09.07.2020

Trennende und verbindende Erfahrungen

Rezension: Simon Goeke, „Wir sind alle Fremdarbeiter!“ Gewerkschaften, migrantische Kämpfe und soziale Bewegungen in Westdeutschland 1960–1980

Florian Weis

Simon Goekes Dissertation ist auch für Nicht-Historiker*innen interessant, die sich mit den politischen Spaltungslinien und ihren Überwindungsversuchen zwischen verschiedenen, je legitimen Interessenvertretungen und Emanzipationskämpfen befassen. Stichwortartig sei hier nur auf Beiträge aus den USA (etwa Nancy Fraser zum „progressiven Neoliberalismus“ oder Joan Williams zur „White Working Class“), Großbritannien (Owen Jones oder Claire Ainsley mit „The New Working Class“), Frankreich (Didier Eribon) und Deutschland verwiesen, wo rund um die Partei DIE LINKE eine verbindende (Klassen-)Politik diskutiert wird.

Das ist nun nicht Goekes unmittelbarer Gegenstand, doch liefert seine Arbeit einen hilfreichen und anregenden historischen Zugang insbesondere zu einem wesentlichen Teilaspekt, dem Verhältnis von Einwanderer*innen und Gewerkschaften im Feld der Arbeit.

Simon Goeke liefert in erster Linie eine im besten Sinne sehr solide historische Darstellung. Dabei stützt er sich, wenn auch mit leichten Relativierungen, auf das Konzept der „Autonomie der Migration“ in der Ausprägung von Yann Moulier-Boutang, das im deutschen Kontext von Manuela Bojadžijev und linken Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen vertreten wird. Weder Viktimisierung noch Romantisierung, sondern die Eigenständigkeit von Migrant*innen als Subjekten und Akteur*innen sind ein zentraler Ausgangspunkt (S. 15 ff.).

Die Rolle von Migrant*innen in Betrieben und Gewerkschaften bzw. das vielfach ambivalente Verhältnis der Gewerkschaften zu den einwandernden Arbeiter*innen bilden den Schwerpunkt des Buches im zweiten und dritten Teil. Migrantische Selbstorganisation jenseits von Arbeitswelt, Gewerkschaften und Exilpolitik kommt demgegenüber etwas zu kurz, wenngleich insbesondere der Abschnitt zu den Kindergeldkomitees in den 1970er Jahren sehr anregend ist (S. 337 ff.). 

Goeke schildert einige der überwiegend von Migrant*innen getragenen Streiks, neben dem wohl bekanntesten 1973 bei Ford in Köln (S. 112-124) insbesondere einen frühen „wilden“ Streik vor allem italienischer Arbeiter 1962 bei VW in Wolfsburg (S. 78-87). Besonders interessant und erfolgreich war 1973 ein Streik gegen die Lohndiskriminierung von Frauen beim Autozulieferer Pierburg in Neuss (S. 99-112). Diesem Arbeitskampf einer überwiegend weiblichen und migrantischen Belegschaft, bei dessen Schilderung er sich wiederum auf Bojadžijev sowie Peter Birke und Felix Heinrichs stützt, weist der Autor eine wichtige Rolle in der generellen Überwindung der „Leichtlohngruppen“ im Laufe der folgenden Jahre zu, die Frauen in der Industrie systematisch diskriminierten.

Hervorzuheben ist die wohltuend nüchterne, differenziert-kritische Einordnung des gewerkschaftlichen Handelns aus deren Funktionen, Interessenlagen und Erfahrungshintergründen heraus. So fasst Goeke den migrantischen Streik bei VW in Wolfsburg, 1962 noch keineswegs eine IG-Metall-Hochburg, so zusammen:

Das Beispiel des Streiks bei Volkswagen Wolfsburg zeigt, wie eine weitgehende Niederlage migrantischer Streiks auf lange Sicht zu einer erfolgreichen gewerkschaftlichen Integration der ausländischen Beschäftigten führen konnte“. (S. 93).  

In der Tat gelang es gerade der IG Metall ab den siebziger Jahren dann wesentlich besser, Migrant*innen als – häufig besonders „kampferprobte“ - Kolleg*innen in die Organisation einzubinden, wenngleich diese Entwicklung keineswegs widerspruchsfrei verlief. Dies schloss in einem ebenfalls zähen Prozess ein, migrantische Kolleg*innen als eigenständige Delegierte, Vertrauensleute, Betriebsräte und schließlich Funktionäre zu akzeptieren. Dies wird an den Beispielen von Lorenzo Annese, Yilmaz Karahasan, Carlos Pardo, Ismail Kahraman, Ülkü Schneider-Gürkan, Feridon Cimen, Luigi Strambelli und Salih Güldiken geschildert (S. 125 ff.).

Dabei bewegten sich die Gewerkschaften in realen Dilemmata, die bereits von Anbeginn an in der gewerkschaftlichen Arbeiter*innenbewegung angelegt waren, vor allem der Differenz zwischen politischem Internationalismus einerseits und nationalstaatlicher Organisierung andererseits. Immerhin sind die beachtlichen sozialstaatlichen Erfolge in vielen westeuropäischen Ländern nach 1945 weitgehend nationalstaatlich erreicht und organisiert worden. Bis heute sind transnationale gewerkschaftliche Organisierungsversuche wenig erfolgreich, wie sich etwa am Beispiel der Europäische Wanderföderation unter Beteiligung der IG BAU zeigte. Nicht erst die jetzt endlich breit wahrgenommenen skandalösen Beschäftigungsverhältnisse in den Schlachtbetrieben zeigen, wie notwendig, aber auch schwierig eine wirklich grenzüberschreitende Organisierung von Beschäftigten ist.   

Sehr eindrücklich schildert das Kapitel „Internationale Solidarität, Migration und die Studentenbewegung“ (S. 249-287) das exilpolitische Engagement von Studierenden aus Ländern wie dem Iran, Griechenland, Spanien, dem Kongo und der Türkei. Hier fanden Selbstorganisation und Solidarität von Gewerkschaften wie auch Student*innenbewegung in einer intensiven und seltenen Weise zusammen. Dabei sieht Goeke in der im Vergleich zu Deutschland geringeren Kluft zwischen studentischem Aktivismus und Arbeiter*innenbewegung einen wichtigen Vorteil.

Zusammenfassend betont Simon Goeke die Eigenständigkeit migrantischer Kämpfe und die Ambivalenz gewerkschaftlicher Reaktionen hierauf, erkennt aber deren Abwehr „fremdenfeindlicher Tendenzen“ und die Solidarität mit den exilpolitischen Kämpfen an (S. 356). Dazu trug sicherlich auch bei, dass gerade in der von Otto Brenner geleiteten IG Metall linkssozialistische und antifaschistische Funktionäre stärker als in anderen Gewerkschaften vertreten waren. Mit dem, ebenso wie Brenner, zeitweilig der SAP angehörenden Max Diamant war dann auch ein Repräsentant dieser Tradition von 1962 bis 1973 Leiter des neugegründeten Referates „Ausländische Arbeitnehmer“. 

Simon Goeke, „Wir sind alle Fremdarbeiter!“ Gewerkschaften, migrantische Kämpfe und soziale Bewegungen in Westdeutschland 1960–1980 (Studien zur historischen Migrationsforschung, Band 36), Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2020.