17.12.2019

Endlich!

»Bruchlinien — Drei Episoden zum NSU« füllt eine klaffende Leerstelle

Stefan Gerbing

»Bruchlinien — Drei Episoden zum NSU« von Paula Bulling[1] und Anne König hat bisher schmerzlich gefehlt. Zwar mangelt es nicht an Texten über die rassistische Mordserie des NSU. In den Jahren seit dessen Selbstenttarnung sind zehntausende Seiten Untersuchungsausschussberichte sowie dutzende Bücher sehr unterschiedlichen Schwerpunkts und sehr verschiedener Qualität publiziert worden. So verdienstvoll einige dieser Text sind: Um ein breiteres Interesse an der „rückhaltlosen Aufklärung“, aufrechtzuerhalten, welche die Bundesregierung blumig versprochen, aber nie geliefert hat, bedarf es wohl anderer Medien als umfangreicher Reportagen oder expertisegesättigter Sammelbände.

Es fehlt an Texten, die Übersicht und Orientierung verschaffen, die wichtige offene Fragen markieren und Interesse an ihrer Beantwortung auch bei kommenden Generationen wecken. Denn viele Akten werden, wenn überhaupt erst in Jahrzehnten zugänglich. Ohne anhaltendes gesellschaftliches Interesse wohlmöglich nie.

Dokumentarische Comics und Graphic Novels könnten all dies wohlmöglich leisten. Sie sind spätestens seit den 1990er Jahren Medien, die gesellschaftliche Konflikt- und Gewaltgeschichte verhandeln und Einstieg für eine weitergehende Beschäftigung mit komplexen Themen. Die bisher einzige Graphic Novel über die Ausläufer des NSU-Netzwerks in Dortmund war auch deshalb eine große Enttäuschung, weil sie von diesem Potential keinen Gebrauch machte. »Weiße Wölfe« von David Schraven und Jan Feindt widmete sich eindimensional den Tätern. Erzählung und Illustration reproduzierten einen sensationalistischen und zur heimlichen Identifikation einladenden Blick auf rechte Männer in und um Blood & Honour sowie Combat 18.

»Bruchlinien« geht einen ganz anderen Weg. Das Buch erzählt keine abgeschlossene Geschichte, sondern wirft im ersten Teil drei erzählerische Schlaglichter auf unterschiedliche Akteure im NSU-Komplex. Im Mittelpunkt der ersten Episode stehen Haupttäterïnnen des NSU. In schlichten, durchgängig im Zweifarbdruck reproduzierten Illustrationen von Paula Bulling wird über Alltag und Beziehung von Susann Eminger und Beate Zschäpe erzählt. Eminger, enge Freundin der Rechtsterroristin Zschäpe, unterstützte das NSU-Kerntrio unter anderem mit Ausweispapieren und Legendierungen. Sie gehört, nicht zuletzt auf Grund hegemonialer Geschlechterbilder, zu den öffentlich wenig wahrgenommenen Teilen des NSU-Netzwerkes und musste sich bisher keiner Anklage als Unterstützerin stellen.

In der zweiten Episode geht es um Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz, die entgegen eigener Bedenken schließlich doch auf Anweisung ihres Dienstvorgesetzten Axel Minrath (Deckname Lothar Lingen) die Akten wichtiger V-Personen im NSU-Netzwerk vernichteten. In einer fiktionalen Erzählung aus dem Nachleben der pensionierten Sachbearbeiterïnnen, steht die Episode exemplarisch für den banalen Alltag einer Behörde, deren Führungskräfte lieber Akten vernichten und das Parlament belügen, als exekutives Handeln nachträglich in Frage stellen zu lassen.

In der dritten Episode werden in kurzen Szenen Erfahrungen der Familien des vom NSU in Dortmund ermordeten Mehmet Kubaşık und des in Kassel getöteten Halit Yozgat erzählt. Die strukturell rassistischen Ermittlungen gegen die Opfer und ihre Stigmatisierung durch die falschen Verdächtigungen der Polizei, werden hier angedeutet, aber auch die Handlungsmacht und das ignorierte Wissen der Betroffenen markiert.

Diesem ersten Teil des Buches schließt sich ein umfangreicher Anhang mit Interviews u.a. mit Sebastian Scharmer, Nebenklagevertreter in München; Ayşe Güleç, Mitgründerin der der Initiative 6. April sowie den Journalisten Christian Fuchs und Toralf Staudt an.

Besonders berührt das Gespräch mit Candan Özer-Yılmaz. Während die zuvor genannten einen Sprechort als Expertïnnen haben, gehört Özer-Yılmaz zu denen, die von den Gewalttaten des NSU betroffen sind, ohne dass ihren Perspektiven je besondere Aufmerksamkeit geschenkt würde. Özer-Yılmaz‘ späterer Mann wurde beim Bombenanschlag in der Keupstraße in Köln schwer verletzt. Er litt nach dem Anschlag an Angstzuständen und Depressionen und starb vor zwei Jahren, nicht zuletzt auf Grund der psychischen Spätfolgen des Anschlags. Özer-Yılmaz beschreibt drastisch und präzise den erfolglosen Kampf um Anerkennung der Spätfolgen durch die Sozialbürokratie. Schonungslos benennt sie die Belastung ihrer Ehe durch die Spätfolgen des Attentats. Präzise benennt sie die Asymmetrie des Wissens über Opfer und Täter und kritisiert deutlich die Ignoranz von Wohlmeinenden, die das Gedenken nutzen, um sich an den Betroffenen vorbei ins Rampenlicht zu drängen.

Paula Bulling und Anne König ist facettenreiches und vielschichtiges Buch über Täterïnnen, Ermöglicherïnnen, Opfer und Betroffene des NSU-Terrors gelungen. Es füllt eine bisher klaffende Leerstelle.

 

König, Anne; Tania, Prill (2019): Bruchlinien. Drei Episoden zum NSU. Unter Mitarbeit von Paula Bulling. 1. Auflage. Leipzig: Spector Books OHG[2]. 24 Euro.

Links:

  1. https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/1085.im-land-der-frühaufsteher.html
  2. http://spectorbooks.com/de/bruchlinien