Gesellschaft

​​​​​​​Zu den neuen sozialen Bewegungen und der wachsenden Dringlichkeit grundlegender Veränderung

Wir erleben im Jahr 2019 eine neue Welle von Zivil-Courage. Denken wir nur an den Klimastreik von Schülerinnen und Schülern für Klimaschutz unter dem Motto #Fridaysforfuture, die Proteste um den Erhalt des Hambacher Forsts gegen den weiteren Kohleabbau unter #Hambibleibt, die zivilgesellschaftlichen Initiativen zur Seenotrettung von Geflüchteten, die ohne diese Initiativen ertrinken würden oder an das Volksbegehren „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ gegen den #Mietenwahnsinn.

Die Themen dieser Initiativen sind vielfältig. Sie reichen von Kampf gegen die Abschottung über den Kampf gegen den Mietenwahnsinn bis hin zum Klimaschutz. Doch in ihrer inneren Anatomie gibt es viele Gemeinsamkeiten. Die erste Gemeinsamkeit lautet: All diese Bewegungen knüpfen einerseits an Werte und Moralvorstellungen an, die bis weit in die gesellschaftliche Mitte verankert sind bzw. angerufen werden können. Wenn ein Mensch ertrinkt, schaut man nicht zu, sondern hilft. (Seawatch) Wenn unser aller Zukunft auf dem Planeten infolge der Klimaerwärmung in Gefahr ist, dreht man  nicht Däumchen, sondern rüttelt die Verantwortlichen auf. (Klimastreik) Wenn Mieterinnen und Mieter massenhaft aus den Innenstädten vertrieben werden, nur damit die Renditen der Immobilienkonzerne steigen, muss man handeln (Deutsche Wohnen enteignen). Dadurch gibt es viel Zuspruch für diese Bewegungen weit über die üblich Verdächtigen hinaus. Hinzu kommt, dass die Folgen der Mietsteigerungen, auch ganz materiell bei der Mittelschicht angekommen sind und selbst Menschen mit mittleren Einkommen kaum noch eine Wohnung innerhalb des Rings in Berlin finden

Alles andere als harmlos: keine Scheu vor mächtigen Gegnern

Doch all diese neuen Protestinitiativen sind alles andere als harmlos. Sie setzen jeweils gezielt auf Regelüberschreitung, nehmen dabei auch persönliche Nachteile in Kauf. Die Klimastreiks finden bewusst nicht nach der Schule am Nachmittag, sondern während der Unterrichtszeit als Streik statt. So manche Schulleitung sanktioniert die Teilnahme am Klimastreik deshalb mit schlechten Noten oder Schulverweisen.  Sie tun dies, weil sie wissen, dass hier die konfliktive Form gefragt ist, um Veränderungen zu bewirken.

Beim Volksbegehren „Deutsche Wohnen und Co. Enteignen“ handelt es sich in der Form zwar um eine durchaus in Berlin schon mehrfach praktizierte Form der direkten Demokratie. Hier liegt das Ungeheuerliche im Inhalt: Sie stellen ernsthaft die Eigentumsfrage. Enteignung – das galt im politischen Raum lange Zeit als No Go; als eine Forderung, die man sofort mit der antikommunistischen Keule erschlagen konnte. Doch die Erfahrungen mit den Miethaien, die massenhafte Bedrohung durch Verdrängung hatten etwas verändert. Plötzlich war die Berliner Landespolitik damit konfrontiert, dass diese Forderung in Berlin auf breite Sympathien stieß. Als ob viele ahnten, dass jetzt deutlichere Gegenwehr gefragt ist. Um es mit den Worten einer sechzigjährigen Frau wiederzugeben, die mich nach eine Talkshow ansprach: „Ich bin ja eher konservativ als kommunistisch, aber wenn man denen von Deutsche Wohnen nicht mal so richtig die Instrumente zeigt, passiert ja nichts.“

Bei Immobilienfonds wie Deutsche Wohnen und Vonovia handelt es sich um mächtige Gegner. Über die Schattenbank Blackrock sind sie mit den Ratingagenturen verbunden. Eine dieser Ratingagenturen drohte nach Bekanntwerden der Initiative umgehend damit, im Falle eines erfolgreichen Bürgerbegehrens, die Kreditwürdigkeit der Stadt Berlin herabzustufen. Dass die Agentur selber genauso wie Deutsche Wohnen zum Teil Blackrock gehört und damit befangen ist, verschwieg sie natürlich.

Die Strafe, mit der Seenotretter rechnen müssen, erfordert besondere Einsatzbereitschaft. Sie reicht von Geldstrafen, Beschlagnahmung des Bootes bis hin zu Gefängnisstrafen. Der Seenotretterin Pia Klemp wird in Italien mit 20 Jahren Haft gedroht. Die Sea-Watch Kapitänin Carola Rackete entschied das Leid von erschöpften Menschen, die Wochen lang auf einem Boot festsaßen, zu lindern und fuhr trotz Verbots einen italienischen Hafen an. Gemeinsam mit ihrer Crew bot  sie der Regierung Salvini und der Abschottungspolitik die Stirn. Dafür wird ihr nun in Italien der Prozess gemacht.

Und diese mutigen Kapitäninnen sind kein Einzelfall. Tatsächlich sind in vielen der Proteste junge Frauen tonangebend. Sie sind zugleich diejenigen, die sich viel weniger von patriarchalen rechten Mobilisierungen angesprochen fühlen. Sie stellen sich den Rechten in den Weg und führen die grundsätzlichen Kämpfe um das Leben (Klima, Abtreibung, Menschenrechte). So gesehen nehmen die neuen Bewegungen auch aus feministischer Sicht eine Vorreiterrolle ein.

Die Dringlichkeit des Anliegens führt zu pragmatischer Radikalität und radikalem Pragmatismus

All diese neuen Bewegungen scheuen also nicht den Konflikt, sie übertreten bewusst Regeln, haben keine Scheu vor mächtigen Gegnern. Doch die Radikalität ist für sie kein Selbstzweck. So scheuen sich die Schülerinnen und Schüler vom Klimastreik nicht davor, sich mit Fraktionen und Regierungsvertretern zu treffen. Schließlich wollen sie für ihr Ziel der schnellen Klimaneutralität werben. Sie kommen aus verschiedenen Parteien oder aus gar keinen, mobilisieren aber bewusst am Freitag vor der Europawahl, um zu befördern, dass diese Wahl eine Klimawahl wird. Ihr Anliegen ist dringlich, denn mit dem steigenden Meeresspiegel lässt sich nicht verhandeln.

All die vielen Mieteninitiativen haben ebenfalls ein dringliches Anliegen: Sie wollen sich weiterhin ihre Wohnungen leisten können, so kämpfen gegen die direkte Bedrohung der Verdrängung. Hier brauchen sie Ergebnisse. Wahrscheinlich haben so manche davon im Zuge ihrer Organisierung und Mobilisierung auch Gefallen am Kämpfen und Protestieren gefunden. Doch die Dringlichkeit besteht darin, dass jeder Mensch ein Dach über den Kopf braucht und sie ganz genau wissen, wenn sie einmal aus ihrer Wohnung raus müssen, werden die wenigsten im vertrauten Umfeld eine neue für sie bezahlbare Wohnung finden. Diese existentielle Frage ist für sie so dringend, dass sie sich den Luxus nicht leisten können, abstrakt über die Vorzüge von Reform oder Revolution zu streiten.

Ähnliches ist bei den Aktiven der Seenotrettung zu beobachten: Ihre Argumentation geht ums Ganze: um die Unbedingtheit von Menschenrechten, um die Bewegungsfreiheit für alle. Bei jedem Einsatz geht es jedoch um konkrete Menschenleben. Diese Dringlichkeit beförderte die Zusammenarbeit der Seenotrettung und den fortschrittlichen Stadtregierungen und Kommunen, die sich im Netz der Solidarischen Kommunen zusammengeschlossen haben. Und diese Dringlichkeit erhöht die Verzweiflung über einen Bundesinnenminister wie Horst Seehofer, der die Aufnahme von geretteten Geflüchteten verweigert.

Aus linken Ideen müssen linke Optionen werden

Folgerichtige forderte Ruben Neugebauer, der Vertreter von Seawatch, deshalb auf dem Europa-Konvent der Linken im Mai 2019: Aus linken Ideen müssen linke Optionen werden. Für seinen Einsatz und für die Aussage gab es viel Applaus. Doch diese Aufforderung enthält einen enormen Handlungsauftrag. Konkret geht es darum, dafür zu sorgen, dass Politiker wie Horst Seehofer nicht mehr Bundesinnenminister sind. Das heißt aber im Klartext, erstens dafür zu sorgen, dass es Regierungsmehrheiten links der Union gibt (was erstmal erstritten werden muss) und dann dafür zu sorgen, dass fortschrittliche Regierungsmehrheiten auch tatsächlich für eine fortschrittliche Politik einstehen. Für eine Politik, die Seenotrettung nicht nur entkriminalisiert, sondern auch dafür sorgt, dass die Geretteten nicht nur überleben, sondern in einem neuen Leben ankommen können. Für eine Politik, die Klimaschutz nicht simuliert, sondern in aller Konsequenz umsetzt, und das erfordert die Bereitschaft sich mit Konzernen anzulegen.

Zunehmend gelingt es, die fortschrittlichen Proteste zu bündeln. So ging es beispielsweise bei den #Unteilbar-Demonstrationen sowohl um die Demokratie, wie um Klimaschutz oder soziale Gerechtigkeit und Frauenrechte. Was sie alle einte, war die Überzeugung, dass die Antwort nicht von rechts vorgegeben werden darf.  Angesichts der Dringlichkeit wächst das Bestreben nach einer gemeinsamen Erzählung, wohin die Reise gehen soll.

Dringlichkeit der Zeit erfordert Zusammenspiel von radikalen Bewegungen, fortschrittlichen Parteien und Regierungsmehrheiten links der Union

Die drohende Klimakrise, das Artensterben, die sich verschärfende Gerechtigkeitskrise auch hierzulande, das Leid von Flüchtenden und der wachsende Migrationsdruck – all das steht für die Dringlichkeit von Veränderungen. Diese Veränderungen müssen zugleich grundlegend und radikal sein und zum anderen unverzüglich in Angriff genommen werden. Nun sind die Bedungen dafür nicht optimal, aber die Dringlichkeit der Krisen und die Nöte der Menschen sowie der Klimakollaps erlauben kein Warten auf optimale Bedingungen. Schon deshalb nicht, weil dieses Warten schnell zum Warten auf Godot verkommen kann. Und der kam bekanntlich nie.