Pandemie und Globalisierung

Dirk Schuck

Die gegenwärtige Situation macht vieles sichtbarer. Marx sprach im 19. Jahrhundert dem Kapitalismus eine verallgemeinernde Kraft darin zu, dass er die Universalität der Warenform über die Welt legte. Menschen aus traditional vollkommen unterschiedlich gewachsenen Gesellschaften fingen durch das Kapitalverhältnis plötzlich an, auf gleichförmige Art und Weise zu denken und zu fühlen. Die globale Pandemie zeigt uns im Muster der Gleichheiten und Unterschiede der Reaktionsweisen der nationalen Regierungen, welche Gesellschaften auf der Welt einander – mit Blick auf die institutionelle Organisation ihrer sozialen Infrastruktur – nahe stehen, und welche weiter voneinander entfernt sind.

Dirk Schuck

Diese erstaunliche Sichtbarwerdung gilt sowohl mit Hinblick auf die ökonomische, als auch die politische Ordnung dieser Gesellschaften. Deren Überschneidungsmuster lassen dabei variante Kombinationen zu. Generell gilt, dass wir uns in Deutschland im Bereich der Luxusquarantäne befinden. Sowohl ökonomisch, als auch politisch ist die hiesige Quarantäne material erträglich und politisch liberal organisiert. Man darf das Haus verlassen und kann weiterhin unproblematisch konsumieren. In Jordanien etwa ist in den armen Bevölkerungsquartieren das klassische Quarantänemodell einer von der Armee organisierten Essensversorgung am Haus, und ein Verbot des Verlassens des Hauses unter schwerer Strafandrohung, das Foucault im mittelalterlichen Umgang mit der Pest beschreibt, in Kraft.

Doch auch ökonomisch besser gestellte Staaten wie China gehen – im Gegensatz zu den Staaten des Westens – strikt autoritär in den Pandemie-Maßnahmen vor. Dies mag hier auch damit zusammenhängen, dass es keine gewachsene liberale Regierungstradition gibt, die darauf vertrauen lassen kann, dass die Individuen die Regeln schon befolgen, die man ihnen per Dekret auferlegt. Als ein bemerkenswertes Indiz für das Vertrauen der Bevölkerung in die politische Ordnung kann jetzt schon gelten, wie durchgängig die „Selbstquarantäne“ in den Staaten des Westens befolgt wird. Zum Vergleich: im Iran wurde dagegen selbst zu dem Zeitpunkt als ein inzwischen verstorbener ranghoher Regierungsvertreter schwerkrank im Fernsehen auftrat, noch öffentlich gemutmaßt, ob es sich bei diesem Aufritt um eine bewusste Inszenierung handelte – mit dem absurden Zweck (nach dessen mutmaßlich zukünftig schneller Genesung) die Gefahren der Situation am Ende herunterzuspielen.

Auch zwischenstaatliche Verhältnisse erfahren einen Schub verstärkter Sichtbarwerdung. So wirkt das deutsche mediale Ressentiment über den Brexit mit einem auf der Intensivstation liegenden britischen Premier vollends zynisch. Der Handelskrieg zwischen den USA und China nimmt zeitweilig den Charakter eines ökonomischen Quasi-Stabilisierungspakts an, mit dem sich die beiden Giganten gegenseitig durch Handelsversprechen absichern. Die übliche deutsche mediale Reaktion auf das finanzpolitische Anliegen von Italien, Spanien und Griechenland, gemeinsame Staatsanleihen einzuführen, erlaubt die sonst gängige rassistische Abwehrhetorik gegen verschwenderische Südeuropäer in diesem Moment kaum noch.

Gleichzeitig darf man sich nicht der politischen Naivität hingeben, dass dies bedeuten wird, dass nun humanistische Argumente, weil sie die einzig noch sinnvollen sind, sich diskursiv durchsetzen müssen. Die realistische Erfahrung lehrt, dass dem nicht so ist. Vielmehr muss dieser Realismus “ausgetrickst” werden, in dem es nun deutlich zu machen gilt, dass bestimmte emanzipatorische Anliegen auch realpolitisch Sinn ergeben. Selbst wenn eine globale Gesundheitsversorgung wohl noch in weiter Ferne ist, lässt sich dennoch darauf verweisen, dass es auch im privatwirtschaftlichen Interesse liegt, für eine virale Pandemie weltweit gewappnet zu sein. Ebenso lässt sich verdeutlichen, dass auch wenn Menschen notgedrungen dazu tendieren, die ihnen Nahestehenden als erstes schützen zu wollen, dieser Schutz in einer globalisierten Welt wie der unseren nur noch dann funktionieren kann, wenn er die Anderen mit einschließt. Dass der öffentliche Blick sich von diesen “Anderen” in den kommenden Monaten zunehmend abwendet, wenn die Pandemie hier überstanden sein wird, darf nicht geschehen. Eine sinnvolle Anstrengung kann darauf zielen, die globale Vernetzung, die in ihrer weitreichenden Fortgeschrittenheit uns jetzt gerade schlagartig bewusst wird, auch darüber hinaus sichtbar bleiben zu lassen – um in der Zukunft nicht nur besser über die Globalisierung sprechen, sondern auf sie bezogen handeln zu können.      

Dirk Schuck ist Politikwissenschaftler und Soziologe.